VIII

Anatol Strittmatters Vater kam am Morgen in der Oranienstraße an, um seinen Sohn nach Hause zu holen. Er war ein großer schlanker Mann mit grauem Vollbart, schütterem Haar und Hornbrille. Seine Stimme war tief, sanft und leise. Er trug dunkelbraune Cordhosen und ein englisches Jackett mit Wildlederflecken auf den Ellbogen. Seine Daumen waren gelb, denn er stopfte seine Pfeife mit ihnen nach. Er lebte in Freudenstadt, wo er das von seinem Vater ererbte Sägewerk leitete und Vorsitzender der dortigen Rudolf-Steiner-Gesellschaft war. Barbara hatte mit ihm telefoniert und ihn informiert, daß sein Sohn wegen eines Nervenzusammenbruchs drei Tage in der Klinik gelegen habe. Strittmatter hatte sich am Telefon ruhig verhalten und dann gesagt, er würde nach Berlin kommen, um Anatol zu holen.

Er saß verlegen auf der Kante eines der Gartenstühle und hielt mit beiden Händen die Pfeifentasche auf den Knien.

Möchten Sie etwas trinken? fragte Barbara.

Sie habens schön hier, murmelte Strittmatter und nahm erst dann wahr, daß er etwas gefragt worden war. Wie bitte? Ja gern, ein Täßle Tee, wenn Sie haben.

Barbara setzte Wasser auf.

Haben Sie Umstände gehabt mit dem Anatol?

Keine Spur, sagte Barbara. Er hat einfach zuviel gearbeitet.

Strittmatter schüttelte den Kopf. Er ischt ein Künstler. Aber ich glaube, die Ruhe bei uns auf dem Land, zu Hause, das wird ihm helfen.

Er ist schon in Ordnung, sagte Barbara. Besser, jemand hat einen Auskick, weil er zuviel arbeitet, als wenn er überhaupt nichts tut.

Strittmatter stopfte sich eine Pfeife. Wo ischt er jetzt?

Er kommt gleich, er packt wohl noch.

Sind Sie seine Freundin, wenn ich fragen darf?

Nein, eine Freundin. Wir wohnen halt zusammen.

Schön haben Sies hier. Strittmatter sah sich um.

Barbara nickte.

Ja, Wohngemeinschaften, sagte Strittmatter. Es ischt schade, daß es so was zu meiner Zeit noch nicht gab. Ich glaub, das ischt doch die Lebensform der Zukunft, mit all der täglich geläbten Solidarität. Die Familie, Sie sähns ja, wir wisset zuwenig voneinander, das gibt keinen rechten Halt mehr. Meinen Sie, daß er gleich kommt?

Barbara nickte. Sie setzte sich neben Strittmatter und trank eine Tasse Tee mit ihm.

Und Sie, was machen Sie?

Ich bin Journalistin.

Ah. Er räusperte sich und stopfte mit dem Daumen nach. Wo ischt denn sein Zimmer?

Barbara deutete mit dem Finger.

Bei uns daheim, begann Strittmatter, ists doch ruhiger als hier in der Großstadt, und der Bub kann sich ein bißle besinnen.

Anatol hat sich wohl gefühlt in Berlin, sagte Barbara.

Die Tür öffnete sich, und Anatol kam heraus, blaß, mit unsicheren Schritten, in jeder Hand einen Koffer. Strittmatter sprang auf und ging auf ihn zu. Sie blieben voreinander stehen. Anatol setzte die Koffer ab.

Er nickte ernst. Papa.

Grüß dich, mein Junge. Strittmatter schloß ihn in die Arme und drehte den Kopf zur Seite, die Pfeife im Mund. Er war viel größer als Anatol, und sie ähnelten einander überhaupt nicht.

Möchtest du auch noch einen Tee? fragte Barbara.

Anatol blickte in dem weiten Raum umher. Sein Gesicht war von der gleichen Farbe wie die Wände. Er schüttelte den Kopf.

Nein, ich möchte gleich gehen.

Strittmatter klopfte seine Pfeife in einem Aschenbecher aus. Er reichte Barbara die Hand.

Nochmals vielen Dank.

Barbara nickte. Strittmatter wandte sich seinem Sohn zu, der mit den Koffern mitten im Raum stand.

Wir haben fascht anderthalb Meter Schnee.

Wie gehts Mama?

Gut. Sie freut sich, dich zu sehen.

Gehen wir also, sagte Anatol. Barbara, bestellst du den anderen Grüße?

Ich werds ausrichten.

Zu wievielt leben Sie hier? fragte Strittmatter.

Ohne mich sechs, sagte Anatol.

Barbara hielt ihnen die Tür auf. Gute Reise.

Strittmatter stopfte seine Pfeife neu, während er, seinem Sohn folgend, die Treppen hinabstieg.

 

Der nächste Tag war der Tag von Marias Abreise nach Afrika. Sie hatte ein einfaches Flugticket nach Accra gekauft und 1500 Mark gespart.

Johann hatte das Badezimmer gereinigt. Er stand vor dem Spiegel und trug sich eine braune Schlammaske aufs Gesicht, die die Haut säuberte. Seit er aus dem Krankenhaus zurück war, pflegte er seinen Körper täglich, der glänzte und glatt war. Maria saß in der Wanne.

Wie lange willst du bleiben?

Ich weiß nicht.

Ich meine, wann kommst du wieder zurück?

Gar nicht, sagte Maria. Ich will versuchen, da unten zu bleiben. Die Farben locken mich.

Die Farben! sagte Johann. Und was wird aus deinen Sachen?

Die holt ein alter Bekannter von mir und stellt sie bei sich unter. Er muß gleich kommen.

Also du gehst auf Nimmerwiedersehn, sagte Johann.

Ja, was hält mich hier? sagte Maria. Hier ist alles vorbei. Der Job ist gekündigt, mein Lover hat mich sitzenlassen –

Was für ein Lover?

Mein Freund.

Ich wußte gar nicht, daß du einen Freund hattest.

Ist das so seltsam? fragte Maria. Traust du mir keinen Freund zu?

Ich habe hier nie jemanden gesehen. Was war das für einer?

Ich kenne ihn aus dem Blockschock, sagte Maria. Ein schöner Blonder, ein Arier.

Aha.

Jedenfalls ist er weg.

Johann schwieg. Dann fragte er: Und was willst du tun in Afrika?

In der Sonne liegen und mir Kokosnüsse auf den Kopf fallen lassen. Maria lachte. Ich weiß es wirklich nicht. Ich denke, wenn ich dort bin, wird sich schon irgend etwas ergeben.

Dieser Freund, wie hieß er?

Manfred.

Und?

Und was? fragte Maria.

Bist du traurig?

Natürlich bin ich traurig. Aber ich gehe ja fort.

Maria begann sich abzutrocknen. Johann sah im Spiegel die rote Narbe, die das schwarze Schamdreieck nach oben begrenzte.

Woher hast du die? fragte er.

Lange Geschichte, sagte Maria.

Keine Zeit mehr, sie zu erzählen?

Ich habe abgetrieben, sagte Maria.

Aber das gibt doch nicht solche Narben.

Es gab eine Entzündung, und ich mußte operiert werden.

Was für eine Entzündung? fragte Johann.

Eine Unterleibsentzündung.

Was Gefährliches? fragte Johann. Ich meine, ist es gutgegangen?

Nein, oder ja, eher ja. Ich wollte kein Kind. Nun ist der Schoß nicht mehr fruchtbar. Ich hatte kein Interesse, kleine Nazis in die Welt zu setzen.

Was für Nazis?

Herrgott, sagte Maria. Kleine Deutsche, kleine Nazis. Ich wollte sie nicht in die Welt setzen. Ich wollte nie Kinder haben.

Überhaupt nie? fragte Johann.

Nie, sagte Maria. Mit vierzehn hatte ich einen Traum, und seitdem wußte ichs. Und als ich schwanger war, war ich vollends sicher. Ich hätte mit ihm reden können, aber ich wollte nicht.

Johann sah sie fragend an.

Den Traum hatte ich, kurz bevor ich von meinen Eltern fort bin. Weißt du, ich bin fort, weil – mein Vater ist ein alter Faschist, ein feiger, ein Schlappschwanz, ein faschistischer Gehörnter, er ist Chemiker, das heißt, heute ist er lange pensioniert, und meine Mutter, eine Walküre, doppelt so groß wie er und kalt wie ein Fisch und genauso glitschig, sie hatte achtzehn Jahre lang denselben Liebhaber, aber ich glaube, sie wäre lieber lesbisch geworden, hätte sie sich nur getraut. Aber egal, der Traum. Meine Eltern und ich, wir wohnten damals in der Nähe einer stillgelegten Tonziegelfabrik, wo ich öfter meine Nachmittage verbrachte. Es stand noch alles, die Halle, die Wärmekammern, der Ofen. Dahinter lag die ehemalige Tongrube, die jetzt ein See war mit abgestorbenen Bäumen. In meinem Traum war ich schwanger und lag in der Halle und wartete darauf, zu dem Tonsee zu müssen. Schließlich war der Moment gekommen, und ich ging hin. Am Ufer stand eine alte Frau, die mir befahl, in eine Art Silo einzusteigen, das war so ein Eisenturm, grün lackiert. Drinnen mußte ich eine Wendeltreppe hinauf, es war unmöglich, dort wieder hinabzusteigen, also immer weiter hinauf, und, oben angekommen, zwängte ich mich, Füße voraus durch eine Luke und kam in einen Gang, wo ich durch die Mühle gedreht wurde. Ich weiß es nicht mehr genau, es gab Zahnräder und Stahlstangen, es drehte und hämmerte, verletzte mich, ich wurde völlig schmierig, Mehl, Mehl war auch dabei, und völlig verschmiert von Mehl und anderem, mußte ich weiter durch die Luken, mal mit dem Kopf voran, mal mit den Füßen, und schließlich kroch ich auf eine Art Schütte und rutschte hinunter und fiel in den Tonsee. Ich schwamm herum, und dann rief mir die alte Frau am Ufer zu, ich hätte jetzt ein Baby bekommen, und reichte es mir ins Wasser. Ich nahm es nicht in die Hände, und es versank vor meinen Augen.

Johann schwieg.

Manfred fand den Traum ekelhaft, sagte Maria.

Na, als Arier, sagte Johann.

Aber an die Klinik, wo ich operiert wurde, erinnere ich mich ganz gerne, sagte Maria.

So?

Wir haben viel gelacht, wir Patienten. Es war eine Frauenklinik. War es bei dir denn so trostlos?

Ich hatte mit niemandem was zu tun, sagte Johann.

Bei uns war es witzig, sagte Maria. Ich war mit vier anderen zusammen. Zwei Transsexuelle und zwei Frauen. Eine war ein junges Mädchen, das eine Entzündung an der Gebärmutter hatte; zu oft schlecht abgetrieben. Die mußte sich die Gebärmutter rausnehmen lassen. Sie war sehr komisch. Sie war ganz froh, denn sie hatte schon dreimal abgetrieben und war erst siebzehn.

Die Ältere fühlte sich erst unwohl. Sie war schon fünfzig, und wir waren ihr unheimlich. Aber schließlich wurde sie lockerer und lockerer. Die hatte eine Wucherung, aber keinen Krebs, glaube ich. Sie hat am Anfang reichlich getrunken, aus Angst, es wäre Krebs. Als sie erfuhr, daß es keiner war, ist sie ein neuer Mensch geworden. Wir haben sie überzeugt, ihren Mann nicht mehr zu empfangen, der sie immer nur verprügelte. Sie wollte sich sogar scheiden lassen, hat es aber dann doch nicht geschafft. Ich habe nach dem Krankenhaus noch ein halbes Jahr Kontakt zu ihr gehabt. Aber dann war sie wieder so verschüchtert, denn der Alte prügelte sie immer noch, und sie soff wieder, und von Scheidung war keine Rede mehr.

Aber am besten waren die beiden Transsexuellen. Eine war ungeheuer fett, bestimmt zwei Zentner, aber mit einem sehr hübschen und zarten und feinen Gesicht, die hatte Brüste von acht Kilo, die sie auf vier Kilo verkleinern lassen wollte, ihre Freundin war mager und häßlich; sie waren wie Pat und Patachon, und die magere hatte so gut wie gar keine Brust, nur hundert Gramm, und wollte sie auf zweihundert vergrößern lassen. Sie waren urkomisch, die beiden, sie waren ja immer an eine Flaschenbatterie angeschlossen, die irgendwelche Nährlösungen in sie pumpten, oder Schläuche, die etwas absaugten, und sie wanderten damit durch den Korridor, die Dicke und die Dünne, die Flaschen unter den Armen und in den Händen, in ihren rosa Plüschbademänteln.

Es war Sommer und heiß und langweilig, und abends saßen wir alle im Fernsehzimmer und glotzten bis zum Sendeschluß und gaben Joints rum. Selbst die ältere Frau hat zum Schluß mitgeraucht.

Wir waren eine verschworene Gemeinschaft, wir fünf, die Schwestern waren draußen, die waren ja normal, und alle erzählten, rauchten, lachten, und wenn eine heulte, tröstete die Dicke sie, an einem Abend tanzte sie Rock’n’Roll mit dem riesigen Wanst und den hüpfenden Brüsten, aus denen die Schläuche kamen, und den Flaschen unterm Arm, sie tanzte Rock’n’Roll, eine Wahnsinnige, und selbst wer depressiv war, mußte mitlachen.

Und die Ältere, irgendwann eines Abends, als sie genügend intus hatte und wohl auch was geraucht und nicht mehr so schüchtern und geschockt war wie sonst, fragte sie dann die Dicke, sie flüsterte richtig, denn es war ihr ungeheuer peinlich, aber sie mußte es doch wissen, sie fragte also, wie das denn möglich sei, einen Schwanz zu einer Fotze zu machen, und die Dicke begann dröhnend zu lachen mit ihrer tiefen Baßstimme, und die Schläuche zitterten, und die Flaschen klimperten, und sie wischte sich die Tränen aus den Augen. Ja, das ist nicht so einfach, du denkst wohl, man, schnippelt das wie Karotten ...

Und heiß war es, ungeheuer heiß, dreißig Grad noch am Abend, und wir lagen im ersten Stock zum Garten raus, und an einem Abend schlief ich früher, und das junge Mädchen war auch im Bett, die anderen noch alle im Fernsehzimmer, und plötzlich geht die Balkontür auf, und ein Neger steht im Zimmer. Ich bin fürchterlich erschrocken, aber dann stellte sich heraus, daß er der Lover der Kleinen war, sehr freundlich, er sagte, ich solle mich nicht stören lassen, und dann stieg er zu ihr ins Bett, er war von außen hochgeklettert, und sie hatte die Balkontür offengelassen, und vögelte sie.

Es war wunderschön anzusehen, er lag auf ihr und stieß, und das Mondlicht glänzte auf seinem dunklen Rücken, und die vielen kleinen Schweißperlen glitzerten, und ich bekam unheimlich Lust, als ich zusah, und als sie fertig waren, muß sie das wohl gesehen haben, denn sie sagte: Maria, du siehst so unglücklich aus, und dann fragte sie ihn, ob er mir nicht auch etwas abgeben wolle, und er kam ganz höflich zu mir ans Bett und fragte, ob ich Lust hätte, und ich flippte völlig aus und strampelte mir die Bettdecke weg und zog ihn an mich ran.

Hinterher ist er verschwunden, wie er gekommen war, Balkontür auf und zu und fort war er, und wir haben die ganze Nacht miteinander gequatscht, und ich habe immer die Bettdecke hochgehoben und drunter gerochen nach dem Geruch seines Spermas, das roch süß und gut und heiß. Elsa hieß sie, glaube ich, ja, Elsa. Sie hat Selbstmord gemacht vor ein oder zwei Jahren. Ich hatte sie aus den Augen verloren und hab es nur durch Zufall gehört.

Von wem? fragte Johann.

Von eben dem Neger. Ich hatte ihn seit der Nacht nicht wieder gesehen, und irgendwann kreuzt er bei mir auf, frag mich, woher er die Adresse hatte, und sagte, daß Elsa sich umgebracht habe. Er selbst war da auch schon nicht mehr mit ihr zusammen.

Aber in dem Krankenhaus war es sehr lustig. Einmal hat unser ganzes Zimmer eine Protestaktion gestartet, weil man uns nicht erlaubte, in den Garten zu gehen. Ich, die dicke und die dünne Transsexuelle, Elsa und die Alte laut schreiend und singend durch die Gänge, durchs ganze Haus, eine trug die Flaschen der anderen, und es klimperte und klapperte und sah so komisch aus, fünf Weiber, daß wir irgendwann alle einen fürchterlichen Lachanfall bekamen, wir standen da und lachten und lachten, und die Dicke hielt ihren schmerzenden Bauch und die Dünne ihre schmerzende kleine Hängebrust, und wir konnten und konnten nicht mehr aufhören.

Ist das alles lange her? fragte Johann.

Das war noch vor den Besetzerzeiten, antwortete Maria.

Sie hockten auf dem Boden in Marias Zimmer. Ihre Habe lag unter einem weißen Tuch in einer Ecke. Zwei Reisetaschen standen an der Tür. Johann schwieg und lauschte der Yello-Musik, die aus den kleinen Lautsprechern kam, die an Marias Walkman angeschlossen waren.

Ich gehe fort, sagte Maria. Rote Erde. Stell dir vor, die Erde ist rot, und es gibt Farben, das ganze Land ist bunt, und Dinge wie Liebe, Romantik und Sehnsucht kennen sie dort nicht. Es ist immer warm, die Leute müssen nicht in Höhlen Unterschlupf suchen vor der Kälte, und deshalb fehlt auch der ganze Mythos, den es braucht, um ein halbes Jahr gemeinsam, zurückgezogen in Dunkelheit und in Felle gestopft, zu ertragen.

Es ist also nicht nötig, sagte Johann.

Dort nicht.

Du bist richtig aufgeregt.

Heute nachmittag geht mein Zug nach Frankfurt, sagte Maria. Und morgen früh das Flugzeug. Wie soll ich da nicht aufgeregt sein? Das ist mein Aufbruch ins Land der Wirklichkeit, endlich. Hier, das wollte ich dir noch zeigen. Ich hab’s lange aufgehoben.

Sie nahm ein Stück rotes Kartonpapier aus ihrer Jackentasche. Auf dem Karton stand in Kinderdruckbuchstaben: Afrika. Ein geschlängelter blauer Wollfaden war aufgeklebt, daneben stand Nil. Kleine Straßsteinchen waren als Oase oder Timbuktu gekennzeichnet. Auf der Rückseite stand: Damit du dich nicht verirrst. Dein Zoss.

So lange schon? fragte Johann.

Maria nickte. Sie sah auf das Kärtchen und zitierte: Der Blick auf das Gelobte Land, das man sich selbst erobert hat und das kein Gott mehr streitig machen kann – ein Augenblick des Menschen.

Johann schwieg und blickte aus dem Fenster auf den Innenhof. Vier Tauben flogen einen Kreis und ließen sich auf dem gleichen Baum nieder, von dem sie gestartet waren.

Es klopfte an der Tür. Johann erkannte den Eintretenden sofort. Die Seite seines Körpers, die er Johann zuwandte, war völlig normal, aber er hinkte, und als er sich umdrehte, wurde die rudimentäre andere Hälfte sichtbar, zusammengeschnurrt, verwachsen, verzerrt. Es war Horst, der halbe Mensch, der, ohne Johann zu beachten oder wiederzuerkennen, auf Maria zustolperte, sie umarmte und zu sprechen begann.

Johann konnte sich nicht erinnern, an jenem Abend im Nachsommer auch nur ein Wort von Horst gehört zu haben, er war Hennas Schatten gewesen und hatte den ganzen Abend über geschwiegen. Um so erstaunter lauschte Johann jetzt dem Wortschwall, dem nur schwer zu folgen war, denn eine Hasenscharte oder eine Mißbildung des Rachens machte seine Äußerungen fast unverständlich. Und was hatte der halbe Mensch mit Maria zu tun? Sie mußten einander schon lange kennen, denn immer wieder kam die Rede auf alte gemeinsame Zeiten, die Danckelmann-, die K 3-, die Willibald-Alexis-Zeiten. Die Vergangenheit und die Stadt zogen sich vor seinen Augen zusammen, jeder schien einmal jeden gekannt zu haben, und wo jeder jeden kannte, war Kleinstadt, ein kleiner Zirkel mußte es trotz allem gewesen sein, eine kleine Gruppe doch nur, die ihre Abenteuer mit Hilfe der Alchimie von Worten in der Erinnerung zum Mythos stilisierte, und Johann hätte sich nicht gewundert, wären plötzlich alle Menschen, die er in Berlin kannte, hinter einem Vorhang hervorgetreten, hätten sich ironisch lächelnd verbeugt und das Stück, das sie für ihn aufgeführt hatten, beendet.

Aber das einzige, was er hörte, waren die Wortkaskaden Horsts. Henna war verschwunden, und der halbe Mensch war nun völlig allein und verzweifelt; der Schatten, beraubt seines Herrn, das war noch ärger als ein Mensch ohne Schatten, und Horst war ein prallgefüllter Sack, der beim Anblick Marias aufriß und seinen Inhalt ausspie, einen polternden perlenden Strom von Worten, flüssig, in Klumpen bahnte er sich seinen Weg, überschwemmte das Zimmer, Worte und Sätze rieselten und schwappten aus dem halben Menschen, Worte, die nicht seine waren, die gar nicht zu ihm gehören konnten, Worte wie Mehl, und Horst hinkte in ihnen herum und hinterließ seine weiße Spur im ganzen Zimmer, der schiefe Körper wand sich und zuckte, erbrach die letzten Erinnerungen, das Sediment seiner Schmerzen, ohne Antwort oder Erklärung zu erwarten, und als er leer war, herrschte wieder Schweigen, wurde er wieder so still, wie Johann ihn in Erinnerung gehabt hatte.

Horst sah sich an, was er mitzunehmen hatte, und schulterte dann eine von Marias Taschen, als habe er eine neue Herrin gefunden. Maria stand auf. Sie betrachtete noch einmal ihr Zimmer.

Das war also das, sagte sie zu Johann. Er nickte.

Ich werde euch eine Karte schreiben, sagte Maria.

Du gehst jetzt, sagte Johann.

Maria lachte. Ja, ich gehe.

Viel Glück.

Danke. Dir ebenfalls viel Glück,

Gut, daß du mir noch alles erzählt hast.

Ich habe dir nicht alles erzählt.

Alles Wichtige, sagte Johann.

Selbst das nicht.

Alles Gute.

Maria strich ihm übers Haar und nahm die Tasche. Horst, der halbe Mensch, hielt ihr die Tür auf, nickte Johann zu und folgte ihr.

Johann blieb noch ein wenig in dem leeren Zimmer stehen. Er sah durch die schmutzigen Fenster hinunter auf den Innenhof, wo sich bräunliche harsche Schneeplatten zu den Rändern hin zurückzogen. Das Glas, gegen das er die Stirn lehnte, war kühl.

Am nächsten Morgen war er so früh auf, daß er Wolfgang beim Frühstück begegnete. Seit dem Streit zu Beginn von Johanns Krankheit sprach Wolfgang nicht mehr mit ihm, aber als Johann jetzt auf Barbaras Zimmertür zuging, hielt der Werbemann ihn zurück.

Sie ist nicht da, sagte er mit vollem Mund.

Johann wollte die Tür dennoch öffnen.

Sie ist gestern abend abgereist, sagte Wolfgang.

Wohin?

Nach Stuttgart. Zu den Terroristenprozessen, Stammheim. Zwei Wochen ist sie weg.

Johann nickte.

Immerhin nicht Beirut, sagte Wolfgang und stand auf. Und du?

Was ist mit mir? fragte Johann.

Du willst nicht auch weggehen?

Johann wollte aufbrausen, schwieg aber dann, und ein Gefühl großer Leichtigkeit überkam ihn, er konnte den anderen jederzeit auspusten wie eine Kerze. Er lächelte und sagte: Bald.

Wolfgang zuckte die Achseln und verließ die Wohnung.

Johann trank Tee. Draußen war es noch dämmrig, aber der große Raum war vom Neonlicht hell ausgeleuchtet und sauber. Die Wohnung lag schweigend da und war seltsam leer, Johann fühlte sich wie der letzte Mensch an Bord eines Schiffes. Er wusch sich, zog sich an und ging hinunter auf die Straße.

In den letzten Tagen hatte es getaut, aber in der vergangenen Nacht war wieder Frost gefallen und hatte das Dehnen und Recken der Stadt noch einmal mitten in der Bewegung erstarren lassen. Vor allen Läden standen Lieferwagen, Autos rollten vorsichtig mit müden gelben Scheinwerfern die Straße entlang, der Dieselgestank der beigen Doppeldeckerbusse mischte sich mit der eisigen Morgenluft zu einem Geruch von Arbeit und Aktivität, und die graue Wolkendecke verlor ihren Silberschimmer, wurde heller, und der anbrechende Tag zog die Konturen der Stadt mit dem Lineal nach. An den Kreuzungen standen Türken, rauchten gemeinsam und traten von einem Fuß auf den anderen, die Bürgersteige füllten sich, und gebeugte Frauen, die weißen Atem ausstießen, bahnten sich ihren Weg.

Johann ging die Oranienstraße hinab, überquerte den Heinrichplatz, vorbei an dem biodynamischen Obst- und Gemüseladen der schwäbischen Emigranten, vorbei an der grünen Bedürfnisanstalt, in Richtung Görlitzer Bahnhof, in Richtung auf den Innenhof am Ufer der Spree, am Ende der Pfuelstraße, wo es nicht mehr weiterging.

Es war Zeit. Sehen, wie jemand umfällt. Der Wirbel vor den Augen, Häuserfront, Himmel, Schwärze, dazwischen das dumpfe Geräusch, wenn der Kopf aufschlägt. Sehen, wie einer umfällt. Es mußte seltsam aussehen. Er würde Peter anrufen. Peter würde ihm die Waffe besorgen. Er konnte nicht anders. Es blieb sich gleich, wer. Darüber war er hinaus. Jeder war gut dafür. Für einen Moment Wahrhaftigkeit. Jeder war reif. Es war Zeit.

Da war der Lausitzer Platz mit der hohen, braunroten, versiegelten Emmauskirche, deren tote staubige Augen über das Brachland des ehemaligen Güterbahnhofs schweiften, und der Eisengeruch von der Hochbahntrasse und das Donnergerumpel, wenn über der Skalitzer Straße die dottergelben Waggonreihen einander passierten, die eine voller Menschen auf dem Weg in die Stadt, die andere fast leer auf dem Weg zur Endstation; da war die Eisenbahnmarkthalle mit dem Licht, das durch die Fenster im Dach fiel und die Eisenträger kupfern färbte, und unten die Farben der gewachsten Früchte, das Gelb der Käse, das Rosa der Schinken, der Geruch nach Fisch, Bratwürsten, Kaffee und Waschmitteln und das Meeresrauschen der Stimmen und schleppende Schritte auf dem Steinboden.

Es war Zeit. Die Nähe, der Moment voller Leben, wenn er ihn töten würde, irgendeinen, irgendeinen für alle, gewiß keinen Repräsentanten, sie waren ja alle Repräsentanten. Wofür? Für etwas, das er erkennen und auslöschen würde in einem einzigen Moment. Sehen, wie einer umfällt. Die Gesichter der anderen. Peter würde ihm die Waffe schnell besorgen. Er mußte. Johann wußte, daß er es tun würde. Er hatte keine Wahl.

Da war die winddurchfegte Leere der Köpenicker Straße mit Autowracks, die an den Kantsteinen verrotteten, und fliegendem Butterbrotpapier, aufgehalten von den alufarbenen Gittern, die Spielplätze umzäunten, mit den zweisprachigen Verbotsschildern, den gefrorenen Sandhaufen einer Baustelle und den brettervernagelten Fenstern verlassener Häuser; da war die Pfuelstraße, schmal und hoch, als wolle sie nicht enden, grau und am nahen Horizont die Spree und das Gebein der Mauer und das Hämmern aus der Werkstatt und am Ende der Innenhof, nach der Wasserseite offen, und der Fluß stählern und die Möwen auf silbernen und gläsernen Schollen, die, Teile eines geborstenen Ganzen, schwankend in der Strömung trieben, und das tuckernde Patrouillenbötchen am anderen Ufer vor dem bleichen steinernen Band, hinter dem das Röhren herunterschaltender Lastwagen dröhnte, und nach Nordwesten, dem Flußlauf nach, der Turm mit der dunklen undurchsichtigen Kugel und hinter den Fenstern der Häuser, die zum Wasser gingen, ein großer Raum, ein Herd, auf dem eine Kaffeekanne stand.

Es war Zeit. Einer. Jeder. Keine Provokation. Kein Haß. Kein Ziel. Kein Sinn. Nur Veränderung. Wenn er umfallen würde. Der Mensch. Der Moment der Nähe in den Augen. Von Liebe. Dankbarkeit. Ende. Der Knall. Jener dort. Irgendeiner. Aus weiter Entfernung sah er, wie die Form der Kanne unverändert bleiben würde, während die des Lebendigen daneben wechselte. Das Haus blieb. Das Haus aus kühlem Stein.

Da war die baumbewachsene Promenade zwischen diesem Haus und der geschlossenen Oberbaumbrücke mit den Rettungsringen und dem Warnschild: Nicht die Uferböschung betreten – Lebensgefahr, da waren die zwei Angler mit ihren Plastikeimern, die langen Ruten hingen weit in den Fluß hinein; da war der Landwehrkanal, der das Ende der Welt markierte mit der bunten Wandzeitung der Mauer, und dann die zugige Görlitzer Straße, an deren Beginn gefrorene Möbel und vermodernde Teppiche auf die Sperrmüllabfuhr warteten, die schlitternden Kinder auf den vereisten Wiesen, die in den ausgefahrenen Spuren der verschneiten Kieshügel noch eine und noch eine letzte Schlittenabfahrt zu erzwingen versuchten.

Da war das hallende Poch, Poch, Poch der Schritte in der schwarzen feuchten Unterführung, die hinüber zur Wiener Straße führte, und der Muffgeruch, der aus den Kellerlöchern der beiden Ramschläden heraufkam; da war das Linckeufer und wieder der Kanal, eine graugrüne Eisfläche hinter dem Gazeschleier nackter Weidenzweige, auf der watschelnde Enten kreischten, Bläßhühner krähten, die von gleitenden Schwänen im Tiefflug gestreift wurde, denen elegante Schatten folgten.

Da war der Kottbusser Damm, auf dem der Verkehr jetzt floß im vollerwachten Tag, und der Platz, voller Menschen, die sich zwischen den rollenden hupenden Autos bewegten, und das Stahlgerippe bebte von den startenden und bremsenden Hochbahnzügen.

Es war Zeit. Der Moment höchster Entfernung und tiefster Nähe rückte heran. Nähe wie Liebe wie aus ihm herausgerissener Stacheldraht, das Auge, das ihn brechend ansähe im Augenblick der Wahrhaftigkeit, einer, irgendeiner von allen. Peter. Peter anrufen, der sie nicht besorgen wollte, aber mußte, die Waffe, die schwarze Waffe, mit der er einen auswählen würde aus der Mitte, zwischen den kühlen steinernen Wänden, das Muster verändern durch einen Eingriff, unter dem fahlen grünen Himmel, da war alles möglich, Tod war da möglich, sehen, wie einer umfällt. Sie ähneln einander so sehr. Ein Moment der Stille zwischen den Neubauten, ein Stück Leere im brüllenden Stahlwerkstakt. Jetzt zurück. Schnell.

Dann dachte Johann an die Delphine. Er entstieg der kalten morgendlichen Stadt in eine wärmere Welt und fand sich gewiegt von den Wellen eines lauen sonnenglitzernden blauen Meeres, umgeben von einer Schule spielender Tiere, die, um ihn zu unterhalten, zu zweien aus dem Wasser schnellten und gebogen wie Bananen wieder zurückprallten und einen warmen kitzelnden Tropfenregen auf ihn niedersprühen ließen.

Niemand wußte, wie intelligent sie wirklich waren, aber lag nicht eine kaum faßbare Hoffnung in der Annahme, sie könnten ebenso intelligent sein wie Menschen, ebenso intelligent und darüber hinaus gut? Sie nahmen ihn auf, einen neuen Freund, mit dem sie in die Bucht hinausschwammen, und das sonnendurchglänzte Wasser umgab seinen nackten Körper wie ein weicher Pelz, und er fühlte sich geborgen in ihrer Mitte.

Wie mochten sie leben, in ihr Element gezwungen, zur Arbeit untauglich, wie Menschen sie verrichten mußten; all ihr freischweifendes Denken, das nicht an den Zwang des Broterwerbs gekettet war; das Wasser trug sie, und ihre Sanftmut vergab die Sünden, ja, wessen Sünden.

Aber sie kamen bis zum Strand, und es war, als hätten sie den Wunsch, ans Ufer zu gelangen. Und wirklich leisteten sie keinen Widerstand, als man sie packte und auf den Sand zog, wo sie liegenblieben, diese schönen Körper in ihrer Ruhe und Würde, während um sie herum die Hölle losbrach, eine Hölle tanzender, schreiender, kreischender Menschen, die sich in wilden Sprüngen verrenkten und Rufe voll Prahlerei und Spott aufs Meer hinaussandten. Johann sah sie in ihrer Ekstase, und er sah die herrliche Ruhe der Delphine, und erst als er im Hinterhof vor der Tischlerei angekommen war, verschwand dieses Bild vor seinen Augen.

Johann blickte sich in dem leeren großen Raum um. Er war allein, so wie er während seines Spaziergangs allein gewesen war. Alle waren fort, es gab niemanden außer ihm. Es war kalt und klar. Die Menschen ähnelten einander, wie sie sich durch die Straßen tasteten. Er nahm das Telefon. Es war Zeit.