Lust
Evelyns Mobiltelefon surrte. Sie griff nach dem Gerät. Jeanette war schneller.
»Jetzt nicht telefonieren.« Sie hielt das Handy so, dass Evelyn es nicht erreichen konnte.
»Das ist Grieshaber, das ist vielleicht wichtig.« Evelyn war den Tränen nah.
»Der hat dich heute schon dreißig Mal angerufen, das muss jetzt warten.«
Evelyn legte den Kopf auf das Lenkrad. »Ich kann das nicht. Ich schaff das alles nicht«, sagte sie mit erstickter Stimme.
Jeanette zog sie zu sich. »Unsere Nerven liegen blank. Aber wir müssen da jetzt durch. Es war richtig, dass wir nicht die Polizei eingeweiht haben. Und es ist richtig, dass wir hier sind. Also lass es uns jetzt zu Ende bringen.«
Evelyn seufzte und drückte sich die Handballen auf die Augen. »Also gut.«
Sie stiegen aus. Evelyn nahm eine Plastiktüte von der Rückbank und sah hinein. Geldscheinbündel lagen darin ungeordnet wie ein Haufen rechteckiger Bauklötze. Evelyn stopfte die Tüte in ihre Umhängetasche und schlug die Tür zu. Sie sah sich um. Anfangs hatte sie sich über den Treffpunkt gewundert. Knochenberg. Mitten in der Stadt. Jetzt aber musste sie feststellen, dass ihre Erinnerung an diese Gegend mehr als zwanzig Jahre alt war: Wo früher Autos gefahren und Menschen zur S-Bahn gestolpert waren, da herrschte jetzt völlige Abgeschiedenheit. Die Straßen führten ins Nichts, die Gebäude standen leer, die Fenster waren eingeschlagen, die Gehwegplatten waren aufgebrochen, junge Birken wuchsen durch das Pflaster.
»Wer auch immer dieser verrückte Erpresser ist, er kennt sich in Rostock aus«, sagte Jeanette. »Wenn man in dieser Stadt einen Krimi spielen lassen wollte, dann hier.«
»Wir sind mittendrin in einem Krimi. Vergiss das nicht.« Evelyn sah zu Jeanette hinüber. Dass sie vergangene Nacht fast gegrillt worden war, sah man ihr nicht an. Sie lehnte am Wagen, die Arme verschränkt. Perfekt geschminkt, perfektes Haar. Die Röhrenjeans fast ein bisschen zu eng, die Schuhe fast ein bisschen zu hoch.
»Ich glaub, es geht los«, sagte Jeanette.
Evelyn drehte sich um. Ein mittelalter Mann steuerte direkt auf sie zu. Weiche, unmoderne Lederjacke. Kragen überm Pullover. Dunkle Stoffhose.
»Sieht aus, als hätte er sich für uns herausgeputzt«, flüsterte Evelyn.
»Ja, aber er hat sich im Jahrzehnt geirrt«, antwortete Jeanette.
Der Mann kam näher und blieb schließlich ein paar Schritte entfernt stehen.
Sie sahen sich an. So ein Wicht, dachte Evelyn. Sie hatte eine andere Art von Mann erwartet. Groß, finster, gefährlich. Oder klein und fies und noch gefährlicher. Ein Phantom, dessen Gesicht nicht zu sehen ist, selbst wenn die Kamera ganz nah heranfährt. Aber der hier sah aus wie einer, der sein Pausenbrot auseinanderklappt und sich dann bei den Kollegen beschwert, dass seine Frau wieder den falschen Belag gegriffen hat. Jagdwurst statt Salami.
»Bringen wir es hinter uns.« Evelyn nahm die Tasche von der Schulter.
Der Mann kam vorsichtig näher.
»Ich bin Dieter.«
»Wer wir sind, wissen Sie ja wohl.«
»Ich denke schon. Ich wusste nicht, dass ihr zu zweit …«
»Wie geht es jetzt weiter?« Evelyn wäre am liebsten auf ihn losgegangen, aber sie zwang sich zur Ruhe. Vielleicht war das ein Psychopath, der plötzlich ein Drahtseil aus seiner Nappalederjacke ziehen und sie beide erwürgen würde.
»Wie viel?«, fragte Dieter.
»220«, sagte Evelyn.
Dieter lächelte. »Da bin ich aber erleichtert. Zu euch?«
»Zu uns?« fragte Evelyn irritiert.
Dieter blickte zu Boden. »Meine Frau ist zu Hause. Da können wir nicht hin.«
Evelyn wurde ungeduldig. »Wie wäre es denn, wenn wir die Sache gleich hier und jetzt erledigen?«
»Hier draußen?« Jetzt sah Dieter erschrocken aus. »Ich hab noch nie …«
»Wir auch nicht«, entgegnete Evelyn. »Offenbar ist es für uns alle das erste Mal.«
Dieter straffte sich. »Also gut«, sagte er mit fester Stimme. Er ging auf Jeanette zu. »Du zuerst.«
»Moment mal, das Geld«, sagte Evelyn und zerrte den Plastikbeutel aus ihrer Tasche, öffnete ihn und hielt ihn Dieter hin.
»Alles klar.« Dieter griff in seine Hosentasche und warf ein Bündel Scheine in die Tüte. Dann trat er zu Jeanette und umfasste ihre Hüften. Eine Sekunde später lag er auf dem Bauch, die linke Gesichtshälfte schmerzhaft in den Schotter gedrückt und mit einem bohrenden Knie im Kreuz. Auch seine rechte Schulter fühlte sich nicht gut an, denn Jeanette hatte ihm den Arm auf den Rücken gedreht. Sein eben noch zum Kuss gespitzter Mund schmeckte Straßendreck.
»Grundregeln der Selbstverteidigung«, sagte Jeanette, als sie wieder im Auto saßen. Jetzt saß die junge Frau hinterm Steuer, Evelyn mit zitternden Händen auf dem Beifahrersitz. Sie drehte sich immer wieder um, blickte zu der Stelle, an der Dieter hinkend und fluchend im Gebüsch verschwunden war. Kurz danach hatten sie ihn mit einem Kleinwagen wegfahren sehen, den er versteckt geparkt hatte.
Jeanette startete den Motor. »Jetzt kommt kein Erpresser mehr.«
»Was meinte dieser Kerl eigentlich damit, dass wir wohl nicht zum House of Love gehören?« fragte Evelyn.
Jeanette fuhr die Straße hinunter. Hinter einer Mauer erschien ein gepflegter Flachbau. Autos parkten davor, schwarze Limousinen konnte Evelyn sehen.
»Das House of Love.« Jeanette wies zu dem Motel. »Rostocks bekanntester Puff. Wusstest du das nicht?«
Evelyn schüttelte den Kopf und nahm ihr Handy. Als sie es wieder angeschaltet hatte, empfing es eine Flut von Nachrichten. Rückrufbitten, die meisten von Polizeisprecher Grieshaber. Evelyn wählte seine Nummer. Das Gespräch mit ihm war nur kurz. Evelyn klappte wortlos das Handy zusammen. Ihr Gesicht war grau geworden.
»Was ist?«, wollte Jeanette wissen.
»Sie haben einen Toten gefunden. Im Keller vom Verwaltungsgebäude.«