Edle Tropfen
Gregor überlegte, ob er die Zunge benutzen sollte. Aus Gründen der Hygiene entschied er sich für das Kinn. Er reckte es vor, versuchte, den Klingelknopf seiner eigenen Wohnung zu erreichen. Als der Summer summte, drückte er die Tür mit dem ganzen Körper auf. Oben wartete Madeleine. Die Arme verschränkt, einen Fuß vorgestellt, die Miene ernst. Dieser Körperhaltung würde unweigerlich ein Streit folgen, der den ganzen Abend und vermutlich auch noch den kommenden Morgen dauern würde. Er versuchte es trotzdem mit guter Laune. Die Arme überladen mit Bioprodukten in einer langsam aufreißenden Papiertüte drängte er an ihr vorbei in die Wohnung. Auf dem Flur verlor er nacheinander die Vollkornnudeln, das eingeschweißte Pesto-Focaccio, den Soja-Hirtenkäse und die handgepflückte Feldsalatmischung. Auf dem Küchenfußboden landete der Rest.
Madeleine stand im Türrahmen und beobachtete, wie er seinen üppigen Einkauf wieder aufsammelte.
»Du wolltest kochen heute Abend«, sagte sie.
»Ich koche, deshalb hab ich ja eingekauft.« Gregor deponierte den Büffelmozzarella im Kühlschrank. »Wo sind die Kinder?«
»Gregor, es ist halb zehn. Die Kinder sind im Bett. Du kannst gern noch etwas kochen, aber bitte nur für eine Person. Wir haben schon gegessen.«
»Tut mir leid«, sagte er und versuchte Madeleine in den Arm zu nehmen. Sie entwand sich ihm wie eben die Papiertüte. Gregor fühlte ungestümen Ärger in sich aufsteigen. Aber Madeleine hatte ja Recht. Er war zu spät gekommen, er hatte ihren gemeinsamen Abend vermasselt.
Gregor ging zu ihr ins Wohnzimmer. Im Fernsehen lief eine amerikanische Serie mit einem Rechtsmediziner in der Hauptrolle. Er setzte sich neben sie auf das Sofa und nahm einen Schluck aus ihrem Weinglas. Als er das Bio-Zeichen auf dem Etikett der Flasche sah, unterdrückte er einen Fluch, denn der Wein schmeckte, als sei er mit Zitronensaft veredelt worden. So etwas würde er nicht einmal mehr zum Kochen benutzen. »Edler Tropfen«, sagte Gregor mit gekräuselten Lippen. Madeleine reagierte nicht.
Er legte den Arm um sie.
»Entschuldige, ich hab Stress gehabt heute. Der Chef war unausstehlich. Und dann diese Sache im Zoo, das hat alles Zeit gekostet. Großer Beitrag, Videopodcast einrichten. Dann dauert es eben etwas länger, das weiß man vorher nie.«
»Die tote Affenfrau? Davon hab ich im Radio gehört, das ist ja furchtbar.« Gregor bemerkte erfreut, dass Madeleines Widerstand nachließ.
Er stützte die Ellenbogen auf die Knie und bedeckte das Gesicht mit den Händen.
»Und dann noch das Baby«, seufzte er.
»Welches Baby?«, fragte Madeleine.
»Das Affenbaby. Die tote Äffin war Mutter, drei Monate ist das Kleine gerade alt.«
»Oh nein, das wusste ich nicht.«
»Ich hab es gesehen. Es ist noch ganz klein.« Mit den Händen deutete Gregor ein Wesen an, nicht größer als ein Dinkelbrot.
»Es heißt Anna.«
Ein Mädchen. Seit der Geburt ihrer Töchter hatte Madeleine ein inniges Verhältnis zu jeglicher Form von Nachwuchs. Nun sprang sie auf, schaltete den Fernseher aus und ging ein paar wütende Schritte im Wohnzimmer auf und ab. Jetzt hab ich übertrieben, dachte Gregor resigniert.
»Diese Bestien. Diese Unmenschen!«
»Bis jetzt wird davon ausgegangen, dass es nur ein Täter war«, sagte Gregor.
»Ich meine die Bestien, die andere Lebewesen fangen, um sie in Käfige zu sperren, vorzuführen und auch noch Geld dafür zu nehmen«, fauchte Madeleine. Vor Jahren hatte auch sie zu den Darwineum-Gegnern gehört und an einigen Demonstrationen teilgenommen. »Alles Verbrecher.«
Gregor dachte an die Zoodirektorin. Und an ihre Assistentin.
»Ich finde nicht, dass das Unmenschen sind. Die machen auch nur ihren Job.«
Madeleine baute sich vor ihm auf und sah ihn an. Böse und sexy. Wenn Madeleine sauer war, sah sie besonders schön aus. Je unnahbarer, desto hübscher. Man kann nicht alles haben, dachte er und sank ins Polster.
»Du meinst, die tun nur ihre Pflicht? Mit dieser Mentalität sind schon Kriege geführt worden. Und im Krieg Mensch gegen Tier ist der Zoo das Gefangenenlager.«
Gregor stand auf. »Du übertreibst.«
»Ich übertreibe? Da werden jeden Tag Tausende unschuldiger Leben aufs Spiel gesetzt. Meinst du, den Tieren geht es gut in der Gefangenschaft?«
»Zumindest hab ich schon von Tieren gehört, die freiwillig in ihre Käfige zurückgekehrt sind.«
»Ist doch klar. Weil sie in eine völlig artfremde Umgebung geraten sind. Das ist, als ob du die Tür aufmachst und du stehst mitten auf einer achtspurigen Autobahn. Da gehst du auch ganz schnell wieder rein. Ich finde, Zoos sollten generell geschlossen werden.«
Sie setzte sich wieder.
»Jedenfalls gibt es noch keine heiße Spur, hat mir Axel Grieshaber erzählt«, sagte Gregor.
»Da steckt bestimmt die Mafia dahinter«, sagte Madeleine tonlos.
»Die aus Sizilien?«
»Quatsch. Die Tiermafia.«
Gregor lag eine patzige Bemerkung auf der Zunge, aber er schwieg. Wo bekam der Zoo seine Tiere her? Diese Frage hatte er sich nie gestellt. Wenn zum Beispiel herauskäme, dass exotische Exemplare auf nicht hundertprozentig korrekten Wegen in die Stadt gekommen waren, dann hätte der Zoo ein echtes Problem. Und es gäbe bestimmt mächtige Strippenzieher, die Druck ausüben könnten. Emma, die Äffin, ein Bauernopfer? Auf jeden Fall eine Spur – beziehungsweise eine schöne Schlagzeile.
»Du bist genial.«
Madeleine hatte sich wieder auf die Couch gesetzt. Sie schenkte sich nach.
»Ist das Limettenwein?«, fragte Gregor.
»Du hast Recht, der ist unglaublich sauer.«
»Dafür schmeckst du unglaublich süß.« Er lehnte sich an Madeleine, zog sanft ihren Kopf zu sich und küsste sie. Sie legte die Arme um ihn.
»Im Ofen steht noch etwas zu essen für dich. Gebackenes Gemüse. Und ein Lammkotelett.«
»Lamm? Ist meine schöne Vegetarierin sich etwa untreu geworden? Ich dachte das einzige Fleisch, das ich in diesem Haushalt noch bekomme, bist du …«
Gregors Hand glitt in einen schmalen Durchschlupf zwischen Madeleines Hosenbund und ihrem Oberteil.
»Aber das Bild stimmt nicht«, raunte er.
»Welches Bild?«
»Das vom Krieg zwischen Mensch und Tier«, flüsterte Gregor. »Tiere können überhaupt keine Kriege führen, das ist eine Spezialität der Menschen.«
Gregors Hand hatte entdeckt, dass Madeleine unter ihrem Pullover ganz und gar nackt war.
»Und sich lieben, das können auch nur Menschen«, fiepte sie.
Bevor Gregor schlafen ging, warf er einen Blick ins Kinderzimmer. Eines der Bettchen war leer, in dem anderen lagen die beiden Mädchen. Uta und Jutta. Wie zwei Engelchen, dachte Gregor. Ein perfektes Bild, wenn nicht das eine Engelchen dem anderen die Füße ins Gesicht strecken würde. Gregor nahm Jutta vorsichtig auf den Arm und trug sie in das leere Kinderbett. Anna kam ihm in den Sinn, und die Rührung über seine beiden Kinder übertrug sich ein wenig auf das Affenmädchen.
Und dann ging er doch noch nicht ins Bett. Im Wohnzimmer klappte er den Computer auf. Im Internet fand er Artikel über illegale Tiertransporte. Geschichten von Touristen, die sich lebende Souvenirs aus dem Südseeurlaub mit nach Hause brachten. Von den Galapagos-Inseln nach Güstrow. Babyschildkröten, als Medaillons getarnt. Löwenfelle als Bettvorleger. Auf der Seite einer Tierschutzorganisation fand er schlecht formulierte Pressemitteilungen mit Anwürfen gegen Zoologische Gärten. Immer am Rande der Unsachlichkeit. Gregor scrollte gelangweilt die Seite nach unten. Probleme in Köln. Skandale in Stuttgart. Illegaler Tierhandel in Rostock.
Dann war er hellwach. Tatsächlich: Vor etlichen Jahren war der Zoo damit in die Schlagzeilen geraten. »Zoodirektorin Hammer im Würgegriff: Wo ist die Brillenschlange?« Offenbar hatte man damals Reptilien an einen griechischen Zoo verkauft. Über einen Zwischenhändler waren die Tiere auf die Reise gegangen. Aber nicht alle kamen an. Eines der Jungtiere starb auf dem Transport.
Laut der aufgeregten Tierschützer waren solche Verkäufe branchenüblich, um die Kassen aufzubessern. Die Einrichtung in Griechenland war zudem dafür bekannt, dass die Besucher sich dort ihre Lieblingstiere aussuchen und gleich mit nach Hause nehmen konnten. Solcherart verkaufte Tiere landeten in Privathaushalten oder chinesischen Quacksalber-Küchen. Tigerpimmel als Potenzmittel.
Ein paar Wochen lang hatten sich die Kollegen auf Evelyn Hammer eingeschossen. Mehr als Verdächtigungen und Vorwürfe blieben am Ende allerdings nicht übrig. Die Verkaufspapiere waren korrekt, die Direktorin gab sich zerknirscht. Man habe aus dem Fall gelernt und die Geschäfte mit dem Tierhändler aufgegeben, hieß es in einem Interview.
»Oder auch nicht«, sagte Gregor laut und formulierte schon einmal die neue Headline: »Nach dem Schlangen-Skandal: Handelt der Zoo jetzt mit Menschenaffen?« Er musste nur noch einen Zusammenhang zwischen den früheren und den jetzigen Vorfällen herstellen. Plötzlich schien alles sonnenklar. Der Rostocker Zoo mit seiner direkten Anbindung an den Hafen war eine ideale Drehscheibe für den Tierhandel. Genau das würde er versuchen aufzudecken.
Gregor lehnte sich zurück und schenkte sich ein Glas Wein ein. Seine Beiträge würden landesweit, sogar bundesweit laufen. Geschichten von geschundenen Tieren – das kam überall an. Und er würde das illegale Netzwerk der Tierhändler enthüllen. Gleich morgen würde er mit Polizeisprecher Grieshaber reden.
Er nahm einen Zug aus dem Glas und verschluckte sich fast. Und gleich nach der Tiermafia würde er sich der Ökowein-Camorra widmen.