Der Sommer war lang und warm, und die Hitze hielt den feinen bitteren Nebel der Autoabgase und Fabrikschlote dicht an der Erde, und es war immer ein leichter Dunst in der Luft, die nach Zigaretten schmeckte, und der blaue Himmel sah aus wie durch ein staubiges Fenster betrachtet. Stein und Stahl in der Stadt hatten sich mit Wärme vollgesogen und gaben sie in lauten und eiligen Nächten ab, wenn die Menschen kreuz und quer und in Kreisen sich über die Stadt ausbreiteten wie Fliegen über eine frisch überfahrene warme Katze.
Es war Morgen, wenn das Licht der aufgehenden Sonne die Skalitzer Straße herabschwamm und das Eisen des Hochbahnskeletts rostgold beleuchtete, wenn die Türken in den dottergelben ratternden Waggons zur Arbeit fuhren, das Kottbusser Tor sich mit Pennern und Polizeiwagen füllte und an den Abbruchhäusern die Nachtschatten wie Schmutzwasser herabliefen; es war Mittag auf der lauten stinkenden verstopften Müllerstraße durch den Wedding nach Norden hinter dem glänzenden Eisberg des Scheringgebäudes hinauf zu den französischen Kasernen und dem Flughafensee und wenn man aus Kreuzberg zum Potsdamer Platz kam, wo die Aussicht weit wurde zur zerklüfteten Skyline der Werbeagenturen in der Keithstraße bis zum Nollendorfplatz. Liebespaare und gebeugte Greise füllten Lincke- und Fraenkelufer, und im nachmittäglichen Schatten der Wiener Straße neben dem Görlitzer Bahnhof brach sich der Lärm einzylindriger Motorräder zwischen dem Damm und den Mauern.
Aber Sonnenschein auf staubigem Glas, Menschen- und Automosaike, die Spiegelungen der Passanten zwischen den Schaufensterpuppen und das Summen arbeitender Entlüftungsanlagen waren nur Täuschungen, hinter all denen die leere Köpenicker Straße lag, hallende Schritte, und dann bog man in die Pfuelstraße ein und blickte durch den Tunnel der grauen Häuserflanken im Geräusch eines Schweißbrenners aus einer Werkstatt auf die bleifarbene Spree, an deren jenseitigem Ufer wie gebleichte Knochen im Sonnenlicht die Mauer lag, und die Aussicht verwässerte und wurde farblos, und der Himmel ging in ein krankes Gelb über, die Hautfarbe eines Menschen, der sein Leben in verdunkelten Räumen verbracht hatte.
Erst wenn es dämmerte, verlor die Stadt den Anschein einer normalen Metropole aus den Hochglanzprospekten, in der tatsächlich Menschen arbeiteten, aßen und tranken, heirateten und starben, in der Kinder spielten und zur Schule gingen, Flugzeuge landeten und Busse nach bestimmten Fahrplänen plötzlich um Ecken bogen. Erst nach Einbruch der Dunkelheit wurde Kreuzberg zu einer Schädelstätte, zu einem Soldatenfriedhof mit weißen Kreuzen auf dunklem moosigem Stahl, einem steinernen Mahnmal vergangener Zeiten, die so lange zurücklagen, daß sie nur noch in mythischen Beschwörungen zwischen den Backsteinmauern hervorkrochen, und doch waren sie noch keine drei Jahre vergangen, zu einem dunklen geheimnisvollen Thing, wo Menschen aufeinander zu- und aneinander vorbeigingen, in scheinbar geregelten und choreografierten Schrittsequenzen, Menschen, die alle aus verschiedenen Gründen die Banalität des Tages nicht ertragen wollten und die Sonnenstunden verdösten und deren Geräusche wahrnahmen, wie andere Leute Geräusche und Formen in fremden beängstigenden Träumen, aus denen man in die klare Sicherheit eines gedeckten Frühstückstisches, einer Morgenzeitung, eines Radiosprechers, einer Stechuhr oder einer Topfpalme, hydrokultiviert in einer weißen Büroetage, fliehen konnte.
Aber es gab auch die endlosen geraden Straßen mit fünfstöckigen Mauern zu beiden Seiten, die direkt in die Unendlichkeit flossen, wo die Mauern sich trafen, und dort, weit, weit weg ragten wieder Fassaden und Schornsteine hoch: die Aussicht auf eine Hafenstadt auf einem gelben Plateau im Morgendunst von der Reling eines Schiffes.
Kannst du dir vorstellen, daß man wegen eines Liedes in eine Stadt ziehen muß? fragte Peter Johann an einem der warmen endlosen Abende, die sich noch die trüben zwielichtigen Morgenstunden des nächsten Tages borgten, um ihrem Ende selbst beiwohnen zu können. Wenn man in einer erkalteten Herbstnacht die Gneisenaustraße entlangkam und den Mehringdamm kreuzte mit dem friedhofartigen Café, mit dem Kellner im zerschlissenen Frack, der Heimatlieder singt, mit den Ratten auf den grauen Steinquadern, während sie sich am Kohlenmonoxyd wärmen, wenn der Verkehr hinauf zum Platz der Luftbrücke rauscht und du weißt, die Stadt geht fort über Kilometer und Kilometer von Zuhause und Wildnis, von engen Straßen mit warmem Licht und der stählernen Leitplankenferne einer Highwaynacht bis nach Dreilinden hinunter, bis in die grünen Rundwege von Wannsee und die Betongalgen Spandaus.
Es war der Sommer von Peter und Johann, Johann und Peter, Peterjohann, der die Sommernächte durchflog auf der Suche nach Momenten von Gegenwart. Die waren da: im Rauch, der von den Tischen der Bars zu den Lampen aufstieg, dort verschwanden sie in der Kathedrale einer schwarzgrün schimmernden nächtlichen Allee; sie schwebten in der Leere des großen Raumes, ein ausgestorbener Strand, der im Licht zerstäubte, erfüllt von den lügnerischen Klängen von Smooth Operator, die aus den Fenstern aller Hinterhöfe wehten; sie hockten wie Vögel im Morgengrauen auf Brückengeländern, und Johann mußte sich an den Lichtmasten im nächtlichen Asphaltsee festhalten, um nicht ins All geschleudert zu werden. Und überall war Peter, der sich bewegte, als spüre er unterhalb seiner Schulterblätter verzückt heimliche Flügel, die seine Füße vom Boden heben würden, wenn er nur wollte, und der nur ging, um den Gesetzen der Physik zu genügen. Er schuf Augenblicke, in denen Gefühl und Bild zusammenfielen, in denen die Sicht klar wurde und den Blick freigab auf: Peter und Johann, einzige Menschen, die nicht nachdachten, forschten, noch warteten, einzig scharfe Silhouetten vor dem sich bauschenden Bühnenvorhang der übrigen Welt. Wange an Wange durchschritten sie die Nächte, und im Zentrum jeder Sekunde wurzelte Peter, der alle Erinnerungen an den morgigen Tag lange hinter sich gelassen hatte. Berühmt werden, sagte er eines Abends, so berühmt, daß sie dich lieben, mit heißer und blutiger Liebe, ihrem Blut und deinem, das kannst du nur, wenn du jung bist. Aber wer sind die anderen, es gibt sie nicht, nur wenn du sie umbringst, im Moment der Gewalt werden sie wahrhaftig.
Barbara arbeitete den ganzen Sommer hindurch, und Johann sah wenig von ihr, noch von Anatol, aber das war ihm egal. Ihr Ernst, ihre Verantwortung, die Schneckenhäuser ihrer Gedanken, das war so schwer und so langweilig wie Mittage voll drückend staubiger Hitze, das war alles auf später gerichtet, auf ein Alter, an das Johann nicht glauben mochte, und auf eine Zukunft, der Peter Abend für Abend spottete, wenn sie im Auto unterwegs waren und er in den Kurven geradeaus lenkte, bis irgend jemand in letzter Sekunde das Steuer herumriß und ihn anschrie, ob er sie alle umbringen wolle, und die andern hinten im Wagen neben Johann schwitzten vor Angst um ihr Leben. Später lachte Peter schallend und sagte träumerisch: Hab in solchen Momenten immer das Gefühl, ins Nichts hinauszusegeln und das Auto an beiden Seiten unter mir festhalten zu müssen, aber du kannst sicher sein, daß, wann immer jemand dabei ist, er es verhindern wird. Hängen so sehr am Leben, werden es niemals geschehen lassen. Ist ein wunderbares Spiel, darauf zu warten, ob sies nicht doch geschehen lassen, aber niemand läßt es geschehen, sie treten alle auf die Bremse oder greifen ins Lenkrad und schwitzen und steigen aus. Es ist ein fettes Land mit fetten Menschen.
Du bist nicht fett, sagte Johann.
Nein, ich bin anders.
Johann sah ihn an. Peters grüne Augen waren schwarz vor Erwartung auf die Welt. Der Klang der Musik drehte sich, als sie weitergingen, langsam nach hinten weg.
Manchmal fragte sich Johann, womit sie eigentlich ihre Zeit verbrachten und was es war, das ihn an Peter band und ihn das freie Zimmer in der großen Wohnung nun fest bewohnen ließ. An manchen Morgen kam wie ein kurzer Übelkeitsanfall die Erkenntnis, daß er nichts tat, daß er Sand siebte, aber dann erinnerte er sich. Keine Macht der Welt konnte sie zwingen, etwas zu tun, nie wieder.
Eines Abends sagte Peter: Ich habe heute keine Zeit. Ich muß zu Bokassa. Aber Johann bestand darauf mitzukommen.
Das Haus in der Cuxhavener Straße war ein kleines verfallenes Schloß in Stuck, das letzte alte Gebäude zwischen dem geometrischen Beton an seinen Flanken. Neben der Tür hing ein Messingschild: Brazzaville GmbH Im- und Export. Bokassa war ein riesiger muskulöser Neger in einem grauen Flanellzweireiher und rosa Hemd. Er hatte eine Schürze umgebunden, denn er kam aus der Küche. Er schlug Peter auf die Schulter, musterte Johann und gab ihm dann die Hand. Sie ließen sich in weißen Ledersesseln nieder.
Du siehst gut aus, sagte Bokassa zu Peter. Besser als seit langem.
Danke. Du aber auch.
Bokassa lachte. Ja, mir gehts auch gut. Ich habe vor einigen Wochen ein schönes Geschäft gemacht. Kaffee. Das beste seit der Geschichte mit der Butter zwischen München und Belgrad.
Er muß seine Geschäfte hier machen, sagte Peter, denn zu Hause in Zaire ist er zum Tode verurteilt worden.
Bokassa hob die Hände zu einer bescheidenen Geste.
Ich habe einen südamerikanischen Verkäufer und eine Rösterei zusammengebracht, zu äußerst günstigen Bedingungen.
Und als nächstes? fragte Peter.
Zur Zeit mache ich in Immobilien, sagte Bokassa. Da tun sich im Moment Türen auf, es ist totensicher.
Wie bist du reingekommen? fragte Peter.
Bokassa lächelte. Freunde, immer Freunde.
Sie saßen da und tranken.
Wir können uns nach dem Essen Videos ansehen, sagte Bokassa. Du heißt Johann, stimmts?
Stimmt.
Willst du eben rübergehen, Johann, in das Zimmer dort, und welche raussuchen, die dir gefallen?
Johann zögerte und stand dann auf.
Bokassa lächelte ihm zu. Laß dir Zeit.
Johann ging in das andere Zimmer und betrachtete die Cassetten. Die Tür war nur angelehnt.
Wie zum Teufel machst du nur dieses ganze Geld?
Laß gut sein. Wärs umgekehrt, müßte ich bei dir vorbeischauen.
Also, was gibts? Warum sollte ich kommen?
Warum hast du den Jungen mitgebracht?
Ist ein Freund.
Warum du kommen solltest? Weil ich mit deinem Umsatz nicht so ganz zufrieden bin.
Ich tu, was ich kann.
Tu mehr. Peter, du kannst doch alle zu allem überreden. Und gerade dazu.
Kann ich das?
Du konntest es. Nur weil du zweimal reingefallen bist.
Ist nett von dir, mich immer mal wieder daran zu erinnern.
Du bist kein Geschäftsmann.
Nein.
Was tust du überhaupt so? Gar nichts mehr?
Ich schmeiß mein Geld raus.
Erst mußt dus mal verdienen.
Das laß meine Sorge sein, Bokassa.
Es ist aber meine Sorge, denn es ist mein Geld.
Ich hab anderes im Kopf.
Vor zwei Jahren kannte jeder deinen Namen und dein Gesicht. Was ist bloß los mit dir?
Ja, vor zwei Jahren.
Jeder verliert und fängt dann wieder an. Aber du bist kein Geschäftsmann. Du hast nicht hoch genug gespielt.
Gewiß.
Aber es ist nicht mein Bier, ob du berühmt bist. Mein Bier ist mein Geld.
Du kriegst es rechtzeitig und genug davon.
Natürlich kriege ich es.
Ich sage dir, du kriegst es.
Ich weiß, mein Peter. Komm her zu mir.
Johann trat wieder in den Raum und sah, wie Bokassa Peter mit seiner riesigen Hand am Arm packte, lächelnd zu sich zog und auf den Mund küßte. Als er Johann sah, ließ er ihn los, und beide blickten ihn an.
Ich hab nichts gefunden, sagte Johann. Was war das für eine Geschichte mit der Butter?
Bokassa sah ihn an. Ich erzähls euch beim Essen. Kommt.
Das Essen in der großen Schüssel war lauwarm. Erst der frische Pfeffer machte die Hitze im Mund. Sie aßen mit den Fingern.
Das ist lange her, sagte Bokassa. Es ging um einen Waggon EG-Butter, der nach Jugoslawien geliefert werden sollte, um dort verarbeitet zu werden. Irgendwie ist der ganze Waggon aber zwei Monate nur hin und her gefahren, ohne daß er jemals ausgeladen wurde. Bokassa lachte still in sich hinein. Auf der anderen Seite wurden die Bücher ordnungsgemäß geführt, und es ließ sich einrichten, das Zeug auch rückwärts wieder zu verkaufen, laut Büchern, versteht sich. Es wurde auf beiden Seiten eine Menge verkauft, während der Waggon immer hin und her fuhr. Irgendwann war die Butter natürlich ranzig, und so endete das dann.
Entschuldigt mich einen Moment, ich habe einen unangenehmen Brief bekommen und muß eben telefonieren. Laßt euch nicht stören.
Bokassa sprach am Telefon in einer afrikanischen Sprache und kehrte wieder an den Tisch zurück. Er tupfte sich mit der Serviette über den Mund und sagte: Das ist erledigt.
Er sah seine Besucher an. Sehr unangenehm und sehr ärgerlich. Ein junger Freund von mir, der am Stuttgarter Platz ein paar Freundinnen hatte. Ich fand ihn sehr sympathisch eine Zeitlang, weil er jung war und witzig und nicht dauernd über Probleme redete. Ich hab ihm, weil er schon immer mal nach Afrika wollte, einen Job vermittelt, einen 500er Mercedes nach Kampala zu bringen. Ich hab ihm das Reisegeld vorgeschossen, und nach Ablieferung wären zehntausend für ihn dringewesen. Vor zwei Wochen ruft mein Geschäftspartner dort unten an und beschwert sich, daß der Wagen nie angekommen ist. Er war sehr wütend, und die ganze Sache war höchst unangenehm, denn so etwas schadet der Glaubwürdigkeit als Geschäftsmann natürlich erheblich. Ich hab befürchtet, dem Jungen sei etwas passiert, aber dann kam der Brief, ein sehr frecher Brief, in dem er mich verspottet hat und damit prahlte, was er verdient hätte und was ich ihn könne und daß ich nie auf einen grünen Zweig kommen würde. Bokassa schüttelte den Kopf. Ein sehr dummer Brief. Ich hätte ihm verziehen, aber der Brief hat den Ausschlag gegeben, und deswegen habe ich jetzt Freunde angerufen, die die Sache erledigen.
Bokassa lächelte. Ich kenne in der Gegend noch genügend Leute, die mir einen Gefallen tun, und als Geschäftsmann und auch als Ehrenmann kann ich so etwas nicht auf mir sitzenlassen.
Johann betrachtete Bokassa, wie er den Tisch abräumte, und Peter beobachtete Johann aus den Augenwinkeln.
Jetzt habe ich dich traurig gemacht, sagte Bokassa.
Gar nicht, sagte Peter.
Doch, doch, ich sehs doch. Weißt du was? Ich leihe euch heute nacht meinen Wagen. Das wird dich auf andere Gedanken bringen.
Alter Scheißnigger, sagte Peter.
Bokassa lachte laut.
Peter, ich liebe dich, und du weißt es. Aber vergiß mich nicht.
Peter schüttelte den Kopf.
Bokassa zwinkerte. Ich vergesse dich auch nicht.
Das Auto war ein grau glänzendes Porsche-Cabriolet. Bokassa drückte Johann die Schlüssel in die Hand. Dann ging er zurück ins Haus. Das Jackett spannte über seinen Oberarmen.
Der Wagen war eine schimmernde Silberader im Stollen der Nacht, als sie über den Kaiserdamm in Richtung Avus schossen. Johann saß am Steuer. Die Lichter und der Fahrtwind strudelten in ihrem Haar.
Was hat er vorhin über dich erzählt? fragte Johann.
Nichts, sagte Peter. Ich habe damals die Rosa-Bar aufgemacht.
Dann waren sie auf der Avus, und Johann wechselte auf die linke Spur und bohrte sich in die Nacht. Der Boxermotor röhrte.
Kannst du nicht schneller? fragte Peter.
Johann klammerte die Hände um das Lenkrad und gab Gas. Er fühlte, wie seine Hände und sein Nacken feucht wurden.
Wie schnell sind wir? fragte Peter.
Hundertsiebzig.
Der Wagen bringt doch mehr, sagte Peter.
Johann nahm vorsichtig die rechte Hand vom Lenkrad, legte den fünften Gang ein, packte das Lenkrad wieder und drückte das Gaspedal durch. Jetzt war seine Stirn naß. Dann verschwammen die Straße und die schwarze Wand der Bäume und das Gefühl, in einem Auto zu sitzen, und er fühlte nichts mehr als das Brausen in der Dunkelheit, als würde er nackt ins All fliegen.
Wie schnell? fragte Peter.
Johann senkte die Augen auf die Tachonadel. Sie zitterte.
Zweihundertzwanzig, sagte er.
Wieviel? schrie Peter durch den Fahrtwind.
Zweihundertzwanzig! schrie Johann und umklammerte das Lenkrad.
Gib mir eine Zigarette, Johnny, sagte Peter und beugte den Kopf ein wenig herüber und öffnete die Lippen. Johann sah ihn aus den Augenwinkeln an. Peter lächelte.
Johann schwitzte, der angespannte Fuß auf dem Gaspedal bebte, und er nahm eine Hand vom Lenkrad und fingerte in der Brusttasche.
Hier ist mein Mund, sagte Peter.
Johann drehte den Kopf und steckte Peter die Zigarette in den Mund. Die Straße vor ihm war ein heller Strahl aus Beton, nicht breiter als das Auto, der sich vor ihm rauschend in die Nacht fraß.
Feuer? sagte Peter.
Johann griff nach dem Feuerzeug, und wandte den Kopf. Peter sah ihn an, und im Schein der Flamme glänzten seine Augen. Plötzlich schlingerte der Wagen, Johann hatte das Lenkrad bewegt, er packte es wieder mit beiden Händen, und für einen Moment tanzte das Auto auf dem schmalen Band den nächtlichen Abgründen an beiden Seiten zu, und die Scheinwerfer beleuchteten irrsinnig die Arabesken der anthrazitfarbenen Silhouette des Waldes und rissen Stücke aus der Dunkelheit, dann hatte Johann den Wagen wieder unter Kontrolle, bremste ab und fuhr auf der letzten Ausfahrt vor Dreilinden von der Autobahn ab. An einer Ampel blieb er stehen und wischte die nassen Hände an seiner Hose ab.
Peter grinste und legte den Arm um seine Schulter: Schade, was?
Der Sommer dehnte und dehnte sich leuchtendgrün über der Stadt, die sich staubig und nach Sonnenöl duftend in ihren Mauern räkelte und die Kühle der Nacht schlürfte. Wenn Johann Barbara traf, war nie viel Zeit, denn ständig wartete Peter mit der Verheißung abendlichen Ertrinkens und der Wiedergeburt am nächsten Morgen. Barbara nahm es schweigend hin, daß Johann die Nächte nicht mehr bei ihr verbrachte, und er fragte nicht weiter. Von Anatol sah er überhaupt nichts mehr. Manchmal spät, wenn er nach Hause kam, hörte er hinter Anatols Tür das Klavier, das immergleiche Tonfolgen durch das offene Fenster in die Dunkelheit hinausspuckte, wo sie sich in den Klangteppich der Nacht einwoben. In der Wohnung war ein ständiges Kommen und Gehen, Johann traf seine Mitbewohner meist an der Tür. Nur Wolfgang war in Urlaub gefahren und verbrachte den Sommer in Spanien. An einem Abend fuhren Peter und Johann zu Henna und seinem Freund Horst, dem halben Menschen. Henna war geschieden und lebte in Steglitz in einem Haus am Kreisel, das er von seinem Vater geerbt hatte. Er hatte erfolglos ein Antiquariat geführt, denn er las die Bücher lieber selbst, statt sie zu verkaufen. Dafür hatte er das Antiquariat verkauft, was ihm eine sechsstellige Summe einbrachte. Peter kannte ihn aus der Zeit, als Henna bei den noch unbekannten Neubauten gespielt hatte. Er war groß und hager, ein asketischer Mönch mit toten Augen. Neben ihm auf der Couch saß Horst, der halbe Mensch.
Ich habe gehört, daß du die Boutiquen dichtgemacht hast, sagte Henna zu Peter.
Ja, lief nicht.
Es hatte sich doch ungeheuer angelassen.
Zu ungeheuer, sagte Peter.
Nicht dein eignes Geld?
Peter lächelte ihn an.
Warum hast du nicht mich gefragt?
Peter zuckte die Schultern.
Du hast dich überhaupt lange unsichtbar gemacht.
Ja, vielleicht hätte ich mich melden sollen.
Und wovon lebst du zur Zeit?
Von nichts, sagte Peter.
Das geht nicht.
Von ihm, sagte Peter und deutete mit dem Kopf zu Johann.
Planst du wieder etwas? Man hört nichts mehr von dir.
Ich bin achtundzwanzig. Da ist es vorbei.
Was für ein Unfug, sagte Henna. Ich bin auch achtundzwanzig.
Wärst du bei den Neubauten geblieben, wärst du heute berühmt, sagte Peter.
Oder tot. Und wer will schon berühmt werden. Geld will ich.
Du warst berühmt, sagte Henna. Oder beinahe.
Peter winkte ab.
Es hat gar keinen Sinn zu verzweifeln, sagte Henna. Es macht gar keinen Unterschied.
Nein, sagte Peter.
Ich bleibe gern anonym, wenn ich nur genug Geld habe.
Peter nickte.
Johann beobachtete Horst. Er hatte ihn nur von links gesehen, und er sah völlig normal aus, nur daß er krumm dasaß in der Ecke des Sofas. Er sagte kein Wort. Dann drehte er sich herum. Johann zuckte zusammen. Horst bestand aus zwei verschiedenen Hälften. Der Sprung lief mitten durch seine Längsachse. Das Gesicht war verzerrt, das rechte Auge und die rechte Hälfte des Mundes waren unförmig, das rechte Ohr ein verkrüppelter Champignon, der rechte Arm hing kurz und dünn an der Seite herab und endete in einer klauenähnlichen Kinderhand. Das rechte Hosenbein schlotterte, und als er aufstand, weil sie aufbrechen wollten, war es, als müßten die beiden ungleichen Hälften sich trennen und in verschiedene Richtungen davongehen. Horst wich den ganzen Abend nicht von Hennas Seite, und er sprach kein einziges Wort.
Zu viert fuhren sie in die Innenstadt in eine Bar. Peter saß neben Henna. Sie unterhielten sich und lachten. Horst starrte schweigend in den Saal. Johann sah Peter an, der ihn nicht beachtete. Er begann zu trinken und trank, bis alle Musik und alle Stimmen und Bilder ihm zu einem gleichmäßigen Summen zusammenflossen und ihn selbst die Bewegungen zwischen Peter und Henna nicht mehr störten. Irgendwann nahm er durch einen Schleier wahr, daß Peter auf den Tisch stieg.
Er stieg auf den Tisch, schweigend, und zog sich ohne Eile aus, bis er nackt war. Die Musik hörte auf, und der Raum lag in völligem Schweigen. Es war spät, und die Bar war nicht mehr voll, aber alle Augen richteten sich gespannt auf Peter, der nackt und ruhig auf dem Tisch stand, weiß, mit dunklen und grünlichen Schatten. Jeder erwartete eine Show, etwas Spektakuläres. Und es wurde spektakulär, wenn auch nicht so, wie sie es sich gedacht hatten. Peter begann zu tanzen, allein auf dem Tisch, im Dämmerlicht, und jemand verstand, und die Musik setzte wieder ein, leise, im Hintergrund. Peter tanzte für sich selbst, völlig versunken in seinen Bewegungen, er sah nicht nach rechts noch nach links, er blickte niemanden an, auch nicht Johann oder Henna. Er drehte sich, die Arme ausgebreitet um seine Pirouette zu balancieren, das Licht floß um seinen Körper, der nur mit den Zehenspitzen die Tischplatte berührte. Die Musik schien aus den Poren seiner Haut zu rinnen, er war völlig beherrscht und ganz auf seinen Tanz konzentriert. Niemand lachte, niemand holte laut Atem, der ganze Raum war gebannt von dem Bild der schattenschlagenden, lichtumflorten tanzenden Skulptur. Seine Würde war überwältigend. Als die Musik zu Ende war, schlug er die Augen auf, stieg vom Tisch, zog sich ohne Eile an und setzte sich wieder, aber es blieb noch eine ganze Zeit still um ihn her.
Johann war zu betrunken, um noch etwas wahrzunehmen. Irgendwann standen sie auf und verließen die Bar, um noch in eine Diskothek zu fahren. Die frische Luft auf der Straße weckte Johann wieder etwas auf. Aber als er den anderen folgen wollte, hielt eine Hand vor der Brust ihn zurück.
Nein, du bist zu besoffen.
Von drinnen hörte er Peters Stimme: Johann, kein Scheißer kann dich davon abhalten zu tun, was du willst.
Johann wollte hinein, aber die Hand hielt ihn fest.
Geh nach Hause.
Johann riß sich los, torkelte ein paar Schritte zurück und ging dann auf die Gestalt los. Dann lag er auf dem Boden, und sein Kopf schmerzte.
Jemand hob ihn hoch und führte ihn weg und setzte ihn auf eine Bank. Es war Horst, der halbe Mensch.
Da waren auch Peter und Henna. Johann blickte in die grünen Augen in dem weißen Gesicht.
Johann, du läßt diesen Scheißkerl doch wohl nicht mit so was davonkommen?
Johann schüttelte den Kopf und stand auf.
Los komm, sagte Peter.
Jemand sagte: Laß gut sein, du übertreibst.
Peter sagte: Komm, wir gehn rein. Ich hab noch Durst.
Johann stand auf und folgte Peter, der im Eingang verschwand. Johann sah, wie eine Gestalt sich vor die Tür schob.
Hab ich dir nicht gesagt, du sollst dich verpissen? Johann schlug nach dem Mann. Der stellte sich in Positur, boxte Johann in den Magen und dann gegen den Kopf. Johann fiel.
Als er aufwachte, brannte sein Gesicht, obwohl es in kühler, körniger Feuchte lag, auf Asphalt, wie er bemerkte. Eine zarte Hand berührte seine Wange. Eine sanfte Stimme redete zu ihm, die sich wie eine kühle Salbe, wie ein Windhauch über sein Gesicht legte. Er öffnete die Augen. Es war Peter. Komm, wir gehen nach Hause.
Anfang September gab es ein Wochenende mit Regen und einem Temperatursturz. Der Sturm wusch das Sonnenlicht von den Häusern, und Kreuzberg strahlte in metallischem Grau, Straßen, Häuserfronten, Eisenkonstruktionen und Himmel, und das dünne Laub wurde von Windstößen gebeutelt. Danach gab es noch eine heiße Woche, aber der Himmel war höher und herbstlicher geworden, und es war klar, daß dieser Nachsommer nur auf der Übereinkunft bestand, den Herbst noch eine Weile nicht wahrzunehmen. Dieses Wochenende war das eigentliche Ende des echten Sommers.
Sie saßen in Peters Wohnung und rauchten und würfelten.
Was tut man, wenn der Sommer vorbei ist? fragte Johann.
Peter antwortete nicht. Er sah auf die Würfel. Er gewann.
Johann zuckte die Schultern. So viel Geld hab ich nicht.
Das hat mir schon mal jemand gesagt, sagte Peter. Der gute Anatol. Warum spielst du dann?
Johann sah ihn an.
Anatol hat ganz entrüstet gesagt, wir seien doch Freunde.
Johann sagte nichts.
Du weißt, wer nicht mitsetzen kann, ist draußen. Ausgeschieden. Ausgespien. Fertig.
Überall? fragte Johann.
Überall und bei jedem, sagte Peter.
Johann nickte.
Wie willst du also zu Geld kommen? fragte Peter.
So wie du, zum Beispiel.
Peter schüttelte den Kopf. Du kennst dich nicht aus. Du kennst niemanden. Was willst du denn tun? Vergiß es.
Nein, sagte Johann. Ich meine, man kann alles verkaufen. Er schleuderte die Würfel in den Filzteller.
Peter öffnete die Augen.
Johann setzte sich auf. Mich so gut wie alles andere.
Dich? Jemand so Unberührbaren?
Eben drum.
Peter sah ihn an. Läßt sich damit Geld machen?
Das solltest du am besten wissen.
Da täuschst du dich. Nie mit Sachen Geld verdienen, die dir Spaß machen.
Johann nickte. Glaubst du nicht, daß damit Geld zu verdienen ist?
Hast dus schon versucht?
Johann sagte nichts.
Johann schwieg.
Jedenfalls hast du recht: Du brauchst Geld, sagte Peter. Wenns das ist, was du tun willst, mußt dus schnell tun.
Spielts denn eine Rolle, was es ist?
Nein, sagte Peter.
Eben, es bleibt sich ganz gleich.
Und du bleibst ganz unberührbar? fragte Peter.
Johann sagte nichts.
Du machst es, und danach kommst du zu mir.
Warum?
Weil ich dann an dir riechen werde. Weil dann der Staub der Unschuld von deiner Haut sein wird.
Johann schwieg.
Kann ich damit was gewinnen? fragte er schließlich.
Viel. Immer schneller und immer leichter. Bis zum Schluß.
Der Schluß interessiert mich nicht.
Gut so, sagte Peter.
Johann spürte die Luft zwischen ihren Körpern. Er konnte alles tun. Ohne Ausnahme. Alles.
In der letzten heißen Woche des Nachsommers fuhren sie mit Barbara nachts zum Baden in den Grunewald. Sie gingen in der Dunkelheit über den weichen Waldboden. Es roch nach Nadeln. Sie gingen hintereinander, Johann vorneweg.
Ziehen wir uns hier schon aus, sagte Barbara in der Dunkelheit. Es ist noch wunderbar warm.
Zu viele Glassplitter und kaputte Bierflaschen, sagte Peter. Man schneidet sich die Füße auf.
Ich hab nicht vom Barfußgehen gesprochen, sagte Barbara.
Wir halten dich nicht ab, rief Peter.
Dann waren sie an einer Abzweigung.
Hier gehts weiter, sagte Peter.
Der andere See ist sauberer. Barbara blieb stehen. Beide sahen auf Johann.
Gehn wir dahin, wos sauberer ist, sagte Johann. Sie gingen schweigend zwischen den Bäumen hindurch, bis sie an eine Böschung kamen, unter der schwarzgrün im Mondlicht der See glänzte. Hohe Bäume standen dicht am Ufer, und eine Eiche breitete ihre Äste weit über das Wasser. Barbara stieg aus ihrem Hängekleid. Ihr Körper leuchtete weiß im Licht. Peter sah sie nicht an, während er sich auszog. Johann sprang ins Wasser und tauchte in der dunklen Kühle. Das Ufer fiel steil ab, und unter ihm wurde es eisig, und die Kälte umgab ihn sauber, und dann ließ er sich mit geschlossenen Augen auf dem Rücken treiben, die Ohren unter Wasser, den Mondschein auf seinem Gesicht, in absoluter Stille. Er bewegte sich nicht, sah und hörte nichts mehr, und nach einer Weile spürte er auch das Wasser nicht mehr. Es ging kein Wind, und der See war völlig ruhig. Der Verkehrslärm drang nicht bis hierher, um den Mond stand ein riesiger Hof. Barbara und Peter hockten am Ufer. Peter lag nach hinten gestützt und blickte an sich herab.
Barbara, träumst du von Arabien oder wovon? fragte Peter.
Ich träume gar nicht.
Aber du bist nicht hier, sagte Peter.
Ich denke nach.
Wir werden uns nie viel zu sagen haben, was? sagte Peter.
Warum?
Leute, die viel nachdenken, und Leute, die das aufgegeben haben, kommen nicht zusammen.
Man kann die Leute wieder zum Nachdenken bringen.
Das heißt sie langweilen, sagte Peter.
Man kann Leute auch langweilen, wenn man das andere überzieht. Was soll diese Spielerei mit dem Selbstmord.
Und warum hast dus dann nicht getan?
Ich hab wieder Geld bekommen.
Und das ist ein Grund dagegen? fragte Barbara.
Wenn man etwas damit anfangen kann, sagte Peter. Aber du, Baahbara, was könntest du damit anfangen?
Ich will mich auch nicht umbringen.
Eben, du brauchst es nicht. Aber du willst es natürlich auch. Was kannst du damit anfangen? Ich kann damit was anfangen. Aber du?
Jedenfalls ist Geld bei mir in besseren Händen, sagte Barbara.
Ja, weil du nichts damit anfangen kannst, sagte Peter. Du würdest es wegstecken, in ein Schatzkästlein, und ab und zu hervorholen, ums dir anzusehen, aber du hättest Angst, es rauszulassen. Du weißt nicht, wie sichs anfühlt, du meinst, der Geruch bleibt ewig an deinen Händen haften.
Nein, aber du spielst damit rum und wirfst es weg, wie es dir in den Kram paßt. Du benutzt es, wie es dir in den Kram paßt. Aber so etwas geht nicht ewig. Und es macht schmutzige Hände.
Dafür gibts Seen wie diesen, wo man sie sich wieder in Unschuld waschen kann. Peter lachte. Ach, Baahbara, du bist so vorsichtig. Du bist so bemüht, was vor und hinter dir ist, nicht aus den Augen zu lassen, daß dir das Jetzt wegschlüpft. Und außerdem –
Was außerdem?
Außerdem bist du genauso ein Egoist wie ich. Du bist nur ungeschickter. Du willst auch, was ich will, aber du weißt nicht wozu. Du hast es nie gewußt und willst es gar nicht wissen, und hast dich eingerichtet und die Tür zugemauert. Sicher bist du da drinnen, aber wenn du willst, daß jemand stehenbleibt, der draußen vorbeiläuft, kannst du nur rufen. Was anderes bleibt dir nicht. Ich kann ihn packen.
Peter zog seine Hand wieder zurück. Verzeihung.
Nun hast du also Geld und mußt dich nicht umbringen, sagte Barbara. Wie lange nicht?
Bis das Kapital aufgebraucht ist.
Und dann?
Vielleicht beschaffe ich mir neues.
Und das willst du ewig so weitermachen?
Ewig? Nein. Ewig ist ein Wort von dir.
Ich weiß auch, daß es kein ewig gibt, sagte Barbara.
Du bist eine Romantikerin.
Und du ein Schwein.
Glaubst du das wirklich? fragte Peter.
Nein, sagte Barbara.
Siehst du.
Trotzdem wärs schön, wenn du anders wärst, sagte Barbara. Es ist so lächerlich, angesichts –
Angesichts wessen?
Angesichts wirklicher Probleme.
Als ob das eine vom andern zu trennen wäre. Das denkst nur du, die niemanden braucht, die nichts braucht und nichts davon weiß.
Ich nichts brauchen! rief Barbara.
Was brauchst du denn? fragte Peter. Was brauchst du wirklich? Sei ehrlich.
Im Gegensatz zu dir, was.
Du bist die Ehrliche von uns beiden. Sag, Baahbara, was brauchst du wirklich?
Johann stieg aus dem Wasser, nackt, die Schultern im Mondlicht, tiefe Schatten unter den Schlüsselbeinen, Tropfen rollten die Schläfen, die Brust, die Arme und Beine hinab.
Arbeit, sagte Barbara.
Peter stand auf und sagte zu Johann: Komm, wir springen.
Hier vom Baum. Die Äste hängen über. Oder hast du Angst?
Johann sah zu Barbara. Die hatte sich umgedreht und starrte auf den See.
Die ersten Sprünge waren einfach. Sie kletterten auf den starken Ästen nach draußen und sprangen, und das Wasser schäumte weißgrün aus der Schwärze hoch. Dann stiegen sie höher. Barbara beobachtete sie. Sie sah die beiden in acht Meter Höhe balancieren. Johann rutschte mit einem Fuß ab.
Hört auf. Kommt runter! schrie Barbara, aber sie sprangen.
Dann kamen sie ihr prustend aus dem Wasser entgegen. Peters Augen glühten. Jetzt ganz nach oben. Er deutete hinauf. In zwölf Meter Höhe stand noch ein Ast vom Baum ab, ein schwarzer gichtiger Finger gegen den mondbeschienenen Himmel.
Das ist Wahnsinn, protestierte Barbara. Johann blickte unschlüssig nach oben. Sein dünner Körper war von Gänsehaut überzogen und zitterte von der Kälte des tiefen Wassers. Die weiße Haut hatte im Mondlicht einen grünen Schimmer. Barbara sah die Rippen, die vorstehenden Beckenknochen und die langen Beine.
Hört auf damit, sagte sie. Von da oben müßt ihr nicht nur runterspringen, sondern auch weit nach vorne, sonst kommt ihr nicht über die Äste weg. Und wo wollt ihr euch da oben festhalten, um abzuspringen. Das ist Selbstmord.
Peter drehte sich um zu ihr und schob die blonde Haarsträhne über den Kopf nach hinten, die ihm über die Augen gefallen war.
Aber Baahbara, sagte er, weißt du es denn immer noch nicht? Wir glauben nicht an Selbsterhaltung.
Sie kletterten hoch, Peter voraus, Johann hinterher. Er hielt sich an den gleichen Stellen fest wie Peter und starrte gegen den Stamm und auf Peters Füße über seinem Gesicht. Sie kletterten höher als zuvor. Dann waren sie an der letzten Gabel angekommen. Der Ast ragte weit hinaus, massiv, knorrig. Peter hockte sich rittlings darauf und rutschte vorwärts. Seine Beine baumelten ins dunkle Nichts hinab. Eine Wolke, die vor den Mond getreten war, zog weiter, und das Licht schien voll, weiß und kühl auf Peter, der sich zu Johann herumdrehte und ihm zunickte. Johann sah ihn an und dachte, daß er Peter sein wollte. Dann richtete Peter sich langsam auf, stützte sich mit einer Hand, stieß sich ab, sprang in die Tiefe und war verschwunden.
Johann rutschte vorsichtig an das äußerste Ende des Astes, sein Hintern war schweißnaß. Unter ihm war das Dunkel des Laubes, darunter das Schwarz des Wassers. Er erhob sich mit zitternden Knien, verlor das Gleichgewicht, stieß sich noch mit einem Fuß ab und fiel.
Barbara stand bis zur Brust im Wasser, und dann kam das zweite sausende Etwas vom Himmel geflogen und schlug mit peitschendem Knall auf die Oberfläche des Sees. Das Wasser spritzte auf, und Tropfen regneten auf Barbaras Stirn und liefen ihr die Wangen hinab. Als Johann prustend auftauchte, schüttelte sie den Kopf und wandte sich ab.
Das war das Ende des Sommers. Am nächsten Tag kam der Regen, und mit dem Regen kam der Herbst.