I

Johann Ritter kam nach Berlin, um binnen eines Jahres Geld, eine große Altbauwohnung und einen Sportwagen zu besitzen. Er meinte, daß es nur zwei Wege dorthin gab. Man konnte Drogen verkaufen oder sich selbst. Er war zu beidem bereit. Zunächst wollte er Robert besuchen, den er von zu Hause kannte. Robert hatte einen Sommer lang in der Autofabrik gearbeitet, um bei den Arbeitern zu agitieren. Abends trainierte er Aikido und diskutierte danach mit Freunden, die auf einem Hof einige Kilometer vor der Stadt wohnten. Dort war Johann ihm begegnet. Robert hatte von Berlin erzählt, wo er eine radikale Zeitschrift herausgab und einer der Köpfe der Besetzerbewegung war. Er lebte irgendwo in Berlin-Kreuzberg, und Johann dachte, daß Robert sich in den Milieus, in die er wollte, auskennen müsse.

Robert war ihm fremd gewesen mit all dem Engagement, von dem er sprach, mit all den großen Worten, mit denen er etwas bewegen wollte, und mit seinem unbedingten Glauben, daß sich in Berlin über das Schreiben und den Häuserkampf etwas bewegen ließe. Johann hatte immer ein wenig abseits gesessen und nur mit einem Ohr zugehört.

Er hatte nicht verstanden, wie jemand versuchen konnte, die Arbeiter in der Fabrik zu agitieren. Andererseits schienen die Tage Roberts ausgefüllt zu sein, und es machte ihm offenbar nichts aus, seinen Urlaub so zu verschwenden, falls es sein Urlaub war. Seine Augen glommen, aber vielleicht glotzten sie auch nur, Johann war mißtrauisch. Roberts Erzählungen von Berlin klangen anders als das, was sonst darüber zu lesen oder zu hören war. Jetzt, da Johann allein war, jetzt nachdem Greta fort war, dachte er, als er sich an Robert erinnerte, daß das Glimmen in seinen Augen und das ganze Agitieren, Arbeiten, Träumen und Kämpfen den ganzen Tag vielleicht damit zu tun hatten, daß Robert niemand fürs Bett besaß. Aber jetzt, da Greta fort war, mußte er nicht mehr hierbleiben, er konnte gar nicht mehr hierbleiben. Er hatte nachgedacht, wohin er gehen sollte, als ihm Berlin und Robert wieder einfielen.

Er erinnerte sich seines schweinsköpfigen Vaters. Er war ins Badezimmer getreten, der Vater hatte vergessen, es zu verschließen, und stand nackt vor ihm. Er hatte ihn lange nicht nackt gesehen. Er war ein alter Mann geworden. Er war immer dick gewesen, aber früher fest, wenn man dagegendrückte. Jetzt sah Johann einen runzligen Altmännerarsch, rot vom langen Sitzen auf der Klobrille, den Bauch hielten keine Muskeln mehr über den Leisten, die Schultern und Oberarme waren abgesackt und mager, die Schenkel dünn, die Waden blau vor Krampfadern. Er erschrak, als er Johann sah, und bedeckte seine Blöße mit der Hand. Johann ging wieder hinaus. Er hatte nie Angst vor seinem Vater gehabt, nur Mitleid. Dann wich das Mitleid dem Ekel, dann der Ekel der Gleichgültigkeit. Als er auszog, um bei Greta zu wohnen, gab es keinen Kampf.

Es war möglich, an Greta zu denken, an das halbe Jahr mit ihr. Woran man nicht denken konnte, weil es peinlich war, war das gelbe Büchlein und wie sie einander genannt hatten. Aber an ihre Wohnung konnte er denken, an ihre kleine Tochter Isabel und daß er sich samstags morgens dort nicht blicken lassen durfte, wenn Isabel fürs Wochenende von ihrem Vater geholt wurde. Ans Kino konnte er denken und an die Fahrten, die sie, als es warm war, sonntags mittags in den Schönbuch unternommen hatten. Es schien jetzt, als seien all die erotischen Einfälle dieser Art ihre Initiative gewesen, und er dachte an ihr Piratenlächeln voller Vorfreude. Er konnte auch an ihre Hände denken, die groß waren, ihre Finger waren länger als seine, und ihre Hände waren warm und trocken. Manchmal spät im Bett, wenn er auf dem Bauch lag, kurz vor dem Einschlafen, blickte er hoch – sie sah ihn an und lächelte auf ihn herab. Auf ihrem Hals verliefen zwei Längsfalten, die ihn erschreckten.

Dann hatte sie ihm einmal nicht geöffnet, und er schloß auf, und sie saß im Arbeitszimmer an ihrem Tisch und drehte sich um, als sie seine Schritte hörte, und sah ihn an, und es war vorbei, wußte er in diesem Moment. Ihr Mann hatte eine Klage eingereicht, um seine Tochter zu bekommen, die bei der Mutter mit ihrem Lebenswandel nicht mehr gut aufgehoben sei. Greta bat Johann zu verstehen, und er verstand.

Während der Zeit verlor er seine Bekannten ein wenig aus den Augen, die alle begannen zu arbeiten oder zu studieren. Was ihm wirklich fehlte, war Geld, um sich die Dinge zu kaufen, aber die Erinnerung an Robert und den Kampf in Berlin hielt sich in ihm, und er stellte sich vor, in einem der besetzten Häuser auf einer Matratze im Staub unterzugehen, in einem grauen Staubmeer, sich um nichts mehr kümmern zu müssen, bis endlich klar würde, daß er ohnehin nichts mit alledem zu tun hatte, daß er völlig allein war und Menschen, sofern sie auftauchten, Gebilde seiner Phantasie waren und nichts weiter. Was er brauchte, war Weite, denn in der engen Stadt, in den Gassen seiner kurzen Vergangenheit zwischen der Wohnung seiner Eltern und der von Greta, war keine Atemluft mehr für ihn übrig.

Sein Körper war kalt, und Johann betrachtete oft das weiße Fleisch und dachte es sich durchlöchert, verletzt, vernachlässigt. Sein Körper war nicht sein Feind, aber er war genauso weit entfernt wie alles andere, ein Objekt, das man so oder so behandeln konnte, um zu sehen, wie es darauf reagierte.

Johann gab sich ein Jahr lang Zeit, um das Geld zu beschaffen, das er wollte. Er würde versuchen, bei Robert zu übernachten und zu beobachten, wie ein Mensch lebte, der den ganzen Tag einem Ideal folgte. Er konnte sich Robert kaum mehr vorstellen, glaubte aber sich zu erinnern, er sei sympathisch gewesen.

 

Johann kam mittags mit dem Zug in Berlin an. Zigarettenschmuggler folgten den Reisenden die Treppe hinab in das uringelbe Licht der Bahnhofshalle. Johann mußte stehenbleiben, um den Strom Kofferbepackter vorbeizulassen, der hinauf zum Abreisebahnsteig flutete. Draußen strudelte der Verkehr im Häuserriff. Die Menschen bildeten seltsame Muster, wie sie um die Ampeln zusammengesogen und wieder in alle Richtungen ausgespuckt wurden. Der blaue Stahl des Himmels schnitt weite Zacken in die Häuserfront, die gestern eingestürzt war und deren Bruchstücke man heute in aller Eile wieder kreuz und quer aufgestellt hatte, um den Schein zu wahren.

Am Ausgang eines Kaufhauses rotierte ein Drehgestell mit Sonnenbrillen. Johann zog eine schwarzverspiegelte heraus und setzte sie auf. Er sah nichts mehr. Er ging weiter. Er hörte Musik: New York, New York. Er zog die Brille ab und sah drei Türkenjungen, die vor dem Schaufenster breakten. Der Lärm schlug von der Glaswand zurück. Sie trugen Baseballmützen, die ihnen zu groß waren, und hatten dunklen Flaum auf der Oberlippe. Gegenüber verkaufte ein alter Mann in weißer Schürze Laugenbrezeln aus einem Korb. Er fluchte über den Lärm. Johann kaufte dem Alten eine trockene Brezel ab und setzte einem der Jungen die Sonnenbrille unter die Kappe.

Die U-Bahn rumpelte ans Tageslicht und segelte über graue Wogen aus Stein, Schrott, rostigem Blech und Moos. Gleisdreieck. Das ist eine Stadt, dachte Johann. Er blickte aus dem Fenster durch den schwachen Schemen seines Spiegelbildes hindurch. Sie hörte nirgendwo auf.

Die Kreuzung Kottbusser Tor war von hohen Zinnen ummauert, deren Schießscharten nach innen zeigten. Eine Festung, die sich selbst belagerte. Der Platz war voller Menschen, und die Treppen vom U-Bahnschacht stiegen noch mehr empor. Orangefarben leuchtende Haarkämme waren Helmbüsche, Stahlketten klirrten auf Rüstungen – Troja wartete auf die Ankunft frischer Helden, aber da die Burg sich selbst bekämpfte, mußten es Selbstmörder oder eine Versammlung von Narren sein, die die genieteten Eisentreppen von der Linie Eins herabstiegen. Johann sah Polizeimannschaftswagen rund um den Platz, überall hingen Bettlaken, die als Transparente dienten, auf die Mauern waren Aufrufe gesprüht. Gruppen mischten und trennten sich, wuchsen an und fielen auseinander. Rote Haarkämme leuchteten wie Flammen oder Fahnen aus der Menge. Grauhaarige mit Bärten und Sandalen diskutierten. Glas zerklirrte, Bierbüchsen schepperten über den Boden. Das Stimmengeraune schwoll an, wogte über die Köpfe und verebbte. Vor den Mannschaftswagen drängten sich behelmte Polizisten mit Plexiglasschildern. Uniformierte patrouillierten in Dreiergruppen durch die Menge und verlangten Papiere. Zivilpolizisten in Leder spähten mit starren Schützenaugen Verdächtiges aus. Aus einem Lautsprecher krähte eine Stimme, die der Wind zwischen den Mauern zerhackte. Es war warm geworden, inmitten der Menge war es heiß. Die Mannschaftswagen standen an allen Ausgängen. Über den Häusern kreiste der Hubschrauber, der ihren Einsatz dirigierte. Passanten übergaben den Polizisten ihre Einkaufstüten zur Kontrolle. Die Luft spannte sich über der Menge, die unruhig wurde, das Kriegsgefühl der Erwartung stieg an, der Sirenenton im Schweigen wurde schrill, der Raum zwischen den Demonstranten verdichtete sich.

Johann streifte über den Platz an den einzelnen Gruppen vorbei, als er einen Mann entdeckte, der auf Brust und Rücken ein Schild mit der Aufschrift: Befreiung GmbH trug. Johann ging auf ihn zu und fragte, worum das Ganze gehe.

Sie haben das Kuckuck geräumt, heute zwischen Nacht und Morgengrauen.

Johann erinnerte sich. Robert hatte vom Kuckuck gesprochen. Er besaß ein Zweitbett dort, um stets direkt an der Bewegung dran zu sein, hatte er gesagt. Es mußte etwas Besonderes gewesen sein.

Und du, was suchst du hier? fragte der andere.

Ich ... ich bin hier ... weil es interessant ist. Ich möchte mir gern die Demonstration ansehen.

Der andere lächelte. Was sagt man denn im Westen zu der ganzen Geschichte? Daß sie die letzten großen Besetzerzentren räumen.

Johann zuckte die Achseln. Ich weiß es nicht.

Hast du mitbekommen, wie das hier abläuft?

Kaum, sagte Johann. Aber es wird ja wohl eine Schlacht werden, nehme ich an.

Ja, was glaubst du denn, warum hier alle so gut gelaunt sind? Nichts davon. Gar nichts wird passieren.

Johann dachte an Robert und an die Geschichten, die er gehört hatte von den Kämpfen, den Attacken, den Rückzügen, den Triumphen, den Niederlagen, den Desastern, den Verlusten, den Neuanfängen, dem Spaß am Kampf. Er erinnerte sich, daß Robert erzählt hatte, wie er mit der Mannschaft des Kuckuck sonntags mittags in einem Park Fußball spielte. Jetzt hatte man ihnen das letzte Haus geschlossen, das letzte Symbol genommen. Und das alles sollte keinen Krieg wert sein?

Gar nichts wird geschehen, sagte der Mann von der Befreiung GmbH. Wenn heute nacht geräumt wurde, ist doch klar, daß heute demonstriert wird. Man hat sich darauf einrichten können. In so einem Fall arbeiten selbst Beamte nachts, im Gegensatz zu uns. Es wird keine Überraschungen geben. Für uns hier ist es schon ausreichend, überhaupt zu demonstrieren. Wir sind immer drei Schritte hinterher. Wir schreien immer erst, wenn sicher ist, daß alles schon versteinert ist. Man kennt uns mittlerweile und läßt uns den Raum für ein wenig Anarchie. Diese Demonstration hier hätte gestern stattfinden müssen, nein, was sage ich, vor zwei, drei Jahren schon, aber das Problem ist eben, wir sind alle Mittelklasse, ja, ja, wir riechen nach Einbauküche, auch wenn wir uns noch immer gern mit Straße, Leder, Kampf, Solidarität und Rebellion parfümieren. Siehst du, ich hab hier meinen kleinen Betrieb aufgemacht. Ich helfe jedem, der sich befreien will, mit guten Vorsätzen. Es besteht ja ein echter Bedarf, und ich hab mir ein ordentliches Geschäft ausgerechnet, aber irgendwas scheint an meiner Kalkulation nicht zu stimmen. Immerhin, wenn ich uns hier nicht sonderlich ernst nehme, ist das ein Zeichen von tiefer Zuneigung, versteh mich nicht falsch. Die anderen stehn gar nicht auf meiner Liste, da ist’s schon hoffnungslos.

Ich glaube, es geht los. Nun, wir werden ja sehen, was passiert.

Die Kolonne setzte sich in Bewegung. Seitenstraßen waren von Mannschaftswagen abgesperrt. Die Menschen füllten bunt und laut die Schlucht zwischen den alten Backsteinmauern. Eingekesselt und umringt von bewaffneter, behelmter Polizei, vor dem absurden Geheimnis metallener Gewehrläufe, verwandelten sie sich, sichernd, die Augen überall, in eine steinzeitliche Jagdgemeinschaft, wurden, im Bewußtsein der latenten Gefahr, zu einem einzigen Körper. Johann, der mit seinem Begleiter von der Befreiung GmbH etwas nebenher und vorneweg ging, blickte auf das farbige Heer, das vorwärts marschierte. Die Häuserfront riß ab, Nachkriegsmietshäuser standen auf Rasenstücken in der ausgebombten planierten Weite, und plötzlich erschien rechts zwischen zwei Blöcken, eine vergessene Kulisse, ein Stück graue Mauer. Die Nachmittagssonne löste den milchigen Film auf, der den Himmel verschmierte, und die Gebäude warfen lange Schatten, die den Asphalt schraffierten und das Brachland in geometrische Muster teilten. Johann gefiel der Anblick und der Geruch von Sommer in dem farbigen marschierenden Zug, und er stieß seinen Begleiter an. Der nickte und machte eine Geste des Fotografierens. Die Vorhut der Prozession bildete ein Mannschaftswagen der Polizei, der langsam rollte. Die Hecktür war offen, und auf der Ladefläche hockten drei Polizisten, die die Spitze des Zuges im Auge behielten. Diese bestand aus einer Gruppe Schwarzgekleideter, die tänzelnd und aktionsgierig wie angeleinte Jagdhunde vor dem Lautsprecherwagen vorwärtsdrängten und aus gehörigem Abstand die Polizisten mit Gesten und Zurufen provozierten, ohne wirklich auf eine Auseinandersetzung aus zu sein. Mit all ihrem Vorwärtsdrang konnten sie doch nicht verhindern, daß das Tempo der Demonstration von dem Wagen bestimmt wurde, aus dessen Megaphon eine näselnde Stimme zu Mut und Entschlossenheit, dann wieder zu Vernunft und Zurückhaltung aufrief. Dahinter folgte der Rest des Zuges, in kompakten Reihen zuerst, dann in lockerer Formation und gegen Schluß, wohin nur noch Fetzen der Lautsprecherparolen drangen, ein wenig disziplinlos, so daß man nicht recht sagen konnte, wo die Demonstration aufhörte und wo das normale Straßenleben begann.

Johann und sein Begleiter hielten sich am Rand, auf dem Gehweg, auf der Höhe des Lautsprecherwagens, wo sie einen guten Überblick über alles genossen.

Entlang dem Gitterzaun, der das Verlagsgebäude schützte, verstummte der Klang der Schritte unter schrillen Pfiffen. Die Demonstranten ballten die Fäuste und spuckten durch die Gitter, und dahinter und auf der Terrasse und an den geöffneten Fenstern standen Menschen mit versteinerten Gesichtern, fotografierten, blickten durch Ferngläser und filmten. Zum ersten Mal war wirklich Haß zu spüren, lag Kampfwille in der Luft, wild und emotionell auf der einen, blasiert und verächtlich auf der anderen Seite, zum ersten Mal rechtfertigte ein Gefühl den ganzen Aufwand.

Johanns Begleiter blieb stehen und schrie, mit der Hand auf den Komplex hinter sich deutend: Das sind eure Feinde! Lautstark antwortete es ihm, und ein Hagel zustimmender Verwünschungen prasselte auf die Verlagsfront. Der Befreier drehte sich um und rief durch die Gitter die Nächststehenden an, wobei er mit einer Hand über der Schulter wilde Bewegungen ausführte und die andere wie für eine vertrauliche Mitteilung um den Mund schloß: Das sind eure Feinde! Hinter dem Gitter lächelte man wissend, aber plötzlich umstanden drei Schwarzgekleidete Johann und den anderen, und bevor der reagieren konnte, hatte man ihm mit dem Wort: Scheißspitzel! die Lippen blutig geschlagen. Der Befreier stand da mit großen Augen und befühlte mit einer Hand seinen Mund. Die anderen wandten sich an Johann: Und du. Was suchst du hier? Verpiß dich! Johann hatte das Gefühl, nicht hierherzugehören, aber er wollte sich auch die Demonstration nicht verbieten lassen. Er ließ sich etwas zurückfallen und mischte sich unter die Menge. Dabei verlor er den Befreier aus den Augen, der kopfschüttelnd am Zaun stehenblieb und seine blutigen Finger betrachtete. Jemand hinter dem Gitter warf ihm ein Taschentuch zu, aber er beachtete es nicht.

Jetzt lief die graue Mauer deutlich sichtbar mit, und auf der anderen Straßenseite ragten Hochhäuser aus dem Brachland hinter den Parkplätzen. Der Lärm des Hubschraubers brach sich in der schwarzen Backsteinschlucht der Kreuzung Friedrichstraße. Beide Auswege waren mit quergestellten Wagen verbarrikadiert, die Demonstration war planvoll kanalisiert. Die Menschen wurden gegeneinander gepreßt und schoben sich Wange an Wange an der in der Sonne blendenden Plexiglaswand vorbei. Dann gab es einen Halt. Johann war an den Rand gedrängt worden. Rufe ertönten, die Fronten gerieten in Bewegung, und die Funken begannen überzuspringen. Johann suchte in den Helmschatten nach Gesichtern. Von hinten wurde gedrückt, und er mußte sich an einem Schild festhalten. Als er die glatte Härte berührte, fühlte er sich sehr nackt, und es war ihm, als müßten jetzt die Schläge auf ihn niederprasseln. Das metallene Rohr der Gaskanone auf dem Wagen zeichnete sich scharf gegen den Himmel ab. Als das Vakuum zu zerplatzen drohte, im Moment der Entladung, da Johann aus den Augenwinkeln die wischenden Formen sausender Knüppel wahrzunehmen glaubte, ertönte ein Ruf, die Kolonne setzte sich wieder in Bewegung, die gestaute Luft entwich langsam im flachen Ausatmen Hunderter von Kehlen.

Am Landsend folgte die Straße in einer weiten Kurve dem Verlauf der Mauer. Auf einmal war da ein Schrei, und Johann wußte, jetzt begann die Schlacht.

Die schwarzgekleidete Vorhut jagte johlend zum Sturmangriff vorwärts, kürzte den Weg ab über ein planiertes Trümmergrundstück und überholte so den vorfahrenden Mannschaftswagen, der brüllend Gas gab und die Kurve mit quietschenden Reifen nahm. Also existierte doch ein Plan, gab man sich nicht damit zufrieden, dem durch die Polizei kanalisierten vorschriftsmäßigen Weg zu folgen! Der ganze Zug riß auf, rannte übers Gras, die Polizisten rannten mit, alles versank in Johlen, Pfeifen und Schreien; Johann blickte sich um und sah die Menschen auf sich zukommen, er wurde ein paarmal angeschrien, weil er allen im Weg war. Ein Polizist rannte mit zusammengebissenen Zähnen inmitten der Menge an ihm vorbei, der Helm wackelte auf seinem Kopf, der Schild klapperte, er wurde überholt, sein rotes Gesicht im Massenspurt eines Volkslaufs.

Jedermann, Polizisten wie Demonstranten, ließ sich anstecken von dem, was wie eine unerhörte Veränderung der Lage wirkte, die Beamten, die es besser wissen mußten, brüllten nach Verstärkung, die Demonstranten heulten Triumph, obwohl gar nichts geschehen war: Der Hubschrauber, der verwirrt über dem Gewimmel kreiste, konnte sehen, daß fünfzig der Demonstranten vor dem Polizeiwagen auf die letzte Gerade kamen, die zu dem geräumten Block führte. Aber auch hier waren alle Seitenwege abgesperrt, das geräumte Kuckuck war von mehreren Hundertschaften gesichert und umstellt, die die außer Atem Ankommenden durch einen schmalen Korridor auf den Platz vor dem Haus schleusten. Kein Schuß war gefallen, keine Auseinandersetzung nötig.

Johann rannte inmitten der Menge an dem Schilderwall vorbei, der die Seiten sicherte, hinter der entfesselten Vorhut und dem verfolgenden Polizeiwagen her. Wo laufe ich denn eigentlich hin? fragte er sich. Er blieb unschlüssig stehen, da rempelte ihn eine dicke Frau mit roten Wangen an, die in ihrer Verblendung, das Chaos im Pferch für den entscheidenden Ausbruch zu halten, nicht auf den Weg sah. Sie blickte Johann böse an und lief weiter. Die ganze gespannte Würde der Demonstration zerfiel im Gewühl rennender Kinder, rallyefahrender Polizeiwagen und in Indianergeheul. Ein Junge und ein Mädchen in zerrissenem Schwarz hatten sich beim Laufen an den Händen gefaßt, sie stolperte, er bückte sich zu ihr, half ihr auf, strich ihr zerzaustes Haar zurecht, deckte ihren Körper mit seinem, warf einen Stein nach einem vorbeiklappernden Polizisten, sie sah ihn stolz an, dann verschwanden sie wieder Arm in Arm in der ausgelassenen Masse.

Johann trat zur Seite, der größte Teil der Leute hatte ihn passiert. Er erkannte, daß die ganze Rennerei nichts geändert hatte, der kleine Ausbruch half beiden Seiten ein wenig, die Verwirrung echter Auseinandersetzung vorzutäuschen, die schon lange nicht mehr stattfand.

Johann sah sich unter den Demonstranten um. Wo waren die Heerführer, die einen Flankenangriff gewagt, eine andere Route erzwungen hätten, die ausgebrochen wären? Wo war der Stolz, nicht an einer Kundgebung teilzunehmen, die im Einvernehmen mit der Polizei festgelegt worden war? Wogegen stand eine solche Demonstration überhaupt noch? Nein, das war kein Krieg, das war Indianerspiel unter der Leitung geübter Animateure, das war Bewegungstherapie für Stadtkinder, nichts geschah, gar nichts, und Johann winkte kopfschüttelnd ab. Laßt gut sein.

Außer Atem und glücklich fand sich vor dem Gebäude alles wieder zusammen. Auch die Polizei hatte sich beruhigt und den Platz in weiträumiger Ordnung umstellt. Johann stand vor dem ehemaligen Kuckuck. Der Häuserblock, der schwarz gegen den violetten Himmel ragte, war mit einem Bretterzaun und Rollen von Natodraht abgesperrt. Das alte Gemäuer mit den zerbrochenen Scheiben sah nicht so aus, als habe irgendwann jemand darin gelebt, aber die Menschen verharrten schweigend auf dem Platz und starrten hilflos dagegen.

Nachdem einige Jungen versucht hatten, den Stacheldraht zu überwinden, und zurückgeholt worden waren, entspannte sich die Lage. Die Punks auf den Bauwagen machten zwar noch Krach, aber alle anderen hatten zu reden begonnen. Freunde fanden einander, Kämpfer erinnerten sich, Paare fielen sich wie am Abend einer Schlacht glücklich und gesund in die Arme, ein Lagerfeuer wurde angezündet, und barfüßige Mädchen wärmten ihre Beine. Adhoc-Komitees beratschlagten die Zukunft, eine Abordnung diskutierte mit der Polizei, die es sich auf ihren Mannschaftswagen gemütlich gemacht hatte, und einsame Wölfe blickten auf den Stacheldraht und träumten davon, ihn zu übersteigen, das Haus von neuem zu besetzen, und alles wäre so wie zuvor. Man war unter sich mit seiner wieder einmal gerechtfertigten Vergangenheit.

Als es dunkel wurde, saßen die meisten friedlich um das Feuer. Johann dachte an Robert und sah hinauf zu den schwarzen Fensterhöhlen. Das würde es nicht mehr geben. Ob Robert wohl auch irgendwo hier war? Über Lautsprecher kam die Nachricht, daß die Polizei eine nächtliche Wache gestattet hatte. Johann wußte, daß nichts mehr geschehen würde, und ging.

 

Auf dem Hinterhof war es still und dunkel wie in einem Dorf. Die großen Scheiben der Gewerbeetagen waren schwarz, nur der dritte Stock wurde von fahlem Neonlicht erleuchtet, das matte Schatten auf die anderen Gebäude und die Brandmauer warf, hinter der eine Schneise zwischen die Häuser geschlagen war. Hinter der Mauer stand ein dünner Baum, dann verlor das Neonlicht seine Kraft, den Rest schluckte die Nacht. Die Fenster der Tischlerei im Erdgeschoß waren vergittert. Johann stieg in dem breiten steinernen Treppenhaus nach oben. Im dritten Stock war die rostfarbene Feuertür nur angelehnt, und von drinnen war Musik zu hören. Er drückte gegen die schwere Tür und trat ein.

Er stand in einem großen weißen Raum mit grauem Zementfußboden, der von einer Neonröhre weit oben ausgeleuchtet wurde. Der Raum war ein Luftschutzraum, eine verlassene Theaterbühne, ein langaufgegebenes Filmstudio. Die AFN-Musik wehte durch die Leere.

Auf einem weißgestrichenen Gartenstuhl saß eine Frau über Papiere gebeugt, die auf einem weißen Gartentisch gestapelt waren. Johann trat einen Schritt vor, und der Zement knirschte unter seinen Schuhen. Die Frau drehte sich um. Sie hatte rotblondes Haar. Sie trug ein verblaßtes, orientalisch aussehendes Hauskleid. Sie war barfuß. Mißtrauisch blickte sie Johann an. Er fragte nach Robert. Das Gesicht der Frau wurde noch mißtrauischer. Sie sagte, daß Robert nicht da sei. Und wann kommt er wieder? Gar nicht mehr. Die Frau schwieg und sah ihn an, und Johann wurde klar, daß er sich darauf verlassen hatte, hier die Nacht verbringen zu können. Die Frau lachte auf, er mußte seltsam ausgesehen haben. Sie fragte ihn, ob er ein Freund Roberts sei. Johann nickte. Sie stand auf. Willst du ein Bier? Johann nickte. Ich glaube nicht, daß noch was da ist. Teure Miete, aber keine Organisation. Sie öffnete die Türen der beiden Kühlschränke, die am Ende des Raumes standen. Sie waren leer. Warte, ich hole was aus den Privatbeständen. Sie verschwand hinter einer Tür. Wenn sie sich bewegte, lachte und sprach, wich der Eindruck der mißtrauischen Strenge sofort. Sie wirkte zielstrebig, und ihre Stimme war rauh, ihr Gang sicher und etwas breitbeinig. Sie kam mit zwei Bierdosen zurück.

Johann war müde und dankbar. Es tat wohl, jemanden zu sehen, der einfache Dinge ohne Umschweife und ohne Zweideutigkeiten tat. Die Frau setzte sich und lächelte Johann entschuldigend an. Dann sagte sie ihm, daß Robert schon seit Monaten fort sei und auch nicht wiederkommen werde. Johann war geschockt. Die Frau sah ihn vorwurfsvoll an. Als sein Freund solltest du’s wissen, oder aus der Zeitung. Oder liest du sie nicht? Johann erklärte, woher er Robert kannte. Sagst du mir nun, was los ist, oder nicht? Er wurde ungeduldig.

Sicher. Er ist vor der Polizei abgehauen, nach Holland. Sie zog die Augenbrauen hoch. Ins politische Asyl. Johann sprang auf. Dann schlug eine Welle von Müdigkeit über ihm zusammen, und es war unmöglich, die darin herumtanzenden Worte ordentlich zueinanderzubringen.

Die Frau legte ihre Papiere zusammen und begann Johann zu erzählen. Sie hielt nicht viel von der ganzen Geschichte und noch weniger von Robert. Sie saß am Tisch, ihre Hände lagen unbewegt in ihrem Schoß, eine steile Falte stand zwischen ihren Augenbrauen, nur ihre Mundwinkel waren in Bewegung, nach oben verzogen zu ironischem Lächeln, nach unten zuckend in zynischer Verachtung, so eilte ihre Beschreibung zwischen Spott und pflichtschuldiger Solidarität hin und her. Die Staatsanwaltschaft hatte schon lange ein Auge auf Roberts Zeitschrift geworfen, die in einer stetig fallenden Auflage einen sehr ästhetischen deutschen Politikjournalismus betrieb. Das Blatt war ungeheuer staatsgefährdend, und die eifrigsten Leser waren die Herausgeber selbst. Das Ende kam in Sicht, als man Streit über die Konzeption bekam. Die anderen wollten ML bleiben, während Robert eher eine Art High-Tech-Anarchie vorschwebte. Er bestand darauf, daß die Mikrochips die soziale Revolution brächten. Jedenfalls mußte die Staatsanwaltschaft irgend etwas finden, denn vor einem offenen Verbot schreckte sie zurück. Und es war gar nicht so schwer, etwas zu finden, da die Zeitschrift schon immer in dicke Sprachwolken verkleisterte revolutionäre Aufrufe und Sympathieadressen gedruckt hatte. So stand die Polizei eines Tages mit einem Durchsuchungsbefehl an der Wohnungstür.

Bei der Beschreibung der Haussuchung wurde die Frau lebhafter und ruhiger zugleich. Sie beschrieb den Aufmarsch so plastisch, so niederschmetternd und zugleich komisch, mit solcher Verachtung und gleichzeitig mit dem ganzen erfahrenen Überblick eines alten Kriegsberichterstatters, daß Johann sah, wie sie die Tür geöffnet hatte, in einen MP-Lauf blickte, die gespielte gespannte Freundlichkeit der Polizisten fühlte, die Freundlichkeit derer, die MPs in Händen halten. Schließlich fand man, was man suchte, Akten aus der neuesten Ausgabe mit einem Bericht über revolutionäre Zellen, und aus diesen Akten, aus irgendeiner Spesenabrechnung ging hervor, daß Robert für die Ausgabe verantwortlich zu machen war. Am folgenden Tag kehrte die Polizei mit einem Haftbefehl wegen Unterstützung terroristischer Vereinigungen wieder. Robert war im Kuckuck. Sie selbst ging heimlich hin und berichtete ihm vom Stand der Dinge, und noch am selben Abend saß er im Flugzeug nach Amsterdam.

Sie grinste wütend. Seine Augen glühten, und er hat, glaube ich, nur die Werke Trotzkis in seine Reisetasche gepackt. Vielleicht übertreibe ich, aber manchmal habe ich das Gefühl, den Jungs ging’s nicht darum, was zu ändern, sondern darum, verhaftet zu werden. Verstehst du, wenn sie verhaftet oder im Knast umgebracht werden, rechtfertigt das ihre Arbeit wenigstens im nachhinein. Mir sind Leute lieber, die auf dem Posten bleiben. Aber die, die standen auf Apokalypse. Dafür sitzt er jetzt in Amsterdam und träumt davon, eines Tages im versiegelten Sonderzug zurückzukommen, wenn die Posaunen ihn rufen. Immerhin hat er was in der Hand. Brief und Siegel, daß er gekämpft hat, wenn auch verloren, ein Exilant, der Opfer gebracht hat. Alle Leute opfern sich schließlich für irgendwas, für irgendeinen Sinn, Leben ist ja gar nicht anders möglich, und Leute wie Robert opfern sich eben der Ethik, daß gar nichts ihr Opfer wert sein könne. Auch eine Form von Masochismus. Dafür arbeitet er jetzt in einem Softwarebetrieb und ist in der Amsterdamer Bewegung bekannt wie ein bunter Hund. So!

Sie sah Johann an. Ich heiße übrigens Barbara. Ich bin auch Journalistin. Sie lächelte. Vielleicht deshalb. Du hast Hunger, nicht wahr? Gehen wir zum Türken.

 

Schwitzend trommelten zwei Jungen auf den Knöpfen der Space-Invaders, der schwarze Schrank stand vor der holzimitat-furnierten Wand, und es sirrte, pfiff und zischte, Raumschiffe und Städte explodierten, deren Verlust die digitale Punktanzeige in Hunderterschritten quittierte. Die Kriegsgeräusche mischten sich mit dem Fettgeruch der sich langsam drehenden Fleischsäulen und dem Duft des Olivenöls, in dem die Salate hinter der Glasvitrine schwammen. Barbara wollte wissen, woher Johann kam und was er vorhatte. Johann warf Geld in einen der Automaten und hämmerte stakkato auf die Tasten, den Blick auf den buntflimmernden Schirm gerichtet. Er dachte darüber nach, was es zu sagen gab. Er sah auf das Videospiel: Olympic Games.

Komisch, daß ein Neger dein automatischer Gegner ist. Man sollte meinen, es müsse ein Russe sein.

Überhaupt nicht. Barbara lachte. Im Sport ist es anders. Der Körper, nicht das Hirn. Und wer konkurriert da mit dem reinen Angelsachsen? Die Russen sind auch Weiße, nein, der Nigger mit seinem großen Pimmel, der eine Frau viermal so oft und so tief und gut befriedigen kann wie der weiße Mann. Sie lachte. Nein, im Sport ist der Neger die einzige Herausforderung. Und? Schaffst du ihn?

Ich laufe schneller, sagte Johann. Alles andere kann er besser.

Siehst du? sagte Barbara.

Dann spielten beide gleichzeitig an dem Gerät, und Barbara übernahm den Part des Schwarzen. Sie standen nebeneinander und hämmerten auf die Tasten. Die Bilder vor ihren Augen flimmerten. Um sie herum knallte und explodierte es. Barbara lachte. Johann dachte an nichts. In ihrer Gegenwart ließ sich gut müde sein. Er hatte das Gefühl, sie würde wachen. Im Eifer des Gefechts berührten sich ihre Ellenbogen mehrmals. Manchmal sah Barbara ihn an, und obwohl Johann auf den Bildschirm starrte, spürte er ihren Blick. Sie lächelte ironisch, aber ohne Bosheit. Ihr Kinn war energisch. Die Hand, mit der sie das Haar aus der Stirn strich, war kräftig. Sie war viel älter als er.

Sie warf einen langen Blick auf Johann über den Rand der Bierdose hinweg, deren restlichen Inhalt sie mit einem Zug trank. So! sagte sie.

Sie verließen den Imbiß, den Geruch nach fettigem gewürztem Fleisch. Die Nacht war seidig und kühl, und Johann erkannte die Straße wieder. Das Neonlicht im dritten Stock erleuchtete noch immer hoffnungsvoll den dunklen Innenhof. Das ist lächerlich, sagte Johann. Stromvergeudung.

Wir sind nicht im Krieg.

Was soll das, die Nacht ist nun mal dunkel.

Gewiß, aber trotzdem läßt jeder das Licht an. Es brennt die ganze Nacht.

Der große Raum lag still im feinen Summen der Neonröhre. Es ist gut, daß alles so leer ist, sagte Johann.

Verdreckt ist es, sagte Barbara. Komm, wir gehn in mein Zimmer.

Barbaras Zimmer war voll. Bücher, Aktenordner und Zeitungen füllten Regale, lagen zwischen Zettelkästen und Briefen auf dem Schreibtisch, mit Lesezeichen versehen hinter dem Bett. Kleider, Tücher und Schals hingen über Bügeln an der Wand. Auf dem weißen Mauerabsatz unter der Fensterfront standen Kerzen in bronzenen Haltern. Nylons schlängelten sich auf einem Perser vom Flohmarkt. In einer Ecke versteckten sich Cremes, Lippenstift und Kajal auf dem Boden. Um die Lampe war ein rotes Tuch gehüllt, das das Licht wärmte.

Johann sah aus dem Fenster. Schwach und unklar erkannte er eine menschliche Silhouette und geisterhaft durchsichtig das Zimmer. Er stand auf, um hinauszublicken. Da waren schwarze unbeleuchtete Fenster jenseits des Hofes und dunkle Mauern. Darüber der betrügerisch schimmernde Himmel, in dem Flugzeuge Sterne imitierten und Satelliten Kometen. Nein, es war ein bedeckter Nachthimmel ohne Flugzeuge und Sterne, mit dem helleren Dunkel der Wolken vor der wirklichen Schwärze.

Da waren Mauern mit Fenstern in einer gewissen Ordnung.

Da war unten der Asphalt mit schwarzen Ölflecken. Da parkten Autos. Da hörte er weit entfernt einen Lastwagen. Ansonsten war es still, und nichts bewegte sich. Doch, wenn er sich konzentrierte, sah er, daß die Zweige des dünnen Baumes sich schwach rührten und die Dunkelheit nicht einheitlich war, dort, wo die Blätter flackerten. Das Leben war versiegt, aber all die Willkür, die es geschaffen hatte, in Häusern mit Fenstern, in Ölflecken auf dem Asphalt, in absterbenden Bäumen und Geräuschen, die zu etwas gehörten und etwas anzeigten, ohne deutlich zu machen, was, die Abdrücke waren da und blieben und blieben.

Dann geschah etwas Seltsames: Die Frau, Barbara, umfaßte ihn von hinten und sprach ihn an. Ihre dunkle Stimme an seinem Ohr tat wohl, aber er schämte sich. Er schämte sich der Worte, die er hörte, Worte, die er kannte, sicher kannte er sie, aus dem Fernsehen, aus Büchern, er wußte, daß sie nicht mehr galten, es war ihm unangenehm, sie zu hören, es war ihm peinlich, daß die Frau sie in sein Ohr sprach, daß jeder Zynismus aus ihrer Stimme geschwunden war, als sie diese Worte flüsterte. Ihr Atem an seinem Ohr war warm, er schüttelte den Kopf, ihre Arme bewahrten ihn davor, sich aufzulösen. Die vielen Dinge im Zimmer waren noch willkürlicher als alles draußen, und jemand hatte das so zusammengestellt, hatte sich damit beschäftigt, Dinge zu verändern, die irgend etwas bedeuteten, Details, die das Auge ermüdeten.

Jetzt sah sie ihn an. Sie lächelte.

Gefällt dir nicht, was ich sage?

Er schüttelte den Kopf.

Verzeih, ich weiß keine anderen Worte.

Ein menschliches Auge konnte so groß sein wie das einer Riesenkrake, wenn man direkt hineinschwamm.

Er hatte es nicht mehr tun wollen, es gehörte zu den alten Sachen, deren Sinn ihm abhanden gekommen war.

Jetzt berührte sie ihn. Er hatte es nicht mehr tun wollen, aber er konnte es genausogut tun wie alles andere, das man tun konnte und deshalb tat. Ist das gut?

Ja, sagte er.

Ja?

Ja.

Gefällt dir das?

Ja.

Ja?

Johann schluckte und nickte.

Also komm, sagte sie.

Die weiße Wand teilte sich in Licht und Schatten wie Meer und Land. Wellen fluteten in der Sonne auf weißen Strand. Da waren Hunderte von Punkten, Poren; Fischerboote, die hinausruderten. Nein, es war eine gemauerte, ebene, weißlackierte Wand. Ihre parallelen Kanten liefen aufeinander zu. Staubtrübe Spiegel waren holzgerahmte Thermopanescheiben. Die Wand war weiß und kühl und gerade und ruhig. Die Wand atmete ein und aus, und die Fischerboote tanzten in die Wellentäler und rauschten aus der Sonne in den Schatten. Die Wand öffnete sich und schaukelte und wurde dunkel und wieder hell. Dann zeichnete sich die feine Maserung des Lacks haarscharf ab, lange gerade Bahnen, dann zerstrudelte sie in grobem Raster und wollte dunkel auf ihn niederstürzen, aber sie hielt sich zurück und war wieder eine Wand, unbeweglich, glatt, einfach.

Johanns Blick fiel auf ein gelbes Heft hinter dem Bett. Er erinnerte sich: Unsterblich, denn er weiß vom Tode nichts. In ihm ist Freiheit, ist Frieden, Reichtum ist in ihm. Oh, es sind heilige Tage, wo unser Herz zum ersten Mal die Schwingen übt, wo wir voll schnellen feurigen Wachstums dastehn in der herrlichen Welt. Das Märchen vom idealistischen himmelstürmenden Jugendmut, die Lüge von der Unschuld. Nein, das war nicht. Aber jetzt war da die Wand, die weiße Wand, deren Starre unter der zitternden Schwäche zerbröckelte. Die Wand war glatt und stand ruhig im Drehen um sie herum. Die Wand stand hell und dunkel, näher und ferner. Die Fischerboote wurden zu Luftporen, die Luftporen wurden zu Schweißperlen. Das Hell-Dunkel im Auf und Ab ließ die Gedanken abprallen. Die Luft verdichtete sich auf einen brennenden Punkt, und die Moleküle der weißen Wand weiteten sich und schluckten die Gedanken.

Das kleine gelbe Heftchen, das weit ausholend in die tiefsten Winkel blaubehimmelter Erinnerungsleere griff. Aber er, er hatte schon immer alles gewußt.

Aber da war die weiße Wand, gegenwärtig, faßbar, schwitzend aus jedem Atemstoß, taumelte sie in die gerade Bahn, wo jetzt das Ziel sichtbar wurde und näherkam und das Rondo sich in immer engeren und höheren Spiralen nach oben schraubte und die Fahrt kanalisierte, die weiße Wand, die Wand, die weiße Wand.

Das gelbe Heftchen, das macht uns arm bei allem Reichtum, daß wir nicht allein sein können, daß die Liebe in uns, solange wir leben, nicht erstirbt.

Aber da war die Wand, die weiße Wand, die jetzt, jetzt endlich ihre Konsistenz verlor und sich zu kochender Milch verflüssigte, die in einer Welle heiß über ihm zusammenschlug.

In der Stille behielt nur das Reclambändchen seine frühere Form. Die Lüge von der Jugendunschuld. Denn er, er hatte schon immer alles gewußt.

Barbara küßte ihn sanft und rollte sich zusammen.

So! Nun muß ich schlafen. Ich muß morgen um sieben hoch. Heute um sieben. Schlaf schön.

Ich gehe noch eine Zigarette rauchen, sagte Johann.

Kommst du nachher wieder?

Johann nickte.

Warum bleibst du nicht hier? Roberts Zimmer ist ja noch frei.

Ja. Warum nicht.

Ich schlafe schon halb. Du kommst nachher wieder, ja?

Johann nickte.

Er saß in dem großen Raum im Summen der Neonröhre. Das Radio spielte leise AFN-Musik. Die Bretter der Lehne maserten seinen Rücken. Er sah zur Decke, und es war nichts als eine Decke. An der Wand waren Herd, Spüle, die beiden Kühlschränke, Aluminiumregale mit Töpfen und Pfannen. Auf einem der Kühlschränke stand das Kofferradio mit der grünen Skala. Neben der Fensterfront standen zwei Fernseher übereinander. In einer Ecke lehnte ein Besen. In einer anderen hingen Socken und Wäsche auf den Leinen eines Trockners.

Im Schloß bewegte sich ein Schlüssel. Die Tür öffnete sich. Ein Mann kam herein, in einem bodenlangen grünen Mantel. Er trug eine lederne Ballonmütze auf dem Kopf.

Er lächelte Johann zu.

Wohnst du hier?

Ich weiß nicht recht, sagte Johann.

Der Mann nickte und warf seinen Mantel und seine Mütze über einen Stuhl. Trinkst du einen Kaffee mit?

Johann sagte ja.

Ich bin Anatol, sagte der Mann. Ich nehme an, du rauchst auch eine mit.

Anatol schüttete den Kaffee in den Filter und setzte die Maschine in Gang, aus der ein leise brodelndes Geräusch kam. Er drehte den Kopf und lächelte zu Johann herüber. Dann setzte er sich neben ihn und begann mit zitternden Händen einen Joint zu drehen. Er verschüttete Tabak und atmete tief durch. Danach ging es besser.

Du wohnst hier? fragte Johann. Anatol nickte.

Und was machst du?

Musik, antwortete Anatol, ohne hochzusehen.

Was für welche?

Anatol leckte das Papier. Zweierlei. Einmal fürs Leben und einmal für die Kunst. Er verzog das Gesicht. Dann stand er auf und holte den Kaffee. Sie tranken schweigend. Anatol hatte drei Tassen getrunken, während Johann noch bei der ersten war.

Ich war vier Tage unterwegs, sagte Anatol schließlich. Einmal ganz um die Stadt herum, immer an der Mauer entlang. Hab alles was draufsteht auf Band genommen.

Und wozu?

Anatol hob die Arme. Keine Ahnung.

Sie lachten beide. Dann schwiegen sie wieder.

Nein, begann Anatol. Es hat was mit der Musik zu tun, die ich machen will.

Verdient man gut damit? fragte Johann.

Keinen Pfennig.

Nein, ich meine, mit der anderen, die du fürs Geld machst.

Ach so, ja, na ja, zum Leben reichts. Aber ich bin noch nicht so lange hier. Es wird. Langsam wird’s was. Interessierst du dich für Musik?

Kommt drauf an.

Bist du länger hier?

Johann zuckte die Achseln.

Warum ziehst du hier nicht ein? Wenn du Geld hast.

Johann machte eine vage Bewegung.

Warum nicht. Wo wohnst du?

In diesem Zimmer da, glaube ich. Ich bin mir aber nicht sicher.

Johann lachte. Ich fange an, mich hier wohl zu fühlen.

Vielleicht willst du ja irgendwann mal was hören.

Johann nickte.

Ich geh schlafen. Ich bin nicht mehr sehr frisch.

Gute Nacht, sagte Johann.

Ja, bis dann. Ich steh nicht sehr früh auf.

Gute Nacht, sagte Johann.

Gute Nacht.

Als die Wolkendecke hell wurde, in der halben Stunde, bevor der Verkehr beginnt, wenn die Vögel einen ohrenbetäubenden Lärm machen und die Aussicht so grobkörnig ist wie in einem alten Schwarzweißfilm, ging Johann schlafen. Kurz darauf klingelte der Wecker, der Barbara zur Arbeit rief.