V

Es war Mitte November, als Johann eines Morgens aufwachte und fühlte, daß er krank war.

Er hatte wirr geträumt und geschwitzt und gehofft, aufzuwachen und alles wäre vorbei, ruhig, hell, morgendlich. Statt dessen schmerzten ihn seine Gelenke noch heftiger als in den letzten Tagen, und das Dämmerlicht im Zimmer war eine Schwäche seiner Augen, die nicht weichen wollte. Sein Bauch war schwer, und er spürte ihn, das hatte er also nicht geträumt; erschreckt in seiner Müdigkeit, bemerkte er, daß das Ziehen auch noch anhielt, nachdem er wach war, falls er wach war.

Er zündete sich gewohnheitsmäßig eine Zigarette an, und als er zu dem vom Vorabend vollen Aschenbecher griff, um ihn auf die Matratze zu legen, und den Geruch einatmete, wurde ihm übel. Es war eine Übelkeit, die direkt aus dem Magen hochstieg, jetzt schon im Hals war, eine Übelkeit, deren Ursache er nicht kannte, er hatte weder zuviel getrunken noch zuviel geraucht gestern, noch etwas Schlechtes gegessen, aber als er sich jetzt an das Essen vom Vortag erinnerte, trieb allein das Bild von etwas Eßbarem die Übelkeit hoch in den Rachen, und er hielt die Hand vor den Mund und schluckte. Er stand auf, und seine Ellbogen, Knie und Handgelenke schmerzten, er stand schwach auf seinen Füßen, er zitterte, und seine Beine waren aus Holz.

Er kniete vor dem Klo und übergab sich dreimal, jedesmal erschöpfter, zog Wasser und riß Papier von der Rolle, um sich Mund und Kinn abzuwischen. Er wollte einen Rest Würde bewahren gegen diesen Überfall, obwohl die Krämpfe in seinem Bauch rissen und er seinen Körper kaum unter Kontrolle halten konnte. Als sein Bauch sich beruhigt hatte, hockte Johann apathisch im Klo auf dem Boden, an die Wand gelehnt, und die Angst begann. Was hatte er? Noch mal ins Bett und noch mal aufstehen, und es wäre wieder gut. Vielleicht ging das. Aber er wußte, er war krank, und die Angst stach in seinem Bauch, und plötzlich kam das Gefühl wieder, und er konnte sich gerade noch zum Klo wälzen, und es schüttelte ihn, und diesmal hatte er keine Kraft mehr, zu spülen oder nach dem Papier zu greifen, und als es vorbei war, schloß er die Augen und ließ seine Wange auf dem kühlen Rand des Klos liegen, erschöpft, ängstlich, dann traurig.

Er ging zurück in sein Zimmer, machte Licht und legte sich wieder ins Bett. Das Licht von der Glühbirne schmerzte seinen Augen, und das Bettzeug war heiß, feucht und muffig. Draußen war es dämmrig, und es wurde nicht heller, obwohl es schon nach neun Uhr war. Es war Sonntag, und die Wohnung schlief noch. Johann hatte weder Kraft noch Lust, zu jemandem zu gehen, obwohl er gerne Gesellschaft gehabt hätte. Niemanden, der redete, nur jemanden, der da war. Falls es überhaupt noch jemanden gab. Jemanden, der ihm sagte, was er hatte, und es wegmachte. So jemanden gab es aber nicht. Jemanden, der käme, ohne daß er ihn rufen mußte. Das war doch aber das Gute an der Wohnung, daß dies nie geschah sonst.

An der Wandseite der Matratze wollten dicke graue Staubflocken, und der Finger, der über die Fußleiste fuhr, wurde schwarz. Schmutz! Sein Zimmer war schmutzig, er war schmutzig mit der angetrockneten Kotze am Kinn und in den Mundwinkeln, in seinem verschwitzten, stinkenden Bett, draußen war es schmutzig. Draußen regnete es, und es wurde nicht hell, nie mehr würde es hell werden.

Jemand, der sich um ihn kümmerte, aber er wollte nicht zu Barbara hingehen, er wollte nicht, daß sie die Decke hob und er ihren weißen bettwarmen Körper sah, er wollte nicht ihre hochgezogenen Augenbrauen und den harten Mund, er konnte nicht. Er blieb im Bett und wartete und hörte, wie die anderen aufstanden, hörte, wie Türen klappten, Schritte auf dem Gang, barfuß und in Schuhen. Irgendwo wurde Musik eingeschaltet, wahrscheinlich in der Küche, im großen Raum, und einmal war er überzeugt, daß Barbara sich näherte, aber dann gingen die Schritte an seiner Tür vorbei, und niemand trat ein.

Johann mußte pinkeln, aber er wollte nicht aus seinem Zimmer, er wollte niemanden sehen. Er stand mühevoll auf und öffnete das Fenster. Sein Urin, der mit dem Regen nach unten fiel, war dunkel und stank. Johann erschrak, und in seinem Bauch begann die Angst wieder zu arbeiten, ihre Messerstiche auszuteilen, er war wirklich krank; es würde nicht aufhören, wenn er in seinem Bett lag und wartete, daß es aufhörte, und dann wurde ihm wieder übel, und er legte den Kopf auf die Fensterbank, aber es kam nichts mehr hoch außer den Schmerzen, drückend und stechend zugleich, und er hing auf der Fensterbank im leichten Rauschen des Regens, im Novemberdämmerlicht, er fühlte sich zu schwach, ins Bett zurückzukehren, er wollte schlafen, nur schlafen, aber er konnte nicht einschlafen, obwohl er müde war, nein, nicht müde, nur schwach. Die Wohnung wurde still, und niemand war gekommen. Eine Welle von Selbstmitleid trieb ihm einige dünne Tränen aus den Augen, aber daß er wußte, daß es Selbstmitleid war, machte nichts besser.

 

Am Nachmittag, als es Johann egal war, klopfte es doch noch. Er sagte tonlos Ja, und die Tür öffnete sich, und Barbara kam herein.

Was ist denn mit dir los? fragte sie, ging zum Fenster und öffnete es. Kater?

Johann sagte nichts. Barbara kam näher.

Bist du krank? Laß dich mal ansehen?

Johann setzte sich auf und versuchte zu lächeln.

Barbara ergriff mit ihrer kühlen Hand sein Kinn und drehte sein Gesicht ins Licht.

Bist du krank?

Mir gehts nicht gut, sagte er.

Deine Augen sind völlig gelb, deine Augäpfel, sagte Barbara und lehnte sich zurück.

Was heißt das?

Hast du gesumpft gestern mit Peter? Zuviel Shit, Opium, oder hast du womöglich gefixt?

Johann schüttelte den Kopf.

Deine Augen sind gelb, sagte Barbara und zuckte hilflos die Schultern. Wie fühlst du dich?

Beschissen, sagte Johann und zog die Knie an die Brust.

Kannst du dich etwas deutlicher ausdrücken? fragte Barbara.

Johann streckte die Beine wieder, seine Knie schmerzten.

Ich hab gekotzt, und mein Bauch tut weh, und meine Gelenke und Knochen tun weh, und meine Pisse ist dunkelbraun. Noch mehr?

Du solltest zum Arzt, sagte Barbara.

Nein.

Was heißt nein? Du bist krank.

Ich will zu keinem Arzt.

Barbara rückte ab. Sei nicht kindisch. Wenn man krank ist, geht man zum Arzt.

Was soll ich denn haben? fragte Johann.

Ich weiß es nicht, sagte Barbara, aber du siehst aus, als hättest du dir eine Gelbsucht gefangen.

Gelbsucht?

Ich weiß es nicht, das kann dir nur ein Arzt sagen, also geh hin zu einem. Hast du einen Krankenschein?

Nein.

Macht nichts. Den kann man nachreichen. Mein Arzt sitzt in der Skalitzer. Willst du, daß ich anrufe? Meinetwegen gehe ich auch mit.

Nein, sagte Johann.

Dann geh ich nicht mit. Ist mir auch recht.

Nein, ich will nicht zum Arzt, sagte Johann. Außerdem ist Wochenende.

Das stimmt allerdings, sagte Barbara. Also dann Montag, klar?

Johann sagte nichts.

Möchtest du einen Tee? fragte Barbara.

Johann schüttelte den Kopf. Keinen Appetit.

Barbara stand auf.

Meinetwegen einen Tee, sagte Johann schnell.

Barbara öffnete die Tür.

Was machst du jetzt? fragte Johann.

Barbara lächelte. Ich mache dir einen Tee, dann arbeite ich, und danach habe ich eine Verabredung. Geht das in Ordnung?

Johann nickte.

Aber am Montag ging er nicht zum Arzt und auch am Dienstag nicht, und als Barbara wütend wurde, kamen ihm die Tränen, mehr aus Schwäche und aus Angst, denn er wußte, daß sie recht hatte. Er verbrachte die Tage apathisch in der Wohnung, trank Tee und hatte keinen Appetit. Seine Stirn wurde gelblich, dann seine Nase, die Wangen, das Kinn, und er hatte dunkle Ringe unter den Augen. Es regnete fast ununterbrochen, und nie wurde es richtig hell, als sei der Himmel direkt mit Johanns Körper verbunden, und er lag im Bett und phantasierte vor sich hin, ob die Krankheit draußen ihn angesteckt hatte oder ob es andersherum war und der Himmel sich erst dann wieder aufhellen würde, wenn er gesund war. Er wurde aber nicht gesund, sondern schwächer, und der Druck in seinem Bauch, als sei seine Leber aus Blei, verstärkte sich.

Das Leben in der Wohnung rund um ihn herum verlief wie sonst, und mit zunehmender Verzweiflung wurde Johann bewußt, daß sich tatsächlich nur für ihn etwas geändert hatte. Als er am Dienstag bemerkte, daß die anderen einen Bogen um ihn machten und Abstand hielten, wenn sie ihn fragten, wie es ihm ginge, und seinen Kopf fixierten, die Farbe prüften, ohne ihn dabei anzusehen, so als sei er schon tot, entschloß er sich, doch zum Arzt zu gehen. Von Barbara fühlte er sich verraten. Er bekam einen Termin für Donnerstag vormittag.

 

Im Wartezimmer des Arztes, mit den Leuten, die jeder für sich allein auf den weißen Plastikstühlen mit dem orangeroten Bezug saßen und auf abgegriffene Zeitungen starrten, ohne zu lesen, fühlte Johann sich besser und schlechter als zuvor. Besser, weil er endlich Klarheit bekommen würde, und schlechter, weil er Angst vor dem hatte, was er hören würde. Aber war es denn nicht egal gewesen, spielte es denn doch eine Rolle? Johann wollte und konnte nicht darüber nachdenken, nur das Warten blieb, das seine ganze Kraft erforderte, sein Bauch, der schmerzte, vor Angst und vor Krankheit, das war alles. Sein Körper hatte Angst, nein, sein Körper schmerzte nur, sein Kopf hatte Angst, Angst worum, was war da, worum man Angst haben mußte, was war da, weswegen man lieber gesund als krank war, was war es? Warum wollte er Klarheit, warum wollte er sich behandeln lassen? Wogegen oder wofür wollte er sich behandeln lassen und warum jetzt? Weil jetzt sein Körper wehtat. Wenn der Körper krank war, setzte er durch, daß der ganze Mensch sich behandeln ließ. Aber was war er schließlich anderes als sein Körper. Er wollte Klarheit, und das Warten war auszuhalten, weil danach Klarheit herrschen würde. Das Warten war nicht auszuhalten, aber man hielt es dennoch aus. Man wartete einfach weiter. Vielleicht war es das, was Peter nicht akzeptieren konnte: daß man weiterwartete, obwohl man es nicht mehr ertrug. Aber der Arzt verschaffte ihm keine Klarheit. Zuerst mußte Johann seine Personalien angeben, dann wurde ihm von der Schwester der Blutdruck gemessen und Blut abgenommen, alles bevor er den Arzt überhaupt sah. Dann bat die Schwester ihn, sich freizumachen. Erst dann erschien der Arzt. Er kam auf Johann zu, sah ihn an und verzichtete darauf, ihm die Hand zu geben. Er drückte sein Augenlid herab und setzte sich in seinem Stuhl zurecht.

Hepatitis, daran gibt’s nichts zu deuteln.

Und was heißt das? fragte Johann.

Das weiß ich nicht, sagte der Arzt. Dazu müssen Sie mir erst mal einige Fragen beantworten. Also: Sind Sie homosexuell, haben Sie homosexuelle Kontakte?

Johann sah ihn an.

Sind Sie rauschgiftsüchtig, beziehungsweise spritzen Sie sich Heroin? Haben Sie innerhalb der letzten sechs Monate eine Bluttransfusion bekommen?

Noch was? fragte Johann.

Jetzt hör mir mal zu, mein Junge, sagte der Arzt. Es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder du hast eine harmlose, das heißt eine relativ harmlose Hepatitis, die kann vom schlechten Essen und allem möglichen kommen. Oder aber irgend etwas von dem, was ich eben sagte, trifft auf dich zu, dann ist die Chance desto größer, daß du eine B-Hepatitis hast, und dann muß einiges unternommen werden.

Johann sah ihn an.

Um Gottes willen, das ist auch kein Todesurteil! Also, wie stehts damit?

Johann zuckte die Schultern. Fehlanzeige. Allein der Gedanke trieb ihm die Übelkeit zurück in den Hals.

Hör zu, Junge. Wie du dein Leben lebst, ist dein Bier, und ich werde dir nicht zu sagen brauchen, daß eben alles, was man tut, seine Konsequenzen hat. Wenn dein Blut untersucht ist, werden wir das wissen. Aber schließlich gibt es außer dir noch andere Leute. Andere Leute, die du vielleicht angesteckt haben kannst, die dich angesteckt haben oder die du noch anstecken könntest. Wenn du also eine B-Hepatitis haben solltest, ist es notwendig, die Leute, mit denen du zusammenkommst, davon in Kenntnis zu setzen.

Ich kenn niemanden, sagte Johann. Der Arzt sah ihn an.

Wann weiß ich was Genaues? fragte Johann.

In drei bis vier Tagen. Das Blut muß eingeschickt werden. Morgen kommst du hier vorbei und gibst eine Stuhl- und eine Urinprobe ab.

Und was mache ich jetzt?

Gar nichts. Du gehst nach Hause und ruhst dich aus und hältst dich fern von anderen Leuten. Das ist alles, was du tun kannst.

 

Die Entscheidung, sich von den anderen in der Wohnung fernzuhalten, war Johann schon abgenommen, als er zurückkam, der Arzt hatte bereits angerufen. Daniela und Myra starrten ihn an wie einen Geist, und Sergej verspottete ihn mit dem ungeschälten Reis, den er auf einen Teller kippte, den er in kochendem Wasser abgewaschen hatte, eine Demonstration von Gesundheit, als würde man Pillen gegen ihn nehmen.

Wolfgang stellte ihn zur Rede: Also, was ist jetzt genau mit dir los? Wir möchten nämlich gerne Klarheit haben. Wenn du eine ansteckende Krankheit hast, haben wir verdammt noch mal das Recht zu wissen, woran wir sind.

Frag Barbara, sagte Johann.

Barbara ist nicht da, beharrte Wolfgang.

Barbara ist nie da, was!? schrie Johann.

Barbara hat nun wirklich nichts damit zu tun, sagte Wolfgang. Also, hast du jetzt eine Gelbsucht oder nicht?

Weiß nicht, sagte Johann.

Was soll das heißen? Hier ruft ein Arzt an und fragt, ob du hier wohnst, und du weißt nicht.

Laß mich vorbei, oder ich schlag dir in die Fresse und steck dich an, sagte Johann.

Wolfgang ließ ihn gehen.

Johann saß in seinem kahlen Zimmer. Draußen regnete es. Das ungemachte Bettzeug ekelte ihn. Draußen redeten sie über ihn. Er fühlte sich schmutzig, aber er war zu schwach, nach draußen zu gehen, um zu duschen. Es hätte auch nichts genützt. Der Dreck saß innen. Er hatte ihn mit Schaufeln in sich gefressen, gesogen, geatmet, getrunken. Er hatte sich den ganzen Schmutz, der sich draußen am Straßenrand ablagerte, wie Dreck unter Fingernägeln, in den Arsch ficken lassen. Das war es also, was Frauen so anders machte. So viel ernsthafter, so viel konsequenter, so viel ehrlicher. Sie hatten in ihrem Körper den Schmand, den man ihnen reinspritzte, den Dreck, die Schmiere, das Gift, die Viren, den Haß, die Frustrationen, die Ängste. Die Männer pißten sich aus und pumpten die Frauen mit ihrer Jauche voll, die sie Leben nannten. So war das also. Entweder man spritzte das Leben weg, oder man ließ es sich reinficken. Und man wurde krank davon. Man mußte kotzen davon. Man bekam Dünnschiß davon. Die Knochen taten einem weh. Man wurde schwach. Und die anderen verzogen sich. Sie hatten einen bewundert, weil man lebte, sie hatten einen gewollt, und jetzt ekelten sie sich. Er ekelte sich auch. Er war dreckig, dreckig, dreckig. Das war es also, was auf der Außenseite lag, dort, wo die Lügen und die Kuhwärme und die fette Behaglichkeit und die Langeweile und die Auszehrung der Träume nicht waren: Dreck. So einfach war das also. Dreck war es, der Dreck, den sie nach draußen geschaufelt hatten vor die Türen. Also das war das Leben. In Dreck wühlen, sich den Dreck der anderen reinficken lassen, selber dreckig werden. Desto besser. Nein, nicht besser. Überhaupt nicht besser, denn es war nicht auszuhalten in all dem Dreck, der in ihm steckte und in diesem Zimmer, und keiner kam und half ihm, und er war zu schwach. Er verlangte keine Zuneigung, die doch nicht ehrlich hätte sein können, er brauchte praktische Hilfe. Er war krank.

Anatol hockte in seinem Zimmer, das nur von der Schreibtischlampe erhellt wurde, als Johann eintrat, und sah ihn aus müden Augen an.

Du hattest recht, sagte er.

Womit? fragte Johann.

Eine Mauer ist eine Mauer, aber wir sind nichts. Dieses Kriegsgöttinnen-Stück hat mir die Augen geöffnet. Es stimmt, es ist Krieg. Permanenter Krieg. Permanenter Haß. Es ist ein Witz, daß man den Zweiten Weltkrieg da raushebt. Es war immer Krieg, kontinuierlich. Wir sind nichts als kleine Stücke Scheiße, aber das zu akzeptieren! Wir sind nichts, wie in diesem Stück. Wir werden aufgeweckt, wir finden uns, hassen uns, ficken uns, lieben uns, bringen uns um. Wir werden gesteuert. Wir selbst geben gar keinen Sinn. Aber das zu akzeptieren! Ich hab alles gelesen, was es über Kriegsgöttinnen gibt, über die Weiße Göttin. Alles. Das ist Musik. Ich muß es hinkriegen, das zu Musik zu machen. Verstehst du?

Ja, sagte Johann, zu schwach, um zu widersprechen.

Du bist krank, hab ich gehört, sagte Anatol. Was fehlt dir?

Gelbsucht.

Oh! sagte Anatol und sah auf. Das ist ansteckend, was?

Johann sagte nichts.

Ich glaube, das ist reichlich ansteckend. Anatol legte den Bleistift aus der Hand.

Ich wollte dich eigentlich fragen, ob du Ersatzbettwäsche hast. Meine ist dreckig, und ich hab das Bedürfnis nach was Sauberem.

Anatol verzog das Gesicht. Ich hab nur eine Ersatzgarnitur, und die brauche ich bald selbst. Er lachte. Ich schlafe immer mit Zigarette ein und mache Löcher. Frag doch Wolfgang, der hat einen ganzen Schrank voll.

Ist gut, sagte Johann.

Sag mal, jetzt ernsthaft, so leicht kann man sich bei so was doch nicht anstecken, oder?

Du bestimmt nicht, sagte Johann.

Hoffentlich, das wäre nämlich das letzte, was ich jetzt gebrauchen könnte, krank zu werden.

Also gute Nacht, sagte Johann.

Gute Nacht, und gib acht, ich meine, wir hocken hier dicht auf dicht, und mit so was ist nicht zu spaßen. Willst du übrigens was hören?

Ein andermal, sagte Johann. Mir ist übel.

Also dann, gute Nacht, sagte Anatol.

Barbara war noch immer nicht zu Hause. Johann fühlte sich schwach und hohl. Er füllte ein Röhrchen mit seinem dunklen Urin und ein anderes mit seiner halbflüssigen Scheiße. Als er sich dabei die Hand und das Röhrchen verschmutzte, mußte er sich wieder übergeben. Die Wohnung war so still und leer wie nie zuvor. Johann sah niemanden. Er mußte sich in seinem durchgeschwitzten Bettzeug zum Schlafen legen.

 

Johann bekam den Arzt überhaupt nicht zu Gesicht. Er gab seine Röhrchen bei der Schwester ab. Er fragte sie, was sich ergeben habe, aber sie wußte nichts. Sie gab ihm nur einen Termin für den folgenden Montag. Johann wollte wissen, was er tun solle. Die Schwester zuckte die Schultern, er könne gar nichts tun. Johann fragte, was er gegen die Schmerzen und die Übelkeit unternehmen könne. Die Schwester hatte keine Antwort. Er solle sich nur möglichst ruhig halten und im Bett bleiben. Dann fragte sie nach seinem Krankenschein, und Johann, der sich zu schwach fühlte, um zu rebellieren, versprach, ihn so bald wie möglich nachzureichen.

In der Wohnung begegnete er niemandem. Er legte sich wieder ins Bett. Er lag auf dem Rücken und starrte gegen die hohe weiße Decke, die völlig leer war und seinen Blick ungebrochen reflektierte. Da war nichts zwischen seinen Augen und der Decke. Nur irgendwo mahlte seine Gedankenmühle, und die leeren Hülsen spritzten und stoben und fielen zu Boden, zum übrigen Schmutz. So war das also. Hinlegen mußte er sich, ausruhen, aber es gab nichts gegen die Schmerzen, nichts gegen die Übelkeit, er war einfach kaltgestellt. Ein kaputtes Ersatzteil, das ausgewechselt wurde. Niemand fand etwas Besonderes daran. Er wurde einfach entfernt. Daß es das gab, eine Krankheit, gegen deren Wirkungen man nichts unternahm. Das war keine Krankheit. Eine Krankheit ließ einen nicht verschwinden. Das war keine Krankheit. Bei einer Krankheit kümmerten sich andere um den Kranken. Das war eine Strafe, eine Verbannung, eine Entfernung. Niemand protestierte. Wofür wurde er bestraft und von wem? Er war schmutzig von innen. Er war ansteckend in seinem Schmutz. Keiner wollte sich anstecken lassen mit seinem Schmutz. Sie kehrten ihn alle vor die Tür. Unterschiedslos. Was war es, was alle gemeinsam hatten? Was trieb sie alle gemeinsam? Genau, es war die Angst vor dem Schmutz, vor ihrem eigenen Schmutz, sie flohen alle davor, keiner wollte sich mit einem anderen schmutzig machen. So war das also.

Barbara kam, um sich zu verabschieden.

Wieso, wo gehst du hin? fragte Johann.

Ich fliege morgen nach Beirut für die Zeitung. Der große angebliche Rückzug der Israelis hat begonnen.

Johann sah sie an. Davon wußte ich gar nichts.

Barbara zuckte die Schultern. Nein.

Wie lange wirst du bleiben?

Drei, vier Wochen vermutlich.

Warum hast du mir nichts erzählt? fragte Johann.

Warum sollte ich dir davon erzählen? Hätte es dich interessiert?

Jetzt interessiert es mich.

Einen Dreck hätte es dich interessiert, sagte Barbara.

Und was soll ich jetzt tun?

Wie fühlst du dich überhaupt?

Schlecht.

Und was sagt der Arzt, was du tun sollst?

Nichts. Nichts soll ich tun. Nichts kann ich tun. Man kann überhaupt nichts dagegen tun.

Barbara sah ihn schweigend an.

Und du haust ab, sagte Johann. Hast du eigentlich auch mit Wolfgang geschlafen?

Ja.

Na, du nimmst wirklich die erste Gelegenheit wahr, dich an mir zu rächen.

Das ist doch lächerlich, sagte Barbara. Was erwartest du denn von mir?

Nichts, sagte Johann.

Na also.

Also du hast mit ihm geschlafen?

Barbara antwortete nicht.

Und warum? fragte Johann.

Weil ich Lust hatte.

Und jetzt fährst du nach Beirut.

Barbara nickte.

Nichts habe ich jemals erwartet, sagte Johann, weil nichts zu erwarten ist.

Nichts, weil du selber nichts gegeben hast, sagte Barbara. Wer hat sich denn um wen einen Dreck gekümmert, als er Peter entdeckt hat? Wer mußte denn jede Nacht durch die Stadt ziehen, vollgekifft, auf der Suche nach irgendwelchen ausgefallenen Kicks? Wem war denn alles andere völlig gleichgültig? Wer ist denn so leer, daß er auch in keinem anderen mehr nach etwas sucht? Was erwartest du denn von mir? Daß ich mich dreimal von dir ficken lasse und du mich dann liegenläßt wie eine ausgetrunkene Bierflasche oder ein volles Präservativ; du meinst, ich bleibe liegen, bis ich anfange zu stinken. Ich habe aber zufällig mein eigenes Leben. Das hatte ich schon lange, bevor du hier aufgekreuzt bist. So wichtig bist du nicht! So entscheidend bist du nicht! Und jetzt gehts dir schlecht, und ich soll mich wieder um dich kümmern. Was soll ich denn machen? An deinem Bettchen sitzen, bis du wieder gesund bist, dich womöglich gesundbeten?

Komm nur nicht näher und steck dich an meinem Schmutz an! krächzte Johann.

Nein! schrie Barbara. Das tu ich auch nicht! Ich will ihn nämlich nicht haben, deinen Schmutz. Ich bring dir Tee, und ich mach dir dein Bett, wenn ich hier bin, aber ich lasse mich nicht von dir anstecken, nicht von deiner Krankheit, nicht von deiner Leere, nicht von deinem Egoismus. Und wenn ich verreisen muß, dann verreise ich, und ich denke gar nicht daran, ich denke überhaupt nicht daran, das für dich aufzugeben. Wer bin ich denn? Wer bist du denn?

Ich bin ein stinkendes Stück Scheiße, sagte Johann. Ich bin deine eigene Scheiße, die du wegspülen willst.

Ja, was soll ich wohl sonst tun mit Scheiße? Soll ich sie noch mal fressen?

Hau ab, geh nach Beirut, hoffentlich fickt dich noch mal einer, sagte Johann schwach.

Ja, ich gehe auch, rief Barbara. Aber ich gehe nicht, weil du mich wegschickst, genausowenig wie ich komme, weil du mich rufst, ich bin schon gekommen und gegangen, wohin ich wollte, bevor es dich gab. So!

Sie stand auf und ging hinaus.

Gekommen und gegangen! schrie Johann hinter ihr her. Genau! Kommen und Gehen! Kein Unterschied. Da bleibt nichts! Da bleibt gar nichts!

Nach Barbara kam niemand mehr. Johanns Zimmer war so still, daß er das Blut in seinen Ohren rauschen hörte; es war eine höhnische Stille, in der sich auf Zehenspitzen alles zurückzog, was ihn umgab, in der alles sich auflöste und verschwand, eine Leere hinterließ, aus der auch die Atemluft entwich, bis ihm war, als müsse er ersticken, ein leerer nutzloser Körper im Vakuum, ohne Erinnerung, ohne gelebtes Leben, ein Klotz von Fleisch und Haut, lächerlich unbeweglich, ein Steinblock, ein Stahlgerippe, durch das der Wind pfiff, schutzlos gegen das Warten. Es gab ja Zukunft, es gab ja immer noch eine Zukunft, aber es war eine, die nicht zu ertragen war, weil keine Vergangenheit existierte.

So mochte es weitergehen, denn er war nicht mehr imstande, irgend etwas zu ändern, und es gab niemanden, der kommen würde, etwas zu ändern. Wenn jemals jemand gekommen wäre, hätte Hoffnung bestanden auf Wiederholung, so blieb die Leere, in der nicht einmal mehr Luft zum Atmen war, und dennoch starb man nicht.

Wie war es möglich, daß Gestalten mit solch seltsamen Gebilden wie Ohren, rosige Warzen, und Augen, gallertige Lichtpunkte, kleine Tiere, die in ihren Höhlen das Leben genossen, mit Mündern, schimmernde Schnecken, solchen Auswüchsen, solch lächerlichen Konstruktionen, solch grundlosen Ziselierungen, solch unberechenbare, unverständliche, sinnlose Organisierungen von Materie, wie war es möglich, daß sie einem solche Schmerzen zufügen konnten, wie war es möglich, daß sie einem das Leben und die Erinnerung aus den Knochen und dem Leib saugten und nichts als diese verzweifelte drückende Leere hinterließen? Was hatten sie mit einem zu tun? Was hatte man selbst mit ihnen zu tun? Warum ließen sie einen nicht in Ruhe, warum konnte man sie nicht übersehen? Warum kam immer die Leere, warum blieb sie? Warum der Schmerz wegen dieser Gestalten, die es doch vorher gar nicht gegeben hatte und die es hinterher nicht mehr geben würde? Aber das war falsch. Hinterher existierten sie weiter. Hinterher wußte man, daß es sie gab. Und daß es sie gab, immer noch, hinterher, wieder ohne einen selbst, das verursachte diesen Schmerz, der nie mehr verschwand.

 

Auch dieser Tag ging zu Ende, obwohl es den Anschein hatte, daß er übergangslos in den folgenden mündete, denn nichts änderte sich, nur Barbaras Zimmer war plötzlich leer, und all die kleinen verstreuten Dinge, die anzeigten, daß sie, auch wenn sie nicht anwesend war, nicht weit sein konnte, waren verschwunden. Das Zimmer war aufgeräumt, und es sah aus, als sei es zur Hälfte ausgeräumt. Die Leute, die Johann in der Wohnung traf, gingen ihm aus dem Weg oder musterten ihn vorwurfsvoll, ohne ihn anzusprechen, selbst Maria machte einen Bogen um ihn, und ständig stand jemand vor der Spüle und wusch eifrig Besteck, Gläser oder Teller ab, bevor er sie benutzte, und neben dem Klo stand eine große blaue Literflasche voll Sagrotan.

Johann ertrug die Stille um sich nicht mehr und ging hinüber zu Peter. Die Oranienstraße war leer und grau im Novemberregen des Sonntagnachmittags.

Peter lag in seinem Bett und rauchte aus der Wasserpfeife und hatte eine Flasche neben sich stehen. Er war bleich, und sein Haar war ungekämmt und zerlegen und matt, und seine Augen waren rot. Johann wußte nicht, ob es seine Krankheit war oder Peter, aber obwohl sie dicht beieinander saßen, war es das kühle Gefühl von Fremdheit und Veränderung, als sei lange Zeit vergangen, seit sie einander das letzte Mal gesehen hatten, lange Zeit, die sie unwiderruflich getrennt hatte, die Zeichen auf ihre Gesichter gesetzt hatte, die nicht mehr zu entziffern waren. Peter war eine eingerollte Katze, ein gekugelter Igel, eine Schnecke in ihrem Haus, er hatte sich in seine Schmerzen zurückgezogen, in seine zynische Hoffnungslosigkeit, seinen klarsichtigen Nihilismus, der seine letzte Zuflucht war, und er wollte Johann nicht einlassen.

Johann gestand der Kugel, auf die er einredete, er könne die Situation nicht mehr aushalten, die Isolierung, die Schwäche, den Zerfall seiner Person, die quälende Aufmerksamkeit, die sein Bauch forderte, die Schmerzen, die ihn durchfluteten, ohne daß er sich ihrer erwehren konnte, die ihn leergewaschen zurückließen.

Du bist krank, ja, sagte Peter, aber das ist der Normalzustand, Schmerz, das ist der menschliche Aggregatzustand, natürlich will niemand mit einem Kranken zu tun haben, du bist draußen, du wußtest, daß du früher oder später rausfliegen würdest.

Johann setzte sich zurück. Wer hatte ihm denn den Strich schmackhaft gemacht, wer hatte ihn vorwärtsgetrieben über den Rand des Abgrunds hinaus. Aber Peter, die fremde zusammengerollte Kugel, blieb teilnahmslos. Er selbst habe alles gewollt, was er auch genau genug wisse, und alles Jammern sei zu nichts nütze, denn was rede er da überhaupt von Konsequenzen, er wisse selbst genau, es gab keine Konsequenzen, es ging nur immer weiter und weiter, das eine sei wie das andere, nicht mit ihm, nicht gegen ihn, sondern nur vorher, jetzt und später.

Wenn du eine ansteckende Krankheit hast, mußt du akzeptieren, daß die Leute dich meiden. Ich werde mir auch die Hände waschen und die Zähne putzen, wenn du wieder weg bist.

Johann betrachtete ihn aus zusammengekniffenen Augen, eine zusammengerollte, räudige schwache elende ehrliche und bösartige Katze. Ich hasse diese Leute, brach es aus ihm heraus. Ich hasse diese Leute. Ich hasse sie alle.

Du haßt sie, weil sie sich nicht um dich kümmern. Du kümmerst dich auch um niemanden. Aber das ist der große Irrtum, zu glauben, daß man sich umeinander kümmern müsse. Fehlentwicklung bei den Säugetieren, die völlig von ihrer Mutter abhängig sind, um nicht zu verrecken. Danach laufen sie alle mit dem Trauma rum, sie müßten sich umeinander kümmern. Ihr ganzes Leben lang. Wenn die Menschen dazu geschaffen wären, gemeinsam zu existieren, würden sie als siamesische Zwillinge geboren werden, oder was weiß ich. Sie kommen aber allein auf die Welt, sie treten allein ab, was soll also der Unsinn, daß sie zwischendrin nicht allein sein könnten. Je früher du das einsiehst, desto besser für dich. Es ist ganz gut, daß du krank und allein bist, das ist dein natürlicher Zustand, du wolltest doch ohne den Betrug und ohne die Betäubungsmittel auskommen. Allein, das muß reichen, das muß möglich sein, und es reicht auch. Schau her, ich zeig dir, daß es geht.

Johann beobachtete, wie die kranke Katze sich streckte und dann, die Knie angezogen, sich auf die Seite fallen ließ, in Embryonalstellung, und den Kopf dem Unterleib zubewegte. Der Bauch schlug Fältchen, und die Sehnen und Adern des Halses traten hervor, bei der Anstrengung, mit dem Mund das eigene Geschlecht zu erreichen, das er in den Händen hielt. Es muß gehen, es geht, flüsterte Peter, das reicht, das muß reichen.

 

Am Montag vormittag erschien Johann in der Praxis des Arztes.

Was ich dir mit Bestimmtheit sagen kann, ist, daß du eine Hepatitis hast. Aber welche, das ist immer noch unklar. Bei der Untersuchung deines Blutes konnte nämlich keine HB Ag festgestellt werden, das heißt, kein Nachweis, daß du eine infektiöse Hepatitis hast. Das kann eine ganze Menge Gründe haben, die nur durch weitere Untersuchungen rauszukriegen sind. Für dich im Moment macht es keinen Unterschied. Eine Möglichkeit wäre eine Non A Non B, aber die ist höchst selten. Tja, nichts Genaues weiß man halt nicht. Wie fühlst du dich heute?

Ich will in ein Krankenhaus, sagte Johann. In der Wohnung kann ich nicht mehr bleiben. Wenn es mir dreckig geht und ich mich nicht um mich selbst kümmern kann, ist keiner da, der irgendwas tut.

Du willst also freiwillig in ein Krankenhaus, obwohl es vom Krankheitsbild her nicht unbedingt nötig ist? fragte der Arzt.

Ja, sagte Johann.

Das scheint ja eine schöne Wohngemeinschaft zu sein, sagte der Arzt.

Also, ist es möglich? fragte Johann.

Gewiß, der Arzt nickte. Ich kann dich einweisen lassen.

Johann beobachtete den Arzt beim Schreiben und fühlte sich in einem Kasten liegen und auf hydraulischen Rollen in eine Kühlwand zurückgeschoben.

Der Arzt füllte die Papiere aus, und Johann floh freiwillig ins Krankenhaus, das ihn mit aluminiumfarbener, nach Desinfektion riechender Gleichgültigkeit empfing, als sei es lange klargewesen, daß er früher oder später kommen würde.