IX

Das Telefon klingelte so früh am Morgen, daß Johann nicht wußte, für wen der Anruf sein sollte. Es klingelte, ohne aufzuhören, das Geräusch drang durch Wände und Türen, weckte Johann auf und trieb ihn schließlich aus dem Bett und in den großen Raum, in dem das Neonlicht wieder die ganze Nacht gebrannt hatte und noch jetzt die Morgendüsternis bannte. Johann wartete zwei Klingelzeichen ab, dann nahm er den Hörer. Es war Peter.

Seine Stimme war klar, als sei er schon lange wach, und eindringlich. Er sprach schnell, als habe er keine Zeit zu verlieren.

Es ist da, das Ding. Ich habe nicht geschlafen die Nacht über. Du mußt es abholen.

Wovon redest du? fragte Johann. Er war noch nicht wach.

Du weißt, wovon ich rede. Hol sie ab!

Johann begriff. Du hast sie? Hast du sie?

Ja, sagte Peter gepreßt. Ja, ja, ja. Sie liegt hier vor mir und starrt mich an. Seit gestern abend.

Was zum Teufel ist mit dir los? fragte Johann.

Nichts ist mit mir los, sagte Peter tonlos. Komm, sofort, und hol sie dir ab.

Wie sieht sie aus?

Schwarz.

Schwarz, und weiter?

Schwarz und kalt und glatt.

Warum hast dus so eilig?

Peter schwieg.

Was ist los mit dir?

Nichts, sagte Peter. Ich hab die ganze Nacht kein Auge zugetan. Ich will das Ding hier nicht. Ich will es nicht. Es liegt hier vor mir. Komm und hole es ab.

Johann schwieg und schloß kurz die Augen. Einen Moment lang wurde ihm kalt. Er gähnte. Weißt du, wieviel Uhr es ist? fragte er dann.

Du hattest es eilig genug. Peters Stimme war kaum zu vernehmen.

Und du hast es getan, sagte Johann.

Peter schwieg.

Johann versuchte sich Peters Gesicht vorzustellen. Es mißlang. Die Stimme gehörte zu nichts, was er kannte.

Bitte komm und hol das Ding hier weg, sagte Peter. Schnell. Komm. Es liegt hier direkt neben mir. Auf dem Tisch. Neben einem Weinglas und einem Teller. Bitte, ich möchte, daß es fort ist.

Steht da auch ein Kasten mit Hammer und Glasscherben?

Peter schwieg.

Was ist denn nur mit dir los? fragte Johann.

Nichts. Komm bitte, sagte Peter müde. Dies eine Mal: Bitte.

Johann schwieg einen Moment.

Ich komme, sagte er dann und legte auf.

Er zog sich an, Pullover, Hose, Mantel, Schal und Stiefel, und ging aus der Wohnung. Das Treppenhaus war kalt. Johann zählte 64 Stufen. Im Innenhof war es still, es war Sonntag. Auf dem dünnen Baum und im braunen Gras hinter der Brandmauer zwitscherten die Amseln. Johann trat hinaus auf die leere Oranienstraße. Der Himmel war wolkenlos, die Sonne war noch nicht aufgegangen. Es war kalt, aber nicht mehr so kalt wie in den Wochen zuvor. Die Haustür des Nebenhauses war dunkelbraun. Johann blickte an ihr vorbei hinunter zum Heinrichplatz. Dann drehte er sich um und ging Richtung Kottbusser Tor zur U-Bahn.

Unter den dröhnenden Brücken der Yorckstraße kam er wieder ans Licht und stieg den Kreuzberg hinauf. Noch immer ruhte die Stadt, braunes Gebirge unter einem violetten Morgenhimmel, und Johann stapfte querfeldein hinauf, durch die tiefe morastige braune Erde über die bitteren silbernen und roten Gräser. Ein aromatischer Vorfrühlingswind zauste hoch oben dürre Baumkronen, der knochenfarbene Kies knirschte unter seinen Stiefeln. Mehrmals blieb er stehen und sah zurück auf die Stadt, die unter ihm lag. Oben stand er im Wind im beginnenden Tag und versuchte, seine Gedanken zu sammeln, aber der Wind blies durch ihn hindurch und trug sie fort. Es war kein Mensch zu sehen, und nur das ferne Verkehrsgeräusch vom Mehringdamm erinnerte Johann an das Leben anderer. Er blieb eine Weile dort oben und sah zu, wie der Himmel heller wurde, schaumig grau, und als der Wind ihn durchgekühlt hatte, stieg er an der Ostseite wieder hinab. Er inhalierte den Rauch seiner Zigarette tief, den warmen bitteren Geschmack, der Kies unter seinen Augen knirschte, die Wiesen waren braun und tief, die Baumstämme pechschwarz vor Nässe.

Johann kreuzte den Mehringdamm und ging die Willibald-Alexis-Straße hinab, vorbei an den gepflegten renovierten Gründerzeithäusern. Ein junges Ehepaar mit Hornbrillen, Jeans und Parkas schob heftig diskutierend einen Kinderwagen an ihm vorbei.

Hier also hatten sie seinerzeit das Straßenfest in Tränengas aufgelöst, und die Kinder waren mit ihren Lollis schreiend, mit geschwollenen Augen über das Pflaster gerannt, und in einer der Wohnungen hatte sich Maria bis zum nächsten Morgen im verdunkelten Zimmer versteckt, während sie die Häuser durchsuchten.

Johann kam auf den leicht abschüssigen Chamissoplatz. Der Spielplatz auf der Bauminsel in der Mitte war noch leer, die Häuser waren schön, der Platz war geschlossen wie ein Burghof, auf einem Ast stritten laut keckernd zwei Krähen miteinander, ihr Gezeter hallte zwischen den Mauern. Ein junger Mann mit langen Haaren trat aus einer Haustür. Er trug einen Staubsauger und öffnete die Tür eines Ford. Die Krähen flatterten über die Dächer davon. Johann ging zur U-Bahn.

Vor dem Bahnhof Zoo lehnten fünf Penner an der Steinmauer. Auf dem Sims hinter ihren Schultern stand säuberlich aufgereiht eine ganze Batterie leerer Weinbrandflaschen. Die Männer trugen verfilzte Mäntel und starrten aus kleinen Augen auf den Platz, auf die Kirchenruine, auf das Mauerriff, auf die gestrandeten Bauwerke. Sie starrten und vertraten sich die kalten Füße, gaben eine neue Flasche herum. Die Leute, die aus dem Bahnhof traten, machten weite Bogen um sie. Einer der Männer drehte sich zur Wand und pißte dagegen. Der Urin lief die Mauer hinab und staute sich in dem dunklen Schmutz auf den Steinplatten.

Johann ging die Hardenbergstraße entlang. Am Steinplatz betrat er das Filmbühnencafé. Es war gedrängt voll. Die Morgenvorstellungen der Berlinale waren gerade aus, und die Besucher strömten in die Cafés, um zu frühstücken. Es waren meistens Gruppen junger Leute, extra aus Westdeutschland angereist, bei Freunden und entfernten Bekannten untergebracht, die das Wettbewerbsprogramm verachteten und das Arsenal zu den Vorstellungen flimmernder Experimentalfilme füllten. An Johanns Tisch verzehrten vier norddeutsche Kunststudenten ein umfangreiches englisches Frühstück, Spiegeleier mit kroß gebratenem Speck, Toasts mit Orangenmarmelade, und tranken Cappuccino dazu. Eines der Mädchen hatte einen Zeitplan neben sich liegen, ein anderes einen ganzen Stapel Broschüren, den sie immer wieder durchsah. Sie waren so hektisch, als würden ihre eigenen Filme gezeigt, und sie blickten einander über den Tisch in ihre roten müden Augen, als wären sie Darsteller in neuen, schwarzweißen, schnellgeschnittenen, kühlen Großstadtromanzen.

Die vier an Johanns Tisch diskutierten über den Film, den sie gerade gesehen hatten.

Es war banal, banal, banal, dieses ganze Gequatsche.

Das macht er doch extra. Damit verarscht er die Leute doch.

Den Engel fand ich sympathisch.

Mir ist offengestanden nicht ganz klar, was er eigentlich wollte.

Und diese Blumenbilder! Diese Wiesen!

Es fällt ihm halt nichts mehr ein. Er ist tot seit One plus one.

Ich bitte dich: Sauve qui peut war genial.

Da wurde auch zuviel gequatscht.

Du mußt dich eben auf diese Art Humor einlassen.

Aber seine Schnitte sind noch immer grandios.

Gerade die haben mich enttäuscht. Ich fands amateurhaft.

Hört doch mal zu: Die Geschichte! Die Geschichte, darauf kommts an! Die Jungferngeburt, der Mythos. Die Erde! Das ist es, der Mythos muß wieder her.

Du immer mit deinem Mythos.

Aber ja. Der ironisierte Mythos ist das einzige, was wir noch gegen all die Banalität ausrichten können.

Und trotzdem wird zuviel gequatscht in diesem Film.

Johann zahlte und verließ das Café.

Ein Bus hielt, und er stieg ein. Der Bus fuhr nach Nordwesten, und Johann blickte aus dem Fenster, ohne etwas wahrzunehmen. Er stieg mehrmals um und fuhr schließlich quer durch Reinickendorf auf der Oranienburger Straße nach Norden. An der Endstation des letzten Busses stieg Johann aus. Er war in Lübars. Die Haltestelle befand sich vor einer kleinen Kirche, die auf einem Wiesenoval stand. Die kopfsteingepflasterte Straße umrundete sie und führte wieder zurück. Von hier aus ging es nicht mehr weiter. Es war das Ende der Stadt. Lübars, ein märkisches Dörfchen, bestand nur aus der kleinen Kirche, die verschlossen war, einer Gaststätte, einem Kaufladen, einigen Häusern und Bauernhöfen, hinter denen das Land begann. Den südlichen Horizont bildete hinter Bäumen das schneeweiße Gebirge des Märkischen Viertels.

Johann schlug einen Feldweg ein, der zwischen zwei Häusern hindurch aus dem bebauten Gebiet führte. Die Wiesen und Weiden längs des Wegs waren von tiefer lehmiger Erde, die Gräben und Tümpel des Tegeler Fließes glichen dunklen Spiegeln, an deren Rand silberne Grasbüschel wucherten. Zur Rechten standen zwei Pferde auf einer Koppel, links grasten Kühe hinter einem elektrischen Zaun. Eine alte emaillierte Badewanne war mitten auf der Wiese aufgestellt. Einige Schilfhalme wiegten sich im Wind. Johann ging auf einen Wald zu, aber links und rechts von ihm breiteten sich nur Wiesen aus. Ein Krähenschwarm flog aus dem Geäst eines Baumes am Wegrand auf, und irgendwo schlug ein Häher. Ein Bauer startete seinen Traktor auf einer der Wiesen, und die Räder wühlten sich durch die Grasnarbe in die braune Erde wie Schaufeln.

Johann überquerte eine Holzbrücke und stieg dann über eines der wackligen Gatter. Die Zweige eines Holunderstrauches kratzten im Wind aneinander. Johann folgte einem Graben, an dessen Flanke knorplige Obstbäume wuchsen. Schließlich kreuzte der Bach seinen Weg, zu breit, ihn zu überspringen. Johann setzte sich auf einen festen Grasbüschel und zog einen seiner Stiefel und den Strumpf aus. Er tauchte den Fuß ins Wasser. Es war so kalt, daß er sofort jedes Gefühl verlor. Er massierte den Fuß und setzte ihn auf den Boden. Die Erde war weich und schlammig, und der grünlich-braune stinkende Modder quoll zwischen seinen Zehen hindurch. Johann blickte auf. Am anderen Ufer des Baches schimmerte es weiß wie eine marmorne Tempelruine zwischen Bäumen und Gestrüpp: die Mauer. Vögel zwitscherten warnend in den Zweigen. Johann folgte dem Ufer des Tegeler Fließes am Waldrand entlang, bis er an einen aufgeschütteten Damm gelangte, wo der Weg zu Ende war. Er zwängte sich durch knackend-dürres Brombeergestrüpp und stieg auf den Damm. Vor ihm lag die Mauer, dahinter der gepflügte Erdstreifen, die Straße und dann Brachland. Johann marschierte auf dem plattgetretenen gelben Gras des Dammes zurück. Jenseits der Mauer kam ein Jeep die Straße entlang. Die beiden Soldaten beachteten Johann nicht. Er erreichte einen Feldweg und ging ins Dorf zurück.

In einer Imbißstube kaufte er sich eine Bratwurst und aß sie am Straßenrand. Spaziergänger, Familien und alte Leute tauchten auf. Die trockene, an den Einschnitten verbrannte Wurst, in Ketchup getaucht, der fettig rot auf dem Papptellerchen glänzte, füllte das hohle Gefühl in seinem Magen. Dann wartete er auf ein Auto, das ihn mit zurück in die Stadt nehmen würde. Jetzt am Nachmittag wurde es wieder kühler, und ein eisiger Wind kam auf.

Schließlich reagierte ein alter Hanomag Pritschenwagen auf Johanns Winken, der hinter der Kirche übers Pflaster gerumpelt kam. Auf der Ladefläche lagen gelbe Torfsäcke, Rechen, Schaufel und Spaten. Auf der Tür stand: E. Scharoun. Friedhofsgärtnerei. Der Fahrer beugte sich zur Beifahrerseite und öffnete Johann die Tür.

Na, wo solls hingehen?

In die Stadt, sagte Johann.

Der Fahrer nickte. Ich fahre runter nach Zehlendorf. Ich kann dich am Funkturm rauswerfen.

Ist gut, sagte Johann. Er betrachtete den Fahrer. Er konnte nicht einschätzen, wie alt der Mann sein mochte. Er hatte blondgraue Locken und wasserhelle Augen. Über einem blauen Arbeitsanzug trug er eine grüne Schürze. Unter seinen Fingernägeln war ein breiter schwarzer Rand. Im Fußraum vor Johann lag ein Paar schwarzer Gummistiefel, lehmig braun verkrustet. Der Mann pfiff und blickte auf die Straße. Ab und zu zuckte sein rechtes Auge unkontrolliert. Vor der Windschutzscheibe lag ein Stapel Comic-Hefte. Johann nahm eines. Es waren die Fantastischen Vier. Es war lange her, daß er eines angesehen hatte. Eine ganze Weile hatte er nichts anderes gelesen. Es war seltsam, den Gestalten wiederzubegegnen. Sie sahen auch anders aus. Jack Kirby zeichnete nicht mehr, auch Johnny Romita nicht. Als er das letzte Mal eines der Hefte gelesen hatte, war Sue schwanger, jetzt war Franklin bereits drei oder vier Jahre alt. Er überflog die Dialoge. Bevor es zum Kampf kam, stellten sie sich immer noch einander vor, prahlten unmäßig mit ihren Taten und erzählten, was sie dem Gegner antun würden. Johann erinnerte sich, wie sie die pathetische Sprache im Spiel nachgeahmt hatten und von sich selbst stets nur in der dritten Person sprachen.

Magst du die auch so gern? fragte der Mann neben ihm.

Lange her, sagte Johann.

Ich sammel sie für meinen Sohn, sagte der Mann, aber eigentlich auch für mich. Ich fahr jeden Sonntag am Bahnhof vorbei und kaufe alle, die erschienen sind.

Nur Fantastische Vier?

Ja, das ist das einzige, was meinen Sohn interessiert.

Du bist Gärtner? fragte Johann.

Nee, ich bin nur der Fritz, der Geselle. Ich war heut da draußen in Lübars, um die Einsaat zu begutachten. Rings um die Kirche, weißt du. Es ist aber alles kaputt, erfroren.

Ja, sagte Johann.

Alles kaputt. Und ein Spaten ist mir auch kaputtgegangen. Na ja.

Ich hab sie auch gerne gelesen, die Fantastischen Vier. Jede Woche.

Was hast du da draußen gemacht? fragte Fritz.

Spazierengegangen.

Allein an so nem schönen Tag?

So schön ist der Tag auch nicht.

Keine kleine Freundin, die mit dir geht?

Johann schüttelte den Kopf.

In den Heftchen ist das gut gelöst. Die lieben sich. Sonst würden sie auch draufgehen. Ist dir das mal aufgefallen? Sind meistens gar nicht die Kräfte, ist die Liebe.

Kennst du Spiderman? fragte Johann.

Nein, was ist mit dem?

Auch so einer. Aber der wird von niemandem geliebt und überlebt trotzdem. Der hat mit niemandem was zu tun.

Ja, sagte Fritz. Vielleicht ist das sogar einfacher. Viele Leute denken ja, binde dich nicht ans Leben und die Menschen, sonst läßt du den Tod ein in dein Haus.

Johann zündete sich eine Zigarette an. Und was hast du da draußen gemacht heute?

Na ja, eben die Saat nachgesehen und den Boden gelockert und Torf gestreut, und nächstes Wochenende versuch ichs noch mal mit Gras. Ist nur schwer, weil alle Welt rüberlatscht. Machen alles kaputt. Kümmern sich nicht drum.

Johann zog an seiner Zigarette.

Spiderman solltest du mal versuchen. Den hatte ich noch lieber als die Fantastischen Vier. Ein Einzelgänger.

Ja, kann mirs schon vorstellen, sagte Fritz, aber ich weiß nicht. Ich mag die Gefühle in den Heftchen, das ist es nämlich, was sie überleben läßt, die Gefühle, nicht die Stärke, weißt du, aber vielleicht erträgt man die Vergänglichkeit leichter, wenn man sich nicht allzu leidenschaftlich einläßt auf das, was man ja doch nicht halten kann. Ich habe geheult vorhin, als ich sah, daß die Aussaat erfroren war, verrückt, was, du denkst auch, ich bin nicht ganz richtig hier oben, aber so ists nun mal, ich häng an dem Krempel, als wärns meine Gören.

Er sah Johann aus seinen wässrigen blauen Augen an, lächelte ihm zu, und sein rechtes Auge zuckte heftig. Alles geht so kaputt. Selbst der Spaten. Du kannst weggehen, klar, aber ich frag dich, wo bleibt da die Liebe?

Johann blickte zu Boden. Da waren die schwarzen Stiefel, erdverkrustet.

Das Heftchen da in deiner Hand, da kommt selbst der Teufel drin vor. Selbstredend schaffen sie ihn, aber weißt du, wer? Der kleine Sohn, der kleine Sohn, als seine Eltern hilflos sind. Er wies aus dem Fenster auf die kahlen Alleebäume. Das ist schön. Ich mag das Leben, auch wenn alles kaputtgeht. Oder gerade deswegen. Aber das muß man verstehen, verstehst du? Er sah Johann lächelnd an, seine Hände mit den schwarzen Nägeln ruhten auf dem großen flachen Lenkrad, sein Auge zuckte.

Ja, sagte Johann.

Bevor man nicht verstanden hat, daß es nicht hält, kann man auch nicht leben. Ich als Gärtner hab das gelernt. Das erfrorene Gras, der zertrampelte Samen. Da mußte ich heulen. Bin ich verrückt?

Ich weiß nicht. Johann blickte nach vorn auf die Straße. Der Gärtner kicherte.

Man muß das akzeptieren und verstehen. Man muß es sogar lieben. Auch wenn man drüber weint. Es vergeht alles, und nichts kann man halten. Wenn die Fantastischen Vier sich nicht so liebhätten, wären sie schon niedergemacht von all den Gegnern. Es sind nämlich gar nicht ihre Kräfte, weißt du, man muß sich halt drauf einlassen, alles geht kaputt. So ist das.

Ich muß es sehen, sagte Johann. Ich kann nichts glauben oder verstehen, was ich nicht sehe.

Der Meister wird wütend sein, wegen der Saat und dem Spaten, sagte Fritz.

Am ICC verließ der Gärtner die Stadtautobahn und ließ Johann aussteigen. Es war schon dunkel. Fritz winkte ihm zu und fuhr weiter. Johann sah sich um. Scharen von Menschen pilgerten an ihm vorbei, johlten, grölten, trillerten auf Pfeifen, schnarrten mit Rasseln, die schwarzweiße Prozession war auf dem Weg zur Eissporthalle, wo die Lokalmatadore ein Eishockeyspiel gegen den SC Riessersee zu bestreiten hatten. Fanchöre fluteten durch die Menge. Johann bahnte sich seinen Weg durch die Masse in entgegengesetzter Richtung. Er hatte es jetzt eilig, nach Hause zu kommen.

Leichte Nebel hingen um die Lichter der Straßenlaternen. Johann hastete zur nächsten U-Bahn. Die Waggons waren voll, und sie hielten endlos lange an allen Stationen, und Johann sah ständig auf die Uhr. Die Zeit verging schnell plötzlich. Es dauerte eine Ewigkeit, bis der Zug am Gleisdreieck hinauf in die schwarze Nacht schoß. Am Halleschen Tor hielt er unerklärlich lange. Das Kottbusser Tor war leer, und Johann beschleunigte seinen Schritt die Adalbertstraße hinauf. Vor der Roten Rose hockte ein Besoffener. Ein Punk führte seinen Schäferhund spazieren. Johann lief an der Blindenanstalt vorbei und beruhigte seinen Schritt erst vor dem Tor zur Einfahrt der Tischlerei. Sein Herz klopfte, und er mußte husten. Er öffnete die braune Tür des Nebenhauses und ging durch das Treppenhaus. Das Holz der Treppe knarrte. Johann machte Licht. Peters Tür war nicht verschlossen. Johann trat in die Wohnung und machte Licht.

Das ganze Zimmer war voll blutiger Daunen. Johann hielt sich an der Türzarge fest. Auf dem Bett hockte mit dem Rücken zur Wand zusammengesunken Peter. Der Kopf sah seltsam aus. Die weiße Wand dahinter war rings um den Kopf hellrot, und rote Spritzer glänzten auch im weiteren Umkreis, wie zerplatzte Farbbeutel. Johann stieß sich von der Wand ab und bewegte sich auf das Bett zu. Johann bemerkte, weswegen der Kopf so seltsam aussah. Unter dem blutverkrusteten Haarwust fehlte der Hinterkopf, und Knochensplitter lagen auf dem Bett neben dem Körper, und eine graue Masse klebte mit dem Blut an der Wand und auf dem Laken.

Dieser kaputte Schädel, das war ja doch nicht Peter, das mußte sich doch wieder zusammensetzen lassen, Johann wollte etwas sagen, aber sein Mund und seine Kehle waren zu trocken, um Laute zu formen. Peters Gesicht ruhte auf dem zerrissenen Kissen, das er sich vorgehalten hatte auf seinen Schenkeln. Die Explosion hatte die Daunen im ganzen Zimmer verstreut. Es war ganz still in dem Zimmer, auch von draußen drang kein Laut herein, und Peter lag da ganz ruhig. Johann berührte mit zwei Fingern die Stirn und hob den Kopf an. Die Haut war glatt und kalt. Das Haar dicht unter Johanns Gesicht duftete. Die Augen standen offen, zeigten aber nur das Weiße. Das Laken war schwarz und steif vor Blut. Der Mund war schwarz verbrannt. Johann zog seine Finger zurück, und der Kopf sackte wieder nach vorn.

Es war ganz still in dem Zimmer, und Peter bewegte sich nicht, noch sagte er etwas. Seine rechte Hand ruhte auf einer Waffe. Johann nahm die Waffe in die Hand. Es war ein schwerer schwarzer Trommelrevolver mit hellem Griff. Der Abzugsbügel war von einem feinen dünnen Ring umrahmt. Die Waffe war sehr schwer und groß. Johann wog sie in der Hand und blickte im Zimmer umher. Es war sehr still, kein Laut war zu hören, und Peter lag da und bewegte sich nicht und sagte nichts. Nicht einmal draußen war irgendein Geräusch. Nur in Johanns Ohren war das Sausen von Blut, das Klopfen seines Herzens. Überall lagen die rotgefärbten Flaumfedern.

Johann räusperte sich zweimal. Peter, sagte er in die echolose Stille hinein. Er setzte sich auf einen Stuhl. Er hielt die Waffe noch immer in der Hand. Die weiße Wand hinter Peter war rot, und um die rote Fläche waren rote Spritzer wie von Farbbeutelwürfen. Peter saß auf dem Bett. Seine Fußsohlen waren gelb. Er bewegte sich überhaupt nicht. Es war völlig still. Johann blickte auf ihn. Er rührte sich nicht. Es war kein Laut zu hören. Johann starrte auf die Leiche.

Er ging zum Telefon und wählte. Es klingelte. Es klingelte noch einmal. Dann meldete sich Barbara.

Kommst du bitte in Peters Wohnung, sagte Johann.

Barbara sagte ja und legte auf.

Johann saß auf einem Stuhl und hielt die Waffe auf den Knien, als Barbara eintrat.

Barbara war erst am Vorabend aus Stuttgart zurückgekommen und noch verwirrt, verängstigt, verfolgt von den Bildern, die sie während des Prozesses gesehen hatte. Sie ging zum Bett, betrachtete die Leiche und kam dann auf Johann zu, der sie ansah.

Warum?

Johann zuckte die Schultern.

Warum deinen Freund?

Johann sah sie an, erstaunt, aber er sagte nichts.

Warum deinen Freund, Johann?

Johann schwieg.

Willst du die Waffe jetzt weglegen?

Johann legte die Pistole auf den Boden.

Warum rufst du mich erst jetzt?

Johann setzte zum Sprechen an, gab es aber gleich wieder auf.

Barbara kniete vor ihm nieder und nahm sein Gesicht in ihre Hände, die kalt waren.

Um Gottes willen, dir ist klar, daß ich die Bullen rufen muß?

Johann lächelte und nickte.

Ich frage dich nicht, warum dus getan hast. Barbara schüttelte den Kopf. Johann.

Wieder lächelte er sie erstaunt an.

Barbara stand auf, biß sich in die Hand und kniete wieder vor ihm nieder.

Mußte das sein? Mußte – sie hörte auf zu sprechen und dachte kurz nach.

Warum zum Teufel hast du mich gerufen und bist nicht einfach verschwunden? Warum hast du mich gerufen? Warum bist du nicht abgehauen? Warum bleibst du hier hocken? Warum verschwindest du nicht? Warum bist du nicht schon viel früher weg?

Johann sah sie erstaunt an.

Barbara ohrfeigte ihn und begann zu weinen.

Dann sagte sie: Johann, ich muß die Bullen rufen.

Johann nickte.

Sie stand auf. Johann saß auf dem Stuhl. Neben seiner baumelnden Hand lag die Pistole auf dem Boden. Barbara rief die Polizei an.

Zwanzig Minuten später kamen sechs Männer. Drei Polizisten, ein Arzt und zwei Helfer. Der Arzt ging sofort zum Bett, der Polizist in Zivil blieb bei Barbara und Johann stehen.

Ihr Gesicht seh ich auch zu oft für meinen Geschmack, sagte der Polizist zu Barbara.

Barbara sagte nichts.

Können Sie sich ausweisen? fragte der Polizist Johann.

Johann sah auf und schüttelte den Kopf. Der Polizist stellte Fragen. Die beiden Helfer verschwanden und kamen mit einer Bahre zurück, auf die sie die Leiche schnallten. Sie hoben an und trugen die Bahre hinaus. Johann sprang auf, aber der Polizist drückte seine Schultern wieder auf den Stuhl zurück. Die uniformierten Beamten steckten die Waffe in eine Plastiktüte.

Die Polizisten gingen in den Flur und redeten leise.

Das ist eins der faschistischsten Arschlöcher, die ich kenne, flüsterte Barbara. Ich weiß nicht, warum sie den schicken mußten.

Die drei kamen zurück. Johann mußte aufstehen. Dann wurden ihm Handschellen angelegt. Barbara gab ihre Personalien einem der uniformierten Beamten an und wurde dann nach Hause geschickt. Sie sah Johann im Hinausgehen an, der blickte gegen die rotverschmierte Wand.

Johann, sagte sie.

Johann drehte sich um.

Barbara sah ihn an. Johann nickte ihr zu. Barbara ging. Johann warf noch einen Blick zurück in die Wohnung. Das Weiß der Wand glänzte, dort wo es nicht blutbeschmiert war, kühl und sauber.