IV

Johann beobachtete den blassen kleinen Asiaten, der an dem anderen Pfeiler lehnte. Er trug eine dunkelblaue Windjacke und hellblaue Jeans mit Schlag und Schuhe mit Plateauabsätzen. Die Hände, über dem Bauch verschränkt, waren quittengelb, und sein Gesicht, aus dem die Augen im flimmernden fiebrigen Licht der niedrigen Halle leblos starrten, war bräunlich gelb, wächsern, blutleer.

Draußen regnete es seit Tagen, die Steinplatten in der Halle waren schmierig schwarz, und die Kleidung der Leute war dunkel vor Nässe. Im grauen Licht erklommen Menschen die Treppe zu den Gleisen und mischten sich auf dem obersten Absatz mit dem Strom der Ankommenden; einen Moment lang bildete das eine feste Gruppe, dann waren sie wieder getrennt, die Abreisenden verschwunden, die Ankömmlinge spähten in die Halle herab, wo sie vielleicht erwartet wurden, junge Damen mit Reisetaschen von alten Ehepaaren in Kamelhaar, ein schwarzlockiger ernster junger Mann von einem Spalier Verwandter, angeführt von einem grauen würdigen Vater mit gestricktem Käppchen, Jungen in Schwarz aus der Provinz von ebenso schwarzen Mädchen, und eines von ihnen, das Johann beobachtete, erinnerte ihn an die Kriegsgöttin aus dem Theaterstück. Johann dachte an Anatol, der bei jeder Gelegenheit nur noch von der Kriegsgöttin erzählte oder von irgendwelchen Göttinnen und plötzlich einen Zettel aus der Tasche riß und etwas daraufkritzelte und dann entschuldigend wieder aufblickte. Er hatte seine ganze Sicherheit verloren und seinen Witz, krank war er von dieser Geschichte, und Johann wußte, daß er hinter etwas her war, das er nicht finden würde. Er suchte, wo es nichts zu finden gab, und das war krank, und Johann fragte sich, warum Anatol nicht auch diese Treppe hinaufstieg und verschwand.

Oder Barbara. Aber jetzt wollte er nicht an Barbara denken. Hier wollte er nicht an Barbara denken. Er lehnte gegen den kühlen harten Pfeiler. Also Barbara. Nein. Johann sah sich um, und noch immer stand außer ihm nur der Asiate dort. Barbara. Wie verbrachte Barbara eigentlich ihre Tage? Er hatte sie nie gefragt. Was tat sie, wie sah es bei ihrer Zeitung aus, mit wem unterhielt sie sich, tippte sie selbst in die Maschine? Es schien plötzlich sehr wichtig, und er hatte sie nie gefragt. Barbara. Nein.

Und Peter natürlich. Peter, zu dem er später gehen würde. Am Abend. Peter. Die Nächte. Eine Herbstnacht ist keine Sommernacht. Die Stadt mit Peter im Sommer, die unendliche Stadt. Johann dachte an die kurzen Wege in der kleinen Stadt, aus der er kam. In fünf Minuten war man vom Freibad, wo die Stadt begann, über den Hügel an der Schule, man stieg wieder hinab, und war am Marktplatz und bei den Kinos, und man beschrieb einen kleinen Bogen, vorbei am See, an der Kongreßhalle, die Straße mit dem Fahrradladen und der Bäckerei entlang, und dann ging man über den Friedhof, um abzukürzen, an der Canisiuskirche vorbei, und da begannen die hohen Häuser, wo seine Eltern wohnten. Natürlich gab es auch einen direkten Weg von dort zum Freibad durch den Wald. Den hatte er im Sommer mit Uli genommen. Uli, der rechtschaffen werden wollte. Es war sein Lieblingswort. Er wollte hart arbeiten und ordentlich dafür bezahlt werden. Ordentlich, nicht zu gut. Es war egal, womit man Geld verdiente. Aber man brauchte es, sonst war man draußen. Wenn man irgendwie drin bleiben wollte, brauchte man es. Rechtschaffen. Was für ein Wort. Was wohl aus Uli geworden war. Vielleicht war er tatsächlich rechtschaffen geworden. Viel Geld war nur mit schmutzigen Dingen zu verdienen. Johann dachte an Bokassa. Man konnte alles tun. Und was war schließlich nicht schmutzig. Und was hieß das schon, schmutzig. Es kam nur auf die Momente an, die immer neuen Momente, die extremsten. Peter wollte an ihm riechen, aber Geld stinkt nicht, hieß es. Er lehnte am Pfeiler und blickte auf die große Uhr.

Es war halb sechs, und jetzt strömten die Menschen, die Arbeitsschluß hatten, durch die Halle. Johann sah sich um. Der Asiate war verschwunden. Der Steinboden war voller feuchter schmieriger Abdrücke, Dreck.

Dann sprach ihn ein Mann an. Johann wandte sich um. Es war ein älterer Mann, der in einem groben Anzug steckte, unter dem er einen bunten Pullover trug. Er sah komisch aus, Johann kannte den Typ, der trug tagsüber keine Anzüge. Er hatte schütteres graues gelocktes Haar, er war schwer, und sein Atem roch nach Bier. Johann hatte nicht verstanden, was er gefragt hatte.

Was ist? fragte Johann.

Der Mann fixierte ihn unruhig. Kommst du mit?

Der Mann war Johann egal. Die Zelle war winzig für zwei, blaßgelb gekachelt. Sein Körper war Johann egal. Er war nur erstaunt. Der große schwere schnaufende Mann, der ihn ansah. Es war fast lustig.

Du bist schön, sagte der schweratmende Mann. Johann schwieg. Du bist schön, Gott, bist du schön. Du bist jung. Wie alt bist du?

Johann sah in die feuchten Augen des Mannes. Siebzehn, log er.

O mein Gott. Du bist jung. Und wie schön du bist. Wie heißt du, sag mir wie du heißt.

Johann schwieg.

Sag mir deinen Namen. Bitte sag mir deinen Namen.

Johann sah den Mann an. Er schwitzte und hatte feuchte dunkle Augen, und sein Gesicht verzerrte sich langsam zu einer weinerlichen Grimasse. Johann überlegte. Peter, sagte er dann. Er lehnte mit dem Rücken an den Kacheln, und dicht vor ihm stand der große Mann. Der alte Mann. Der sich heiß redete. Er plapperte hastig und unverständlich, und seine Hände berührten ängstlich und zitternd Johanns Schultern.

O Gott, ich will dich sehn, laß mich dich sehn. Du ekelst dich vor mir, nicht wahr, o mein Gott, siebzehn bist du und so schlank, und dein Mund, Gott, ich kann nicht mehr, warum bist du mir nicht früher begegnet, nein, nein, nein, ich will ja nichts von dir, will dich doch nicht festhalten, aber ich brauch dich, du bist so jung, laß mich sehen, bist du kräftig, das spür ich, ich bin ein ekliger alter Mann, ich weiß ja, du bist schön, muß mich doch immer zusammenreißen, immer und immer, immer lügen, dich muß ich nicht anlügen, nicht wahr, o mein Gott, du machst mich wieder kräftig, keiner weiß ja, keiner weiß, o Gott, keiner weiß, du, du, du bist so schön, ich will, bitte, ich will an dir riechen, trinken, ja ja, so jung, ich, immer wieder, es ist nicht – nur dieser Drang, weißt du, dieser furchtbare Drang, o Gott, immer so heimlich, laß mich vor dir hinknien, nein, laß mich, ich will knien vor dir, will knien, bin ja nichts, mit mir ist es doch aus, aber o Gott, wie schön du bist, wie schön, wie jung, wie schön.

Johann lehnte an der kühlen gekachelten Wand und sah gegen die andere Wand, die im fiebrigen gelben Licht unscharf war. Er hörte dem Gestammel des Mannes zu, er sah ihn nicht da unten, er spürte nichts, er konzentrierte sich auch nicht darauf, er hörte ihn sprechen, dann hörte er ihn schmatzen, und er spürte Hände auf den Gesäßtaschen seiner Hose, Hände so belanglos wie in einer überfüllten U-Bahn. Er hörte den Mann schnaufen und schmatzen, das Schmatzen klang komisch, Johann empfand es als peinlich für den schweren Mann. Dann hielt der Mann plötzlich inne und sah hoch.

O Peter, wie schön du bist, wie stark, und ich seh alles, groß und blau für mich, o Peter, wenn wir jetzt doch woanders wären, im Wald, nackt, nicht wahr, o Gott, aber ich weiß ja, du willst dich mir nicht nackt zeigen, das bin ich dir nicht wert, ich weiß doch, aber wenigstens, hier, laß mich, laß mich deine Schuhe ausziehen, ich guck auf deine Füße und werd denken, du stehst ganz nackt vor mir, bitte bitte Peter, o bitte, laß mich, ja, ja, danke, danke Peter.

Das Gefühl seiner nackten Füße auf den nassen kalten schmierigen Fliesen änderte plötzlich alles. Johann spürte die Kraft aus sich herauslaufen, als sei ein Hahn geöffnet worden, und das gelbliche Licht verschwamm, und da war die kühle Feuchte unter seinen Füßen, und da war das Schnaufen des Mannes und die Laute von draußen und das Summen der Neonröhre, und seine Knie wurden schwach und gaben nach, und er spürte die heiße Höhle, die sich um ihn schloß, zuwachsen und ihn aufnehmen, und das Schmatzen und das Schnappen drangen dort heraus, und Hände stützten seine weichen Knie, und er wollte hinein, ganz hinein in die Dunkelheit, in der sein Blut pulste, dessen Strom ihn mitriß, und er hörte, als alles in ihm sich zuspitzte und weiterrollte und auf den Abgrund zutaumelte, näher auf den Abgrund zu, die Stimme des Mannes: Peter, o mein Gott, Peter. Ja, jetzt, Peter, ich spür es, ja, ja, ja, Peter, o Gott, Peter, und dann war er über dem Abgrund und dann fiel er. Seine Kraft sickerte in den andern, in die Hände, die ihn jetzt umdrehten, ihn an die Wand drückten, und er spürte die Kühle an seiner Haut, und er hörte die Stimme, die heisere Stimme: O ja, Peter, und jetzt, o ja, mein Junge, mein böser böser Junge, aber jetzt, jetzt gib einmal acht, o ja, ja, nicht wahr, jetzt wird es anders, und er hörte, wie der Mann sich aufrichtete, sich hinter ihn stellte, und er spürte die Kacheln an seiner Wange und den nassen schmierigen Boden unter seinen Füßen, und dann wurde er an den Hüften gepackt, und es war, als gieße ihn jemand mit heißem Blei aus, als würde auf ihn geschossen, und die Kugeln durchschlugen seine Haut, und sein Inneres platze auf, und er wurde von der Wand gerissen und gegen die Wand gepreßt, fortgerissen und dagegengepreßt, weggerissen und dagegengestoßen. Nur noch seine Füße hielten den Kontakt zur kühlen festen Wirklichkeit, und er dachte: Ich bin schwach, ich bin schwach, ich bin schwach, ich bin schwach, und an seinem Ohr hörte er: Peter, Peter, Peter, mein böser Junge, nichtwahr, nichtwahr, nichtwahr, und dann noch schneller: Peter, Peter, Peter, und dann wurde plötzlich Stacheldraht aus seinem Körper gerissen, und er hörte das Rauschen einer Spülung aus der Nebenkabine, und in einer Welle von Ekel fiel ihm ein, daß er mit nackten Füßen in einer Lache aus Pisse und Straßenschmutz stand.

 

Später lehnte er wieder an dem Pfeiler in der Halle. Draußen war es dunkel geworden, Windstöße trugen Verkehrsgeräusche und den Geruch von Regen in die Halle. Johann trank Bier aus einer Dose und verfolgte die Bewegungsmuster der menschlichen Körper, das Hin und Her, die Kreise, jetzt zentriert um den Kiosk neben dem Eingang. Wieder hatten die Schritte ihre Ursprünge und Ziele, als würde Bewegung allein schon irgend etwas helfen, als hätten Fortgehen und Ankommen irgendeinen Zweck. Vielleicht hat es einen Zweck, dachte Johann, vielleicht hilft es, so eilig irgendein Ziel anzusteuern; in irgendeiner Ordnung mitmarschierende Beine, schwenkende Arme, gereckte und gebeugte Köpfe. Was war das Ziel? Was hatten sie alle gemeinsam? Er wußte es, gleich würde es ihm einfallen. Was trieb sie alle umher? Genau, jetzt hatte er es. Was war es? Sie wollten alle dem Regen entkommen, das war es. Sie wollten alle ins Trockene, unter ein Dach, das war es. Sie wollten alle dem Regen entfliehen. Niemand wollte naß werden. Alle verbargen sich vor dem Regen. Johann wurde nicht mehr angesprochen. In seiner Hosentasche steckte der Fünfzigmarkschein. Er berührte ihn. Das Papier war schmierig in der Tasche, als sei es durch die Hände Tausender gegangen. Der Geldschein in der Tasche fühlte sich an wie eine faule madige Pflaume. Johann hielt die Hände von seinem Körper weg.

Niemand sprach ihn mehr an. Er wartete, bis er zu müde zum Stehen war, und fuhr dann zurück. Die metallenen Haltestangen im Waggon waren schmierig. Die Bahn rumpelte über die kalten Lichter der Friedrichsstadt. Es war nach Mitternacht.

 

Peter war nicht zu Hause. Auch Barbaras Zimmer war leer. Von seinem Zimmer sah Johann, daß nur hinter einem Fenster noch Licht brannte: bei Maria. Johann ging durch den Flur, durch den dunklen Bunker und sah einen Streifen Helligkeit unter der Tür.

Das Zimmer war weiß im Licht einer Neonröhre, die von einer grünen Wäscheleine hing. Maria saß am Tisch, über einen Weltatlas gebeugt, vor ihr an der Wand hing eine große Afrikakarte. Johann blinzelte, als er eintrat.

Es ist zu hell hier, sagte Maria. Es ist überall zu hell.

Störe ich dich? fragte Johann.

Maria schüttelte den Kopf und legte den Atlas auf den Tisch. Willst du Musik hören?

Johann nickte.

Willst du was trinken? Da steht Bier. Bedien dich.

Johann holte sich eine Dose und setzte sich auf einen Stuhl.

Bist du müde? fragte er.

Maria schüttelte den Kopf. Ich komme gerade erst aus dem verdammten Kino. Sie legte eine Laurie-Anderson-Cassette in den Recorder.

Laß dich nicht stören von mir, sagte Johann.

In Ordnung, sagte Maria und nahm den Atlas wieder auf den Schoß.

Johann betrachtete das Zimmer. Es gab eine Matratze, Bügel an der Wand trugen Kleider. In einem alten bauchigen Kühlschrank war die Wäsche. An einer Leine hing ein Bettlaken, auf dem ein Hakenkreuz aus Kresse wuchs. Darunter lag ein marzipangelber Schafsschädel auf dem Zementboden.

Was ist das? fragte Johann.

Maria winkte ab. Ein Arrangement. Ich werds bald wegschmeißen, wie alles. Mein Vater hat früher so was gemacht mit Kresse, zu Ostern. Natürlich keine Hakenkreuze.

Was siehst du dir da eigentlich an? fragte Johann.

Afrika. Ich überlege, wohin ich fahre.

Willst du Ferien machen?

Nein, ich will dableiben. Weg von hier.

Und warum? fragte Johann.

Ich weiß nicht.

Was ist denn anders dort?

Die Erde ist rot. Die Erde ist rot, und es gibt Farben, viel mehr Farben.

Johann sah sie an.

Was willst du, gefällts dir hier? fragte Maria.

Ich bin noch nicht sehr lange hier.

Ich war lange genug in Berlin. Ich war lange genug überall. Ich warte, bis ich fünftausend Mark habe, und dann fahre ich nach Afrika.

Was ist das? fragte Johann und deutete auf den Tisch.

Das Stück Eisen? Geld. Aus Kumasi in Ghana. Ja, vielleicht geh ich nach Ghana. In Accra sind die Hauptstraßen Abwasserkanäle, und die Kinder spielen Rutschbahn auf den Rinnen, die von den Hütten zum Kanal gehen. Außerdem haben die einen Gott namens Ulurun, dem Hunde geopfert werden. Das war früher der Gott der Schmiede und heute auch der Gott der Kraftfahrer. Und jedesmal wenn ein Taxifahrer einen Hund sieht, vergißt er seine Fahrgäste und jagt ihn, bis er ihn überfahren hat.

Johann lachte.

Ich habs jedenfalls gehört, und die Idee gefällt mir.

Wann wirst du genügend haben?

Bald, sagte Maria und lächelte, und ein Delta Fältchen entstand in ihren Augenwinkeln. Weißt du, Berlin ändert sich andauernd. Und für jemanden, der hier lebt, ist eine Veränderung wie ein Ende, und er denkt, jetzt hört das also auf. Für die Stadt selbst, die geduldiger mit sich ist, und für Besucher sind es nur Veränderungen. Aber für den, der hier wohnt, ist es ein Ende. Die meisten Leute, die ich kenne, sind mit der ersten Veränderung, die sie erlebten, wieder fort aus Berlin. Ich habe recht oft so ein Ende erlebt. Jetzt ist es mir auch zuviel. So was ist nicht ganz leicht. Und Afrika stellt uns bloß: Das Klima führt eine ganze Zivilisation ad absurdum. Die zerfallenen Steinpaläste aus der Kolonialzeit. Es stehen nur noch die Außenmauern. Und innendrin, in den weißen Ruinen, haben die Leute wieder ihre Strohhütten gebaut.

Ich wollte eigentlich heute abend noch zu Peter, sagte Johann.

Und?

Er ist nicht da.

So.

Kennst du ihn?

Ja, sagte Maria.

Und, magst du ihn?

Wir haben ein paar gemeinsame Bekannte, sagte Maria. Ich bin aber nicht sicher, daß er das auch weiß.

Was hatte er eigentlich mit der Rosa-Bar zu tun?

Er hat sie damals gegründet, als ihm die Nichtstuerei in der Bülowstraße zuviel wurde. Er hat ne Menge getan damals. Er war ne Zeitlang einer der Stars in der Szene.

Und warum ist ers nicht mehr?

Weils keine Szene mehr gibt. Oder nie gab, was weiß ich. Er weiß das aber offensichtlich nicht. Er hat glaub ich ein paar Tausender aus der Kasse genommen, um damit die Läden aufzumachen, mit denen er auf die Schnauze gefallen ist. Die andern haben ihn dann aus der Rosa-Bar geekelt. Er kann sich sowieso kaum mehr irgendwo sehen lassen.

Magst du ihn? fragte Johann.

Nein.

Ich möchte wissen, wo er ist.

Wahrscheinlich hat er den Kopf voll Opium und Wodka und Weltschmerz und ist bei irgend jemandem, der ihm das alles aus dem Leib vögeln soll.

Glaub ich nicht.

Maria zuckte die Achseln.

Meinst du? fragte Johann.

Keine Ahnung, es interessiert mich auch nicht.

Wahrscheinlich hast du recht, sagte Johann.

Du weißt doch, daß er schwul ist, sagte Maria.

Ja, sagte Johann.

Jetzt siehst du müde aus, sagte Maria.

Wie spät ist es denn?

Gleich sechs.

Was hast du gemacht, heut abend? fragte Johann. Nichts weiter. Und du?

Auch nichts weiter, sagte Johann.

Dann schwiegen sie. Maria schloß die Augen und lauschte der Musik, die klang, als hätte jemand ein Mikrofon in den Urwald gehalten und einen Apparat gehabt, mit dem man auch Gerüche und Farben und Licht und Schatten in Töne übertragen kann.

 

Gegen sieben Uhr morgens klingelte es an der Tür. Johann durchquerte die stille Wohnung und öffnete. Es waren ein Mann, eine Frau und ein Baby. Der Mann war klein und dünn, ganz in Schwarz, mit einer Schirmmütze, die er verkehrt trug. Er hatte ein langes schmales Gesicht, trug einen Rucksack und hatte das Baby im Arm, das lächelte und Johann aufmerksam ansah. Die Frau war klein und hatte weißblond gefärbtes Haar und rosige Haut. Sie war auch schwarz gekleidet und trug einen Rucksack und hielt einen zusammengeklappten Buggy in der Hand.

Hello, I’m Jimmy Breen. That’s Jennifer, my wife. She speaks German, I don’t.

Hallo, sagte die Frau. Ist dies das Apartment, wo Barbara wohnt? Wir sind Freunde von ihr.

Johann deutete ihnen mit dem Kopf an, hereinzukommen.

Barbara arbeitet aber. Sie kommt erst heute abend wieder. Ich zeig euch ihr Zimmer.

He says, Barbara’s not here at the moment, sagte Jennifer zu ihrem Mann.

Johann betrachtete das Kind, das müde lächelte.

Anyway, we’re here, sagte Breen. You know, we spent the night in a dirty room with twenty people staring at us. Didn’t find the address.

Ich mache etwas für Jessica zu essen, sagte Jennifer. Sie lebt seit zwei Tagen von Keksen.

Maria erschien. Sie sah das Kind und Jennifer und lächelte. Ich mache Kaffee.

You know Blixa Bargeld? fragte Breen Johann. Since I got here I’ve been asking anybody, and no one seems to have ever heard of him. Man, that’s Berlin, isn’t it? I mean, he’s coming from here. New York is crazy for the Collapsing New Buildings, and nobody knows them at home. It’s crazy! Everyone says, I don’t know, when you ask them anything.

New York, Jimmy Breen kam aus New York, und als sie zu fünft Kreuzberg durchquerten, den Erkelenzdamm auf dem Teppich brauner fauliger Blätter bis zum Fraenkelufer mit dem Blick auf die Krankenfabrik am andern Ufer des grauen Landwehrkanals, wo Schwäne, Enten und Bläßhühner kreischend und flügelschlagend auf eine alte Frau zuschwammen, die Brot streute, das Lincke-Ufer entlang in Richtung Treptow bis zur Grenze und dann in weitem Bogen auf Spree und Schlesisches Tor zu, die Kragen hochgeschlagen gegen den Herbstwind, da erzählte Jimmy Breen von New York und wie sie lebten und von Jennifer und von ihrem artwork, das keinen von beiden bislang ernährte, obwohl Jennifer jetzt die ersten Ausstellungen in den Galerien von Greenwich bekam. Jimmys artwork war vielseitig: Er hatte zwei bands, Drunk Driving und Jimmy Breen & the Missing Passengers, und er trat, wenn er auf Reisen war wie jetzt, auch allein auf. Seine Musik, erzählte er, sei am meisten von Blixa Bargeld und den Collapsing New Buildings beeinflußt. Außerdem malte er auch, aber nicht so viel und so gut wie Jennifer, die er auf der art school kennengelernt hatte, wo sie in der gleichen Klasse saß wie Keith Haring, dieser Bastard, der jetzt Hunderttausende scheffelte, obwohl er alles nur nachäffte, nein, malen wollte er nicht, spray painting, das sei seine Domäne, aber keine großen Graffiti, nein, er sprühe meist nur sein Signum, das habe er erfunden in New York, erzählte er, das eigene Markenzeichen als Kunst, Eigenwerbung als Kunst und Kunst durch Werbung, er würde es sich jetzt patentieren lassen; sein Signum, das sei ein umgekehrtes Sektglas, also ein T über einem Dreieck, das stehe für Ende des schönen Lebens, Ende des Genußzeitalters und daneben drei Striche und ein vierter, der sie durchkreuze, das alles bedeute third world trouble, das gelte es zu erwarten, aber New York sei riesengroß, und er sei mittlerweile dreißig, als Jimmy Missing jedoch, erzählte er, gebe er sich für zwanzig aus. Mit dreißig werde man kein Star mehr, nicht in New York, aber er komme dort für zwanzig durch. Jennifer fuhr das Baby, das immer lächelte und glücklich aussah, und unterhielt sich mit Maria übers Malen. Jimmy Breen erzählte Johann, daß sie ihre Heirat als Happening veranstaltet hatten, mit einer Zeremonie auf Liberty Island am Fuß der Freiheitsstatue und einem anschließenden Hubschrauberrundflug über Manhattan als Feier für die geladenen Gäste, und es gab ausschließlich Jelly Beans als Protest gegen Reagans Politik, aber einige Monate später, als Jessica unterwegs war, hatten sie auch standesamtlich geheiratet.

Jen wouldn’t have a baby without being married. Her parents are very catholic. Irish catholic. You know, I’m an anarchist, I don’t care. I mean, so is she, but nevertheless she wouldn’t have a baby without being officially married. When we found out, it was too late anyway to do something about it. And Jen would rather die than do something about it. I reckon, I love her plenty.

Die Breens hatten Geld gespart, Jennifer durch den Verkauf von drei Bildern und Jimmy durch ein halbes Jahr Arbeit in einer jüdischen Werbeagentur, und waren nach Europa gekommen. Zuerst drei Wochen London, dann einen Monat Amsterdam, wo ein Musiker lebte, den sie aus New York kannten, und jetzt Berlin, wo Barbara lebte, die Jennifer einmal in Dublin kennengelernt hatte, die Stadt von Blixa Bargeld. Den Winter wollten sie im Süden verbringen, Jimmy meinte, die südliche Sonne sei gut für Jessicas Wachstum.

Johann wich nicht von Jimmy Breens Seite an diesem Tag. Der Amerikaner bestimmte das Tempo, er bestimmte die Richtung, seine Neugier erneuerte die verlassenen Straßen, seine Naivität wusch die selbstgefälligen Gespenster von den Mauern, seine Geschwindigkeit verlängerte den Tag, und seine Wachheit fuhr den andern ins Blut wie Kokain. Er entschied nichts, er fragte nur, er hatte kein Ziel anzusteuern, er wollte nur vorwärts; es war das amerikanische Zeitmaß, das ihn beherrschte, sein New Yorker Tempo, das die Atome dreier europäischer Tage in eine explosive 24-Stunden-Granate preßte. Johann hörte ihm zu, wie er über Kunst redete und die Notwendigkeit, herauszukommen, und wie er die ganze Welt auf einfachen Fragen und noch einfacheren Antworten aufbaute, die aus den Worten: Ja, wie und wann bestanden. Johann beobachtete ihn, wie er Jessica hochhob, seine Nase in ihrem Gesicht rieb und sie auf seine Schultern setzte, und wie ihre Beinchen in der Wollstrumpfhose auf seiner Brust baumelten und wie stolz er erzählte, daß sie während der ganzen anstrengenden Reise so gut wie nie geweint habe. Jennifer war mit Maria ins Gespräch vertieft, und dann fragte Jimmy, wo er auftreten könne in Berlin, und Maria schlug das Blockschock vor.

In der Wohnung klärten Jimmy und Jen, wer wann bei Jessica bleiben würde. Sie hatten eine Regelung getroffen, nach der sie abends abwechselnd ausgingen und sich um das Baby kümmerten. Es geht sehr gut, wir haben keine Probleme damit, sagte Jen. Manchmal, wenn wir beide zusammen weg wollen, müssen wir warten, bis die Kleine schläft, oder wir suchen jemanden, der den Abend über bei ihr bleibt. Aber es geht sehr gut. Jen würde diesen Abend bei Jessica bleiben, wenn Jimmy im Blockschock einen Auftritt abmachte. Dafür wollte sie am folgenden Tag mit Maria Once upon a time in the West sehen.

Am Nachmittag, als Barbara nach der Arbeit mit den Breens in ihrem Zimmer war, saß Johann auf seinem Bett. Da war New York, das er besser kannte, als er Berlin jemals kennen würde, das echter war, als Berlin jemals sein würde, das New York der Lichterspuren und des melancholischen Judenhumors, der Kugeln in den Rücken und des Autostroms, die Bilder und Töne, Rhythmus aus Hunderten von Liedern und Filmen aus allen Jahren, die von der Zukunft erzählten, in den schnellen Weiten Amerikas, wo alles möglich war, wo alles geschah, jetzt, jetzt, und irgendwann, das wußte er im schnaubenden Atem all der Musik, ging es dorthin, war es schon immer dorthin gegangen, und die Stadt und das Land, das er nie gesehen hatte, machten seine ganze Vergangenheit aus, die aufblitzenden Lichter und der Fahrtwind und die leeren nächtlichen Plätze hatten das Universum gefüllt, das außerhalb des Vakuums jener unzähligen verblaßten deutschen Sonntagnachmittage lag.

Da war aber auch, neben und in und gegen New York, die kleine Jessica in der Wollstrumpfhose mit dem blonden Flaum auf dem runden Kopf und den großen blauen Augen wie Murmeln, den klugen Augen, deren Blick den Bauch aushöhlte und Leere hinterließ, die gefüllt werden wollte, kalte Leere, womit wollte sie gefüllt werden, womit? Und Johann zwang sich, nicht darüber nachzudenken, und dachte an Jimmy und Jen, wie sie sich um die Kleine kümmerten, wie sie bei ihr waren, wie ihre Hände sie berührten, die großen Hände diesen winzigen Körper berührten, und wie sie dennoch keine Zeit verloren, sie verloren keine Minute dabei, es war seltsam, nichts ging verloren.

Der Junge, der im Blockschock hinter dem Tresen stand, war so mürrisch und zurückhaltend wie seine Gäste, tauber Glöckner und Küster einer heruntergekommenen Kathedrale des Lärms, deren Besucher die ohrenbetäubenden Messen längst auswendig kannten, die jeden Abend gegeben wurden, und sich beim Beten nur noch gelangweilt am Schritt zupften. Maria liebte es, sich hier an manchen Abenden vom Dröhnen der Musik einmauern zu lassen und die Gladiatoren zu beobachten, die die Treppe hinabstiegen, dort wo die Bühne war, um sich die Köpfe blutig zu schlagen. Durch die gläserne Mauer von Geräusch und Pernod betrachtete sie die jungen blutenden Gesichter, rot auf schwarz, und das Blut war sofort als Sirup zu erkennen, wie in allen schlechten Filmen.

Jimmy Breen sprach das Zauberwort: New York und zwinkerte den anderen zu, als sich der Junge zusammenriß, stramm wurde, die Ohren öffnete und leuchtende Augen bekam. Jimmy spielte mit ihm, ließ Namen fallen, die sehr New Yorkerisch klangen, und überhäufte den Jungen mit Komplimenten, wie sehr seine Bar an die wundervollsten, heruntergekommenen, miesesten Schuppen in den schmutzigsten faszinierendsten Ecken der Lower East Side erinnerte. Es war kein Problem, einen Termin für den übernächsten Abend abzumachen. Jimmy inspizierte die Bühne, zog die Augenbrauen hoch, und der Junge schwänzelte um ihn herum und versuchte ihn zu berühren, an den Schultern, am Rücken, als könne er sich und das ganze Blockschock auf diese Weise mit einem Schlag über den Atlantik beamen.

Auf der Straße im eisigen Herbstwind, der aus allen Richtungen auf den Heinrichplatz wehte, schüttelte Breen den Kopf. My God, what a fuckin’ rotten place. You won’t tell me this is Berlin avantgarde. But honest to God, I take what I can get, I performed in worse surroundings than that.

Er zögerte. Thinking it over, it might even be the most distinguished club I ever did. Hope that thousands will come. What’re we going to do tomorrow, though, I’d like to see something nice. Nothing against the Blockschock, but I mean, it’s fucking garbage. Isn’t there any nice place we could go to with Jen and the kid?

Es war Wolfgang, der die Pfaueninsel vorschlug. Jimmy und Wolfgang verstanden sich sofort. Wolfgang sprach fließend Englisch, er war jemand, der es geschafft hatte. Er war Akademiker und verdiente viel Geld, er war zufrieden und ehrgeizig, er lachte gern und war ungern depressiv, vor allem wenn kein Grund dafür bestand, und er war ungern mit depressiven Menschen zusammen. Er liebte Mahler, Bruckner und Wagner, aber auch Phil Glass und Steve Reich, und er fickte gern, und am liebsten zu Mahlers Fünfter, oder natürlich zu La Traviata. Vielleicht empfand er die Wohnung als Kindergarten, aber er schien sich wohl in ihr zu fühlen. Jimmy Breen war ihm sympathisch, weil der auch lachen konnte, und Wolfgang war in New York gewesen, und er war dort nicht vor die Hunde gegangen, sondern hatte sich drei Wochen lang prächtig amüsiert. Man würde in seinem Wagen hinunter nach Wannsee fahren und dann übersetzen und hatte den ganzen Nachmittag.

Johann wollte Peter mitnehmen. Er ging mit Breen hinunter ins andere Haus und klingelte. Zur Pfaueninsel? sagte Peter und spuckte aus. Familienausflug? Willst du Frieden schließen, Johann, gibst du klein bei, suchst du jetzt auch die Idylle? Ich hab noch ein paar Exemplare der Gartenlaube. Willst du die?

Es ist nur ein schöner Tag, sagte Johann. Und wir wollen raus, weiter nichts.

Jimmy Breen lehnte im Türrahmen und schwieg. Peter sah ihn an, dann Johann. Johann sah, wie sein Mund schmal wurde und sich bewegte.

Ich denke gar nicht dran, irgendwohin ins Grüne zu fahren. Ich denke gar nicht daran, mich von irgendwas zu reinigen!

Ich dachte, daß du vielleicht mitkommen wolltest, sagte Johann.

Du dachtest! Bin ich dein gottverdammter Vater.

Gewiß nicht, sagte Johann.

Wenn du unbedingt den Fremdenführer spielen willst, dann ohne mich. Ich bin kein Alibi.

Wofür solltest du wohl ein Alibi sein, sagte Johann.

Du weißt wofür. Wenn du weglaufen willst, bitte, aber versuch nicht, mich mitzunehmen. Erspar mir, dich als Schwächling zu sehen.

Du bist der Feigling von uns, schrie Johann. Dann bleib halt hier!

Du kommst zurück. Vielleicht brauchst du zwei Stunden Kino auf der Pfaueninsel, aber du weißt, das ändert gar nichts, und deshalb kommst du zurück. Du kannst nur vorwärts, denk daran, du kannst nur noch vorwärts, genau wie ich.

Fick dich, sagte Johann und ging. Jimmy Breen folgte ihm. Peter warf seine Wasserpfeife ungeschickt hinter ihnen her. Sie zerklirrte an der Wand. Er setzte sich auf sein Bett und kugelte sich zusammen, den Kopf zwischen den Knien. Das muß reichen, flüsterte er, das muß genügen, das muß doch reichen.

Jimmy Breen atmete auf, als sie Jennifer mit dem Baby, Wolfgang, Barbara und Maria auf der Straße vor dem Auto stehen sahen. Strange friends you have. What is he so fucking sad about? In New York he’d be killing himself within two days. Why’s he so sad?

Die Sonne schien weiß und kühl zwischen den Baumkronen hindurch, und die roten, braunen und gelben Blätter leuchteten auf dem harten Erdboden. Die Havel war herbstgrau, der Wasserspiegel lag unbewegt, in sanftes milchiges Licht getaucht. Familien und verliebte Pärchen bewegten sich langsam auf den Rundwegen voran. Es war still, nur die Zweige und das verbliebene Laub wisperten trocken und kalt in der leichten Brise von Westen.

Jimmy, mit einem Fotoapparat um den Hals, in seinem schwarzen Anzug mit der umgedrehten Schirmmütze auf dem Kopf, ging vorneweg mit Wolfgang und Barbara. Jen und Maria waren eingehakt und unterhielten sich leise, und manchmal lachten sie. Johann ging am Schluß, Jessica auf den Schultern. Er betrachtete die anderen von hinten und hielt den Abstand. Er redete nicht mit dem Kind, das sich mit seinen kleinen Händen in seinem Haar festhielt, aber er hörte, wie es ruhig und gleichmäßig atmete, und spürte, wie es den Kopf drehte und sich alles ansah.

Dann kamen sie auf die weite offene Fläche, wo das Pappschloß stand. Alle machten ihre Witze darüber, lachten, spotteten und klopften gegen die dünnen Wände, aber Jimmy Breen gefiel der seltsame Bau, auch wenn er lächelnd den Kopf schüttelte, er fotografierte, lief um das Schloß herum und blieb noch dort, als die anderen schon längst weiter waren. Die Rückfahrt war still und friedlich, jeder genoß schläfrig das Brummen des Motors. Nur Breen, der vorn neben Wolfgang saß, drehte sich um und begann immer wieder zu sprechen.

Am Abend, als Jen mit Maria ins Kino ging, blieb er in Barbaras Zimmer und überwachte den Schlaf des Babys. Als die beiden Frauen nachts zurückkamen, hängte sich Breen seine Schultertasche mit den Farbdosen um und verließ die Wohnung, um das nächtliche Kreuzberg zu besprayen.

 

Johann wachte auf und ging in den großen Raum. Es war schon nach Mittag. Barbara, Jen und das Baby saßen im Zwielicht des trüben nebligen Herbsttages auf den Gartenstühlen. Die Wolken lasteten voll und schwer auf den Dächern, und der Tag dämmerte schon jetzt kraftlos seinem Ende entgegen. Sie wollten nach Ostberlin und warteten auf Jimmy, der noch ein Bild malte, das er am Abend als Bühnendekoration benutzen wollte. Die drei waren morgens am Checkpoint Charlie gewesen und hatten das Museum besucht, wo Breen das Foto des über den Stacheldraht springenden Volkspolizisten gekauft hatte. Jetzt malte er es nach, in schwarzen, grauen, grünen und roten Acrylfarben aus Jens Rucksack.

 

Ostberlin lag in stiller Betriebsamkeit unter einem niedrigen grauen Himmel. Wattebäusche feuchter Luft schwebten um das gelbe warme Licht der Straßenlaternen. Jimmy Breen war schweigsam geworden und hielt sich dicht bei Johann. An der Grenzkontrolle noch ein selbstbewußter Amerikaner, drückte ihn die lautlose kalte Pracht der Allee nieder. Dann waren sie auf einem großen schwarzen leeren Platz mit abgestorbenen jungen Bäumen, steinernen und bronzenen Figuren und zwei geraden Reihen grauer Papierkörbe.

Das erinnert mich an Palermo, sagte Barbara. Dort gibts ein Kapuzinerkloster, in dessen Katakomben Tote stehen. Reiche Bürger und Adlige, die dem Tod ein Schnippchen schlagen wollten. Sie ließen sich mumifizieren und dort aufstellen oder hinsetzen. Viele sehen noch gut aus, aber ein wenig zusammengesackt sind sie alle. Sie wollten Stolz zeigen, und sie stehen noch. Sie haben die Farbe von Termitenhügeln, und die Zeit hat sie durchgespült wie Schneckenhäuser am Strand.

The park of death, sagte Jennifer.

Gimme a cigarette please, bat Jimmy Johann und berührte dessen Hand, als ihm die Schachtel gereicht wurde.

Als sie weitergingen, waren sie Magneten, die sich anziehen und abstoßen, nicht zueinander können und nicht voneinander fort. Breen fühlte sich zu Johann hingezogen, ohne ihn erreichen zu können, Johann ging es ebenso mit Barbara und Barbara mit Jen. Nur Jen bildete eine Einheit mit dem Baby, sie schob es im Wägelchen vor sich her, und Jessica war genauso wach und fröhlich wie sonst, und Jen schob sie vor sich her wie einen Schutz.

Es war zu spät, um vom Fernsehturm aus, dessen Spitze in den Wolken verschwand, noch irgend etwas sehen zu können. Dennoch fuhren sie hinauf und starrten von oben, verteilt in alle Himmelsrichtungen, durch das dunkel getönte Glas hinaus in die Finsternis. Nichts war mehr zu sehen außer einigen Lichtern in der Dunkelheit, schwach schimmerte die Beleuchtung des Brandenburger Tors.

So that was East Berlin, sagte Jimmy Breen in der U-Bahn auf dem Weg zurück nach Kreuzberg. Well, I can tell you, I mean, I guess that’s the damnedest place I ever been to. You know it’s clean and normal and fine and everything, but it makes me wanna have a beer or a whisky or something, I mean, you know, I couldn’t breathe anymore, I don’t know how to explain it, it’s sort of depressing, you know, of course you hear lots of things about it, but it’s different, you never could explain it to anybody who hasn’t been there, somehow everything has stopped there, it’s not that there weren’t people though, there are, of course, and it’s clean and everything, but it gives me a feeling of bloody death, you know, not the city, myself, I feel like dying, well not exactly dying, still, I got it still, I mean, didn’t you notice as well, it’s a feeling of death, you know, not your own death, death that’s approaching, very sinister, a clean death approaching us, not our own death though, maybe not our own death, anyway, you know what, I’ll use that tonight, I’ll write some lines to it, I guess that is it, to use those damn feelings at once, you gotta do that, give them away, give them to your audience, that’s the thing to do, nobody will understand it though, but well, anyway, I guess I have to write some fucking lines about it to get rid of it, I mean, what do you think, Johnny, you don’t say anything anymore. I mean, do you agree with me?

Yes, sagte Johann.

 

Jimmy Breens Auftritt war nicht besonders lang, und das Wort New York hatte nicht allzu viele Zuschauer angelockt. Die dunkle Höhle vor der Bühne war nur halbvoll, zu viel leerer Raum für Aggressionen, und da keiner verstand, was Breen halb sang, halb deklamierte, jeder sich aber bemühte zu begreifen, worum es ging, saugte die Konzentration alle anderen Emotionen löschpapierhaft auf. Jimmy Breen stand hinter einem Pult, auf dem eine E-Gitarre lag, und las einen Text. Er sang ihn, schrie ihn, flüsterte, brüllte, leierte, beschwörte, erzählte, heulte und spottete. Dazu spielten seine Finger auf einer klimpernden Kalimba, und jedesmal wenn er ein Wort oder eine Passage unterstreichen wollte, prügelte er mit der Faust auf die Saiten, und die Gitarre antwortete mit zerquälten Schreien, die die Zuhörer aufschreckten, peinigten und schließlich vertrieben.

Hinterher wurde nicht mehr darüber gesprochen, Jimmy war nicht unzufrieden; es war gekommen, wie er vorausgesehen hatte, niemand hatte etwas verstanden, vielleicht lag es an ihm, vielleicht am Publikum, es blieb sich gleich. Johann war betrunken, und Jimmy fand jemanden, der Kokain verkaufte, und er gab sein Honorar dafür aus und für einen Trip für Maria, die kein Kokain wollte. Johann wurde wieder wach und trank weiter, Maria verließ das Blockschock, weil sie auf Trip am liebsten allein durch die Stadt wanderte, und Jimmy brachte, nachdem er vergeblich versucht hatte, Johann anzusprechen, die Gitarre zurück, hängte seine Schultertasche um und verließ das Haus wieder, um sein Signum, sein Markenzeichen, seine Spur an den Mauern Berlins zu hinterlassen.

 

Am folgenden Abend saßen sie im großen Raum, Johann, Breen, Maria, Barbara, Daniela mit Maria, Wolfgang und Sergej. Jennifer war unterwegs, das Baby schlief. Peter hatte angerufen und Johann gefragt, ob er zu ihm kommen wolle, aber Johann wollte nicht. Sie saßen alle um Jimmy Breen herum, der von New York erzählte, den harten Zeiten ohne Geld, den Clubs, in denen er gespielt hatte, und den Leuten, die es geschafft hatten. Sergej saß etwas abseits und lächelte vor sich hin, er war auf Trip. Kurz darauf verließ er die Wohnung und ging ins Kino. Wolfgang war mit einer Grafikerin im Café Einstein verabredet und verabschiedete sich, ohne das Mädchen wirklich sehen zu wollen. Den Rest hielt Breen bei der Stange. Als er bösartige Witze über verheiratete Paare erzählte, bildeten sich auf Marias und Barbaras Stirn Falten. Niemand wollte weit fahren, es regnete, so wurde beschlossen, in die Rote Rose zu gehen.

Die Rote Rose an der Ecke Oranien-/Adalbertstraße war der Mülleimer des Stadtviertels. Es war, als müßten Hunde und Ratten die Kneipe stürmen, die Gäste anfressen und in ihren Augenhöhlen stöbern. Der Windfang war aus dunkelgebeiztem Holz, in das eine unkundige Hand schiefe Herzen laubgesägt hatte. Die Wände waren mit Alpenpanorama-Fototapeten verkleidet, über die Wochenend-Mädchen gepinnt waren. Auf einer Empore glitzerte das ganze Jahr über in seinem Schrein ein kleiner geschmückter Plastik-Christbaum, Leuchtgirlanden schlängelten sich unter der Decke; es gab ein Aquarium, grün von Algen, eine Musikbox und zwei Tische. Die Wirtin hinter dem Tresen war ständig angetrunken und ließ ihren Freund, einen muskulösen Marokkaner im Trainingsanzug, die Arbeit tun. Aus der Musicbox dröhnten verzerrt türkische Schlager oder das dissonante Falsett der Star-Sisters. Anatol saß oft nächtelang hier, denn die Getränke waren konkurrenzlos billig, und im Geruch von Pisse und Erbrochenem und aufgestoßenem Bier, der den kleinen Raum füllte, lösten sich seine Gedanken auf.

Nur ein Tisch war besetzt. Dort hockte eine alte verkrümmte Frau, die ihr Gebiß verloren hatte. Ihr Kopf rutschte immer wieder von dem aufgestützten Arm und fiel hart auf die Tischplatte ins verschüttete Bier. Sie hatte eine Plastiktüte neben sich stehen, in die sie von Zeit zu Zeit griff und eine Handvoll Kartoffelsalat herausholte. Manchmal erbrach sie sich auch in die Tüte oder daneben, danach aß sie weiter. Der Marokkaner erhob sich alle zwanzig Minuten seufzend von seinem Barhocker und wischte mit einem Schwamm über die Tischplatte und die Bank links und rechts von der Frau. Als er ihr die Plastiktüte wegnehmen wollte, schrie die Alte ihn an und klammerte sich mit beiden Händen an die Tüte. Danach ließ der Marokkaner sie in Ruhe. Gegenüber auf der anderen Seite des Tisches saßen ein alter Mann in löchrigem Wollmantel und Schal und ein Punk mit blutunterlaufenen Augen, beide hielten sich an den Biergläsern fest.

Der Alte schlug mit der Faust auf den Tisch: Ich war Schäfer! Ich hab alles erlebt! Sie ham mir meine Schafe weggenommen! Ich hab ein schönes Leben gehabt. In der Heide, jawohl. Mein ganzes Leben war ich Schäfer, bis sie mir meine Schafe weggenommen haben. Und jetzt will ich nicht mehr, jawoll.

Ich will auch Schäfer sein, jammerte der Punk und legte seinen Kopf auf den Tisch. Ich hab die Schnauze voll. Kann ich nicht auch Schäfer werden?

Das ist vorbei, vorbei, vorbei. Ich war Schäfer, ich muß es wissen, jawoll. Ich hab draußen gelebt, ich kannte alle meine Schafe, und ich hatte zwei Hunde. Das ist vorbei, jawoll. Meine Hunde haben sie mir eingeschläfert. Jawoll, eingeschläfert.

Warum denn bloß nicht, warum nicht, ich hab die Schnauze voll, Schäfer, ich hab die Schnauze so voll.

Nee, Junge, das ist vorbei, sagte der Alte und legte seinen Arm um die zitternde Schulter des Punks. In der Natur hab ich gelebt, unter freiem Himmel geschlafen, jawoll, jede Nacht woanders, mit meinen Hunden und meinen Schafen. Ich kannte jeden Stern, hört ihr das, jeden Stern, jawohl, und meine Hunde haben sie mir auch eingeschläfert.

Ich war nie Schäfer und kann keiner mehr werden, nie, nie, nie, schluchzte der Junge.

Das ist vorbei, sagte der Schäfer und stützte sich schwer auf den Jungen. Noch drei Bier. Das ist vorbei.

An den Nebentisch, dicht bei der Musicbox, setzten sich Johann, Jimmy, Barbara, Maria, Daniela und Myra und amüsierten sich prächtig. Sie lachten viel. Jimmy amüsierte sich über die Stimme des Alten hinter ihm und fragte, wovon er redete, aber die anderen winkten ab. Sie tranken Bier und Weinbrand und amüsierten sich prächtig.

 

In der Wohnung starrte Breen gegen die weißen Wände und wandte sich dann den anderen zu: Don’t you think it’s fucking sad, these white walls? Over here in Europe everybody seems to want white walls. I mean, white is no colour. Didn’t anybody ever have the idea of painting them, painting on them, you know, I mean, when you’ve got something to say, when you’re feeling good or bad. These giant white walls, I mean, I couldn’t look at them for a second without painting or writing something on them. Jimmy Breen redete sich in Hitze, elektrisierte die anderen und schaffte es noch einmal, alle auf seine Pläne, seine Ideen, sein Tempo einzuschwören. Barbara und Maria vergaßen, daß sie am nächsten Morgen zu arbeiten hatten, Maria lief in den Bunker, holte Farben und Pinsel, und jeder stellte sich vor die Wand und begann zu malen; da war die riesige weiße Fläche, eine eben entdeckte Leinwand, und der erste rote, blaue, oder schwarze Farbfleck war eine Penetration, und Jimmy Breen rannte von einem zum anderen und rief: Hey, that’s great, what’s this gonna be? I love it! Hey, now you look fine, I mean, it’s been a nice evening, but now you look happy, you know it’s the first time I see you looking really happy. Great. I love it. Go on. I want you all to be happy.

Daniela und Myra malten gemeinsam einen naiven Apfelbaum, Maria schleuderte eine schwarze Figur gegen die Wand, die aussah wie Horst, der halbe Mensch, und Johann und Barbara malten abstrakt, Striche, Flächen, Formen und Figuren, die sich mit spitzen Zacken und Kanten in komplementären Farben berührten und deren Flächen voneinander wegstrebten, und an den entferntesten Punkten wurden die Töne kongruent, und ein breites Tor war entstanden, bunt, verschlossen, glänzend, vergittert. Jimmy Breen setzte sein Signum auf Tür und Herd, an einen Stützpfeiler und auf die Decke, und irgendwann drehte sich ein Schlüssel im Schloß, alle saßen auf den Gartenstühlen und starrten gegen die Tür. Es war Anatol, er ging durch den Raum, gesenkten Kopfes, sagte kurz Hallo in die ihn erwartungsvoll anstarrenden Gesichter und verschwand in seinem Zimmer, ohne etwas bemerkt zu haben. Die anderen brachen in Lachen aus, und dann stand einer nach dem andern auf, verabschiedete sich und ging schlafen. Es war fünf Uhr. Johann und Breen blieben allein in dem großen Raum.

I’m going out spray-painting. I’d like you to come with me, will you, sagte Jimmy plötzlich sehr ernst.

Johann nickte.

I’ll first check Jessica, sagte Jimmy. Er stand auf, und als er wiederkam, verließen sie die Wohnung und gingen die Mariannenstraße hinauf zur Mauer. Sie schwiegen beide, dann begann Breen zu sprechen.

You know, the last couple o’days been very nice.

Johann sah ihn an.

Yes really, you know. Honestly it hasn’t been too easy before, and here in Berlin and with you – it means a lot to me. I mean, when you’re living as tight with somebody as I’ve been with Jen – understand?

Johann nickte. Sie waren an der Mauer. Johann lehnte sich dagegen und betrachtete Breen, der in seiner Schultertasche umständlich nach den Sprühdosen kramte.

You know, I like you, I, well damn it, I mean, it’s not been going all too well with me and Jen, I don’t know whether you noticed it, you probably will have. Er zögerte.

Johann zog die Brauen ein wenig hoch.

You know I didn’t want to have a fucking baby, I mean, I love Jessica and all, but it was an accident, you know, a bloody accident, and so was the marriage. I don’t know, I mean, I fucking like Jen and everything, but I never thought of spending my life with somebody. And besides, you know, she has her pictures, she can paint them wherever she wants, but me, I’m thirty, I didn’t make it yet, and I probably won’t. I mean, I’ll have to fucking work all the time now that I have a family. It interferes with my artwork, it interferes with my bands, it interferes with anything I ever wanted to do. I mean, you understand what I want to say?

Johann beobachtete Breen. Sein langes schmales Gesicht verzog sich, als wolle er weinen. Seine eine Hand kam auf Johann zu und legte sich auf seine Jacke in Brusthöhe.

But that’s not yet all. You know, I don’t know how to explain it, you know, it’s got something to do with you, I mean, you’re so young and cool, I mean when we were in Amsterdam, well, not as late as then, even in the States, I am not that happy with Jen, you know, I mean in bed, making love, you know, I can’t do it anymore, I mean, it’s got nothing to do with Jen, she’s great and all, it’s women, you know, in Amsterdam I felt myself fucking attracted by that musician, but there was nothing to do about it, and now you, I don’t know, you understand, I mean, it’s not only physical, I can’t understand it myself, all the last three weeks I talked to Jen about getting a divorce. The baby could grow up at her parents’, she could do her painting, you know, ’cause, I mean, I can’t stand it anymore, I can’t stand her anymore, and when I first saw you, it became even worse and worse and –

Er umarmte Johann plötzlich und drückte seinen Mund auf Johanns Mund und holte gleichzeitig schluchzend Atem und umklammerte Johann mit seinen Armen.

Johann stieß einen Schrei aus und riß sich los. Er sah den kleinen Amerikaner vor sich stehen mit aufgerissenen Augen, schlotternd in seinem schwarzen Anzug. Hau ab! schrie Johann. Hau ab! Laß mich in Frieden! Hau ab, du widerlicher Scheißsack, faß mich nicht noch mal an, hau ab! Dann schüttelte ihn ein Brechreiz, er drehte sich weg und übergab sich gegen die Mauer. Dann wandte er sich um, und lief zurück, die Mariannenstraße an der Kirche vorbei, am Bethanienhaus vorüber, über den Heinrichplatz in die Oranienstraße, zurück ins Haus, in die Wohnung, in sein Zimmer.

Als er am nächsten Mittag aufwachte, waren die Breens schon fort. Barbaras Zimmer war säuberlich aufgeräumt, und auf der Bettdecke lag ein Umschlag, an Johann adressiert, der ein Gedicht enthielt.

The party’s over

 

A writer drove us to Berlin

Talking with the old woman

In the front seat

We looked for the famous wall

The baby behaved well

There’s Russian barracks

The driver said

 

At night in Berlin there was

The empty room

With twenty people lying there

Staring at us

The cab driver said

Now we are going to little

Istanbul

 

He started to talk about

Punk Rockers when he

Looked back and saw me

Then he kept silent

Maria in the bar told us

To gig at the Blockshock

Drinking beer out of a bottle

 

This morning it was raining

We stood on the stairs

Looking over the wall

An East-Berlin guard faced us

Through his binoculars

Someone had written:

The party is over

 

Jen went to Checkpoint Charlie

The baby ate cookies

And played with Gumby

The houses along the road

Remind me of the Lower

East Side

We’ll spend the winter in Greece

Johann knüllte das Papier zusammen und warf es weg.