Mai 1993
»Mach das aus«, sagte Manuela.
Er drehte lauter. »Warum denn, mir gefällt das!«, rief er gegen die Musik an. »I’m crucified«, sang eine unangenehm hohe Frauenstimme. Der Refrain wurde endlos wiederholt. Kreuzigung als Dauerschleife. Und die Band hieß auch noch »Army of Lovers«. Martialischer Kitsch. Der Sound der neuen Zeit, dachte Manuela.
»Mach das aus, bitte!« Ihre Stimme überschlug sich fast. Sie wollte reden. Doch stattdessen befand sie sich mit ihm auf einem seiner Renommiertrips. Er hatte sie eingeladen. Er war großzügig, wie immer, wenn sie ausgingen. Sie tranken Cocktails im »Le Ro« in der Fritz-Reuter-Straße. Sie aßen beim Griechen am Bahnhof oder in einer Kneipe namens »Gartenlaube«, halb Restaurant, halb Jugendstil-Antiquariat. Manuelas Kommilitonen kauften sich währenddessen nach Holz schmeckenden französischen Landwein im »Portcenter«, dem riesigen auf der Warnow schwimmenden Supermarkt im Stadthafen. Und mit ihren letzten paar Mark holten sie sich vor Mayonnaise triefenden Nudelsalat in einem Imbiss gegenüber vom »Warnow-Hotel«. Der nannte sich »Schwedengrill«, aber das Speisenangebot hatte nicht mehr viel mit Skandinavien zu tun, wenn die Zutaten die Fritteuse verlassen hatten.
Er hatte an der Universität eine Assistentenstelle bekommen, obwohl er gerade erst sein Studium abgeschlossen hatte. Außerdem wurde er laufend von Unternehmen als Berater angeheuert. Es fehlte den Ex-DDR-Unternehmen, die sich gerade so über die Wendezeit gerettet hatten, an fähigen Leuten, und so griffen sie nach jedem, dessen Hochschulabschluss neuzeitliches Wissen versprach. Dafür revanchierten sie sich mit Honoraren in fantastischen Höhen. Er war zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Ein Glückpilz war er, und das wollte er allen zeigen.
Nachdem die »Army of Lovers« zum hundertsten Mal den Refrain wiederholt hatte, drückte Manuela wahllos auf Knöpfe an der Stereoanlage im Armaturenbrett, um das Pop-Elend zu beenden.
»Nimm die Finger weg«, herrschte er sie an und bediente vorsichtig den Lautstärkeregler.
Sein neues Auto. Er hatte sich einen VW Passat geleistet. Manuela mochte den Wagen nicht. Von vorn sah er aus wie ein großer, dummer Frosch. Ohne Kühlergrill wirkte die Front irgendwie unvollständig, fand Manuela. Außerdem war das Auto riesengroß und spießig. Die Sonderausstattung hatte er sich einiges kosten lassen, und außer einer Halterung für den tonnenschweren Akku des Mobiltelefons verfügte der Wagen über einen CD-Player. Leider besaß er nicht allzu viele CDs, weshalb der letztjährige Sommerhit bei ihm auch in diesem Frühjahr noch ein Dauerbrenner war.
Manuela hörte immer noch Schallplatten und war zufrieden damit. Wenn sie telefonieren wollte, pilgerte sie zu der Telefonzelle in der Budapester Straße gleich um die Ecke. Zu jeder Tages- und Nachtzeit musste man sich dort in die Schlange der Wartenden einreihen, und wenn man selbst einmal ein etwas längeres Gespräch führte, wurde von draußen die Tür aufgerissen und jemand bölkte »Nu is mal gut, langsam« ins Innere. Manuela störte das nicht. Mit der Verfügbarkeit des Komforts wich für sie auch sein Reiz.
Er hatte ihr geholfen, bei allem. Beim Wechsel des Studienplatzes, als sie merkte, dass es die Lateinamerikawissenschaften bald nicht mehr geben würde. Ein ganzes Institut wurde »abgewickelt«, als wäre die Treuhand auch für den Hochschulbereich zuständig. Er hatte ihr BWL schmackhaft gemacht, ihr beim Lernen für die Klausuren geholfen. Sie waren sich nähergekommen. Er war charmant, er war klug, er war ein leidlicher Liebhaber. Sie hatte sich darauf eingelassen. Er war ein Kumpel, ein Freund vielleicht. Aber er war nicht der Mann, den sie liebte. Das wusste sie jetzt.
Sie musterte ihn von der Seite und musste lächeln. Er lebte seine Vorliebe für fliederfarbene Zweireiher hemmungslos aus. Dazu eine sehr weit geschnittene, sehr ausgewaschene Jeans. Die Achtziger waren wohl endgültig vorbei.
»Halt an«, sagte Manuela. »Ich möchte ein Stück gehen.«
»Ich suche uns nur schnell ein lauschiges Plätzchen«, antwortete er. Er fuhr die Parkstraße entlang und bog oben an der weit geschwungenen Linkskurve rechts ab, vorbei am NDR-Gebäude, in den Barnstorfer Wald. Sie passierten die Johanniskirche, er fuhr weiter Richtung Zoo, parkte dann in der Nähe des Eingangs. Dort stiegen sie aus.
Nachdem sie eine ganze Weile schweigend nebeneinander hergegangen waren, lehnte sich Manuela an einen Baum.
»Ich weiß nicht, wie lange ich das noch aushalte«, sagte sie und blickte ihn an.
»Was aushalten?«
»Das … alles«, antwortete sie unschlüssig.
»Du musst mir schon genauer sagen, worum es geht, Schätzchen.«
»Nenn mich nicht Schätzchen«, sagte Manuela matt. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich die Entwicklung mittragen möchte, die das hier alles nimmt«, sagte sie nach einer Pause.
»Ich verstehe dich nicht. Wir sind doch diejenigen, die diese Entwicklung bestimmen können. Wir haben jetzt die Chance, etwas zu machen. Das Geld liegt auf der Straße.« Er knöpfte sein Jackett auf und stemmte die Arme in die Seiten.
»Das ist es ja. Genau darum geht es mir eben gerade nicht.« Manuela lehnte sich mit dem Rücken an einen Baum.
»Mädchen, die Zukunft ist die …«
»… ist die Ökonomie, ich weiß. Genau das ist es, was mir Angst macht.«
»Was willst du denn?« Er wirkte jetzt sehr ungeduldig. »Dann geh doch in die Politik. Deine Bündnis-90-Leute reißen sich ja förmlich um dich.«
»Ich weiß, dass du die nicht magst. Aber ich weiß, dass sie für die richtige Sache kämpfen.«
»Hör auf mit deiner Klassenkampfrhetorik, das ist vorbei.« Er trat mit dem Fuß nach ein paar hohen Gräsern. »Langhaarige Weltverbesserer sind das. Und jetzt lassen sie sich auch noch von den Grünen aufkaufen. Die bekommen auf absehbare Zeit keinen Fuß mehr in den Bundestag.«
»Diese Weltverbesserer haben die Wende gemacht, von der gerade sehr viele Leute profitieren. Besonders du.«
Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Die haben sich die Wende vielleicht ausgedacht. Gemacht haben sie andere. Das waren die Käufer, und die wollen jetzt auch bedient werden. Sei doch nicht so weltfremd.«
»Ja, vielleicht sollte ich die Welt kennenlernen«, sagte Manuela.
»Wie meinst du das?«
Manuela dachte an ihr BWL-Studium, das ihr keine Freude mehr machte. Sie wollte die Welt nicht nach Zahlen ordnen, wie er das tat. Vielleicht war auch er selbst das Problem. Mit seiner hemdsärmeligen Art teilte er die Welt in Schwarz und Weiß, und sein Erfolg gab ihm Recht, immerzu nur Recht. Oder war sie einfach zu naiv? Ging es um wirklich nichts anderes mehr als um kaufen und verkaufen? Abstand. Ich brauche Abstand, dachte sie.
»Ich gehe nach Amerika«, sagte sie.
Er sah sie anerkennend an. »Das ist deine beste Idee seit langem.« Er ging ein paar Schritte auf und ab, fuhr mit den Füßen durch das alte Laub auf dem Boden.
»Ich könnte mich um eine Postgraduiertenstelle bewerben. In ein, zwei Monaten habe ich meine Dissertation fertig. Leute von ostdeutschen Unis nehmen die gerade mit Kusshand. Spätestens Ende des Jahres sind wir in Übersee.«
Manuela sah ihn entgeistert an.
»Nicht wir. Ich. Ich gehe nach Amerika. Ich brauche Abstand. Zu allem. Zu dir.« Manuela sah ihn an. Dann drehte sie sich um, weil er nicht die Tränen sehen sollte, die ihr in die Augen stiegen. Sie legte den Unterarm an den Baum, an dem sie gelehnt hatte, blickte nach unten auf ihre Füße, die in bunten Söckchen und Sandalen steckten.
»Ich möchte nicht mehr mit dir zusammen sein«, sagte sie.
Der Schlag traf sie hart und präzise. Der Körper hatte keine Zeit mehr, die Empfindung von Schmerz in Manuelas Bewusstsein zu schicken. Sie fiel zur Seite und blieb auf dem Rücken liegen, ihr linker Arm halb unter dem Körper, der rechte hatte im Fallen noch eine ausladende Geste gemacht, die die gesamte Umgebung, auch ihn, einschloss, ein letzter Segen. Ihre starr gewordenen Augen blickten durch die Baumkronen hindurch in den Himmel. Ihr Gesicht zeigte einen Ausdruck der Gleichgültigkeit, der Gelassenheit. Blut sickerte durch ihre dichten dunklen Haare auf den Boden.
Er blickte auf die am Boden Liegende herab. Erstaunt, entrüstet fast. Der Stein machte ein dumpfes Geräusch auf dem Waldboden, als er ihn fallen ließ. Er konnte sich nicht erinnern, ihn überhaupt aufgehoben zu haben. Egal. Völlig egal. Nicht über das Vergangene nachdenken. Vergangenheit macht krank. Zukunft zählt. Das ist alles.
Er wischte die rechte Hand abwesend an seinem Jackett ab. Später beseitigen, das Sakko, dachte er. Sein Kopf begann wie von allein die nächsten Schritte abzuwägen. Was er brauchte, war eine Schaufel.
Er blickte nach oben, durch die Baumkronen in den Himmel. Es war jetzt fast dunkel. Er fröstelte und knöpfte sein Jackett zu. Es war kalt. Zu kalt für die Jahreszeit, dachte er. Wieder einmal. Das nannte sich nun Frühling. Er atmete tief durch. Der Körper vor seinen Füßen war kaum noch zu sehen, als machte er sich daran, ganz von allein zu verschwinden. Nur Manuelas Gesicht schimmerte hell auf dem fast schwarzen Boden.
Er drehte sich abrupt um und ging durch den Wald zum Auto. Der Passat schimmerte elegant durch die nächtlichen Bäume und Sträucher. Ein Juwel. Spaziergänger waren in diesem Teil des Barnstorfer Waldes nicht mehr zu erwarten. In einer halben Stunde würde er wiederkommen. Spätestens. Mit einer Schaufel. Er setzte sich hinters Steuer, schlug die Fahrertür zu und ergriff mit beiden Händen das Lenkrad.
Die Fassung verloren. Er hatte für einen Moment die Fassung verloren und nicht gewusst, was er tat. Das durfte ihm nicht wieder passieren, dachte er. Nie mehr.
Mit diesem Gedanken drehte er den Schlüssel im Zündschloss um und startete den Motor.