Leben
Gregor hatte einen Kloß im Hals. Er schloss sein Fahrrad an einem Geländer direkt vor der Pathologie an, stieg beklommen die Treppen des Eingangsportals hinauf und klingelte. Summend sprang die Tür auf und gab den Blick frei in einen finsteren Korridor. Ein Schild wies zu den Seziersälen. Es roch süßlich, stellte Gregor fest, aber noch bevor er einen Blick in einen der hohen Räume werfen konnte, kam ein Mann ihm ungestüm entgegen. Blondes, halblanges Haar, ein wehender Trenchcoat.
»Professor Leitmeyer«, rief Gregor, erleichtert und gleichzeitig enttäuscht darüber, dass er nicht bis ins Herz der Finsternis hatte gehen müssen, um den Chef-Rechtsmediziner der Universität zu sprechen.
»Herr Simon«, sagte Leitmeyer mit bayrischem Dialekt. »Leider ist mir ein Termin dazwischengekommen, aber nur ein kurzer. Wenn Sie wollen, nehme ich Sie mit und wir können im Auto reden.«
Gregor willigte ein, wenn auch seine Beklommenheit wieder da war. Er eilte dem Mediziner hinterher auf den Parkplatz vor der Pathologie. Sie stiegen in einen knallroten Van. Der Professor parkte aus, fuhr über die Rembrandt- links in die Dethardingstraße.
»Stört es Sie, wenn ich Musik anmache?«
Gregor hatte den Schreibblock mit den vorbereiteten Fragen aus seiner Umhängetasche geholt. »Kommt darauf an. Nein, im Grunde nicht.«
Leitmeyer ließ eine CD in den Schacht gleiten. Es ertönte eine Zither. Dann ein Akkordeon. Schließlich begann eine kehlige Frauenstimme eine Weise zu singen. In tiefstem Bayrisch. Gregor verstand kein Wort.
»Was haben Sie denn erwartet?«, fragte Leitmeyer.
Gregor merkte, dass er ungläubig den CD-Player anstarrte. Er fasste sich wieder.
»Um ehrlich zu sein: skandinavischen Heavy Metal oder etwas Ähnliches.«
»Immer diese Klischees über Rechtsmediziner. Warum werden wir immer als morbid und todessehnsüchtig dargestellt? Rechtsmedizin ist ein unglaublich facettenreiches Gebiet.«
»Das weiß ich doch«, sagte Gregor. Er hatte einmal eine große Reportage über die rechtsmedizinischen Blutanalysen geschrieben. Die Top Ten spektakulärer Alkoholtests bei Verkehrssündern. Spitzenreiter war ein Mann mit 4,7 Promille gewesen. Sein Fahrstil war in Ordnung, aber als ihn die Polizei bat, Warnkreuz und Verbandskasten zu zeigen, fand er den Weg zum Kofferraum nicht.
Gregor blickte nach hinten. Er sah noch drei weitere Sitze und dahinter jede Menge Platz.
»Haben Sie eine große Familie? Ihr Wagen sieht nach ausgedehnten Urlaubstouren aus.«
»Nicht für die Familie. Den Kofferraum brauche ich, wenn ich mal wieder einen meiner Klienten übers Wochenende mit nach Hause nehmen muss.« Leitmeyer bemerkte Gregors fassungslosen Blick und brach in schallendes Gelächter aus. »Ein Scherz!«, rief er und lachte weiter.
»Ich wollte mit Ihnen über die Sache mit dem Zoo reden«, sagte Gregor, als sich der Rechtsmediziner wieder beruhigt hatte.
»Richtig, das Äffchen.« Leitmeyer wischte eine Träne aus dem Augenwinkel. »Ihnen ist schon klar, dass ich Ihnen das eigentlich nicht sagen darf. Also nur so viel: Das Tier ist an schweren Kopfverletzungen gestorben. Stumpfe Gewalt. Erschlagen, nicht erwürgt.«
»Das haben eigentlich alle erwartet. War das denn so unklar?«
»Wie man’s nimmt. Das Tier hatte multiple Verletzungen. Mehrere davon hätten auf längere Sicht tödlich sein können. Aber gestorben ist Fräulein Affe an einer Fraktur des Stirnschädels mit anschließender massiver Einblutung in den Stirnlappen. Mal abgesehen davon, dass die Hirnsubstanz durch den Aufprall verletzt war.« Leitmeyer bog ab in die Parkstraße Richtung Barnstorfer Wald. Gregor erinnerte sich an das Rennen, das er sich hier mit Bernd geliefert hatte. Das war gerade erst zwei Tage her.
»Ist eigentlich die Anatomie des Affen die gleiche wie die des Menschen?«
»Vergleichbar. Wenn man uns auf den Schädel schlägt, ist es für alle gefährlich. Für Menschen wie Affen. Letztere haben vielleicht einen etwas härteren Kopf und ein wenig mehr Platz darin.«
»Machen Sie das öfter – Tiere sezieren?«
»Wir nennen das Nekropsie, Herr Simon. Wir nehmen keinen Frosch auseinander und halten die Eingeweide gegen das Licht. Wir suchen nach Todesursachen. Und: Nein, wir machen das nicht öfter. Nur wenn die Polizei oder die Veterinärmediziner uns einen solchen Fall zutragen.«
»Läuft so eine Untersuchung ab wie beim Menschen?«
»Ganz genau so. Erst wird die äußere Erscheinung protokolliert. Dann wird mit einem Schnitt der Hals geöffnet und das Lungen-Gaumen-Kehlkopf-Paket entnommen …«
»So genau wollte ich das nicht wissen«, unterbrach Gregor ihn und sah angestrengt aus dem Fenster. Sie passierten die bei Tageslicht überaus trostlosen Studentenclubs, holperten über die Bahnschienen und reihten sich in die Rechtsabbiegerschlange ein.
»Eines vielleicht noch«, meinte Leitmeyer. »Aber nur, wie heißt das doch so schön: Unter dreien.«
»Na los, Gott und ich hören.« Gregor, dem immer noch ein wenig schlecht war, bemühte sich, gelassen zu wirken.
»Wie ich schon sagte. Das Tier hatte vielfältige schwere Verletzungen. Am Schädel, an der Schulter, im Brustbereich, am Becken. Eine Orgie war das.«
»Der Verdächtige, den die Polizei gestern festgenommen hat, ist groß und kräftig. Und er hat eine Kampfschwimmer-Ausbildung, wie ich zufällig weiß. Aber ein perverses Gewaltverbrechen kommt doch gar nicht mehr in Frage, Professor Leitmeyer.«
»Nein, kein Perverser. Auch nicht unbedingt jemand mit Ausbildung. Im Gegenteil, ein Mensch wie du und ich. Jemand mit einer Nahkampfausbildung schlägt gezielt zu, der weiß auch im Affekt, wohin er treffen muss. Unser Affenmörder hat um sich geschlagen. Ziellos. Der wollte den Affen vermutlich nicht umbringen. Die Situation muss eskaliert sein, oder er hat es einfach mit der Angst zu tun bekommen. Der Kampf währte nur kurz, die Affenfrau war schnell tot, weil schon einer der ersten Schläge gesessen haben muss. Trotzdem haben wir unter einem ihrer Fingernägel ein Stück Stoff gefunden. Blaues, festes Material. Uniform, würde ich sagen. Wird noch genauer untersucht.«
Sie waren die Satower Straße entlanggefahren und hielten jetzt direkt vor dem Friedhof. Leitmeyer zog die Handbremse.
»Herr Simon«, er drehte sich zu Gregor und sah ihm fest in die Augen. »Schreiben Sie, was Sie wollen. Aber das mit dem Stoffrest muss noch geheim bleiben. Sonst bekommen Sie nie wieder auch nur den Funken einer Information von mir.«
Er zog den Zündschlüssel ab. »Wir sind da.«
»Was wollen Sie auf dem Friedhof?«, fragte Gregor.
»Topfgucker«, sagte Leitmeyer, warf seine Autotür zu und verschloss den Wagen. »Kommen Sie mit.«
Sie betraten das Krematorium.
»Wie viele heute?«, fragte Leitmeyer zwei Männer, die ihn mit Handschlag begrüßten. »Herr Simon hier ist von der Presse, macht aber keine Fotos, nicht wahr, Herr Simon?«
»Sechs, Herr Professor«, antwortete einer der beiden.
Sie gingen in einen Saal, in dem sechs schlichte Särge aufgereiht waren. Simon zog sich der Magen zusammen. Er hatte noch nie einen Toten gesehen, aber schon oft überlegt, wer es beim ersten Mal sein würde. Seine Mutter? Sein Vater? Die Eltern von Madeleine? Die Krematoriumsmitarbeiter hoben den Deckel ab, und ehe Gregor sich abwenden konnte, sah er sie. Seine erste Tote. Eine alte Frau mit weichem grauen Haar und einem entspannten Gesicht.
»Adele Birnbaum«, las Leitmeyer laut aus einer Art Krankenakte. »98 Jahre, und sieht noch so frisch aus. Lungenentzündung. Gute Nacht, Adele«, sagte er und nickte den beiden Männern zu. Die legten den Deckel wieder auf den Sarg. Gregor ging in die Knie. Die beiden Mitarbeiter nahmen ihn unter den Achseln und lehnten ihn an eine Wand, an der Gregor mit dem Rücken nach unten rutschte und sitzen blieb.
»Hat er sich wohl ein bisschen übernommen«, sagte der eine.
Gregor hielt die Augen geschlossen. Er sah die alte Frau vor sich.
Die drei anderen schritten zur nächsten Leiche. »Professor Krawinkel«, hörte er Leitmeyer rufen. »Davon habe ich schon gehört. 82, schönes Alter. Diagnose eindeutig. Gute Nacht, Herr Kollege.«
Nur an einem Sarg blieb Leitmeyer etwas länger stehen. Untersuchte den Körper, studierte die Akte, murmelte vor sich hin. »Der muss noch mal zurück«, sagte er schließlich.
»Das ging doch jetzt schnell, oder?«, fragte der Forensiker gut gelaunt, als sie wieder im Auto saßen.
»Schnell?«, antwortete Gregor. »Mein ganzes Leben ist an mir vorübergezogen. Machen Sie das öfter?«
»Täglich. Einer aus unserem Institut kontrolliert die Leichen vor der Einäscherung. Und gar nicht so selten finden wir jemanden mit unklarer Todesursache. Der wird dann noch einmal untersucht. Was meinen Sie, in wie vielen Familien dem bettlägerigen Opa oder dem siechen Ehemann eine Dosis zu viel von der guten Medizin gegeben wird.«
»Sie meinen Sterbehilfe?«
»Ich meine Mord.«
Als sie vor der Pathologie ankamen, stieg Gregor aus. Leitmeyer hatte noch einen anderen Termin, er hupte kurz und fuhr weiter. Gregor sah noch den Aufkleber auf dem Heck des Vans: Tod fährt mit.
»So viel zum Klischee«, rief er halblaut hinterher.