Monster

Gregor beschloss, vor dem Schlafen noch einmal seinen vorhin ins Netz gestellten Beitrag anzusehen, ein Ritual, das er besonders nach anstrengenden Tagen pflegte. Er tippte raz-online.de ins Suchfenster. Gleich auf der Startseite ploppte sein Beitrag auf: »Affenmord im Rostocker Zoo. Orang-Utan-Weibchen von irrem Täter gequält und getötet. Polizei ratlos. Ein Beitrag von Gregor Simon«. Irrer Täter? Wie banal. Sein eigener, kaum zwei Stunden alter Anreißer kam ihm überholt vor. Der gerade erlangte Wissensvorsprung ließ ihn über sein Selbst von eben lächeln. »Schnell richtig ist auch schnell wieder falsch«, sagte Jürgen immer. Jetzt verstand Gregor, was sein Redaktionsleiter damit meinte.

Die knapp drei Minuten des Beitrags flossen zäh. Zumindest hörte Gregor seine eigene Stimme gern, eine Charakterstimme. Aber das Ganze war im Grunde langweilig. Keine brisanten Bilder, nur sprechende Köpfe. Na ja … Gregor stoppte den Beitrag. Welches Standbild er auch einstellte, die Assistentin der Zoodirektorin sah einfach immer gut aus. Sogar mit halb geschlossenen Augen und halb geöffnetem Mund. Jeder andere Mensch hätte debil gewirkt. Sie wirkte verwegen.

Gregors Telefon klingelte. Ertappt schloss er Jeanette Albrechts Standbilder. Die Online-Redaktion rief an.

»Hallo Almuth. Habe gerade einen phänomenalen Beitrag auf eurer Homepage gesehen.«

»Hat er wieder fein gemacht, unser Gregor«, flötete es am anderen Ende und Gregor sah Almuths mächtigen überbissigen Unterkiefer vor sich. »Ich glaube aber, dass da viel mehr dahinter steckt, nur bekommt das wieder keiner mit.« Almuth war vielleicht nicht die Schönste, aber sie hatte die Eigenschaft, immer ein wenig weiter zu denken als alle anderen.

»Wie meinst du das: viel mehr?«

»Irgendeine ganz verzwickte Geschichte. Irgendwas mit Geld. Jedenfalls kein Perverser, der im Zoo eine Äffin umbringt, weil er dabei einen Kick bekommt.«

»Weißt du was, ich glaube auch nicht daran. Und ich sehe mich auch schon in einem ganz anderen Bereich um. Ich sag nur: Tierhandel.«

»Wunderbare Idee. Übrigens, warum ich anrufe: Hier ist eben eine komische Mail eingegangen. Ich leite die mal an dich weiter.«

Sie verabschiedeten sich und nach ein paar Sekunden kam die Mail an. Als Absender war Zoofreund angegeben, unter der Adresse eines kostenlosen Internetanbieters. Der Text war kurz und unverständlich: »Nachricht am Zaun, Südseite, Zoo. Wer zuerst kommt malt zuerst.«

Einladung zum Zeichenzirkel. Kommasetzung und Rechtschreibung waren noch nie die Stärke von Leserbriefschreibern. Außerdem benutzen die Leute Redensarten, ohne sich eine Sekunde den Kopf zu zerbrechen, was sie da sagen oder schreiben. Sie analysieren »das Klientel«, sie brechen Diskussionen »vom Zaum« und sie machen sich keinen Begriff davon, dass derjenige, der zum Mahlen geht, den DIN-A3-Block getrost zu Hause lassen kann.

Gregor erwachte aus seinem kleinen Sprachkritik-Rausch, nun kam die Botschaft endlich bei ihm an. Nachricht? Am Zoo? Als Reaktion auf den gerade online gestellten Beitrag? Er klappte fluchend den Rechner zu, nahm seine Jacke und öffnete leise die Schlafzimmertür. Madeleine lag noch immer so, wie er sie verlassen hatte, nur schlief sie jetzt. Er zog vorsichtig das Bettdeck über die im Dunkeln hell schimmernden Pobacken.

Im Hausflur nahm er keine Rücksicht mehr. Er polterte die Treppe hinunter, schließlich ging es um Sekunden. Als er sich auf das Fahrrad schwang, bereute er wieder einmal, aus rein ökologischen Gesichtspunkten kein Auto zu besitzen. Doch Gregor hatte nur leichtes Gepäck, also trat er ordentlich in die Pedale. Er arbeitete sich die Wismarsche Straße hoch, vermied es, jetzt schon aus dem Sattel zu steigen. Wie sollte er die nächsten Steigungen bewältigen – fliegend?

Immerhin, die Luft war mild, die Straßen leer. Bis auf ganz wenige Autos, die um diese Zeit noch unterwegs waren. Er radelte gerade durch den Lindenpark, als er ein bekanntes Motorengeräusch hörte. Die Straße lief hier parallel zum Radweg, abgeschirmt durch Sträucher. Gregor brauchte keinen Sichtkontakt. Das asthmatische Dröhnen kannte er: Ohne Zweifel, das war der Bulli von Bernd, unverkennbar in die gleiche Richtung unterwegs. Gregor schaltete einen Gang hoch und stieg, unsichtbar für seinen Konkurrenten, jetzt doch aus dem Sattel. Heute Vormittag war ihm der Bulli unglaublich lahm vorgekommen. Nun zog er an ihm vorbei und jagte die Parkstraße hoch wie ein Düsenjäger. Und zwar genauso laut. Gregor keuchte hinterher, im Schatten der parkenden Autos, denn diesmal sollte Bernd ihn nicht bemerken.

Dessen VW-Jet hatte inzwischen stoppen müssen. Die nächtliche Ampelschaltung war trotz fortgeschrittener Stunde noch auf Rush Hour getrimmt, weshalb man selbst auf leerer Straße minutenlang unter Rotlicht halten musste.

Während Bernd also Fußgänger passieren ließ, die längst in ihren Betten lagen, hatte Gregor ihn fast eingeholt. Aber dann gab der Bulli wieder Gas und nahm spielend die unangenehme Steigung Richtung Barnstorfer Wald, Rostocks grüner Lunge. Gregors Atemorgan machte dagegen keinen besonders vitalen Eindruck. Sein Brustkorb brannte, obwohl er erst seit zehn Minuten unterwegs war. Verloren, dachte er.

Da sah er, dass Bernd oben an den Studentenklubs nach links abbog. Richtig, er musste einen großen Bogen fahren. Er selbst konnte geradeaus weiter, quer durch den Park auf einem Weg, der Radfahrern und Fußgängern vorbehalten war. Gregor gab alles. Er rauschte an ein paar Betrunkenen vorbei, die aus dem zu einer mehrstöckigen Freizeithölle aufgepumpten Studentenklub getorkelt kamen, ließ die bescheidene Johanniskirche rechts liegen, jagte zwischen Restaurant Trotzenburg und Zooeingang über die Straße und schlug sich gegenüber ins Unterholz. Von Bernd war weit und breit nichts zu sehen und, noch viel besser, auch nichts zu hören. Gregor schloss sicherheitshalber sein Fahrrad an einen dünnen Baum.

Selbst an der Südseite war der Zaun um den Zoo noch mehrere hundert Meter lang. Wo sollte er anfangen? Gregor tappte aufs Geratewohl los und schritt, so gut das in dem dicht bewachsenen Areal ging, die Außengrenze des Zoos ab. Er musste nicht lange suchen. Im Zaun klaffte ein Loch, groß genug, dass eine ganze Einbrecherfamilie nebeneinander hätte hindurchgehen können. Während Gregor noch überlegte, ob er sich auf dem Zoogelände umsehen sollte, entdeckte er bereits mehrere Blätter Papier, die auf ein gefährlich in die Nacht ragendes Stück Draht des offensichtlich zerschnittenen Maschendrahts gespießt waren. Vorsichtig zog er die Bögen ab, holte sein Mobiltelefon hervor und versuchte im Licht des Displays zu erkennen, was auf ihnen zu sehen war.

Er schreckte zusammen. Im Gebüsch vor sich, auf der anderen Seite des Zauns, hatte er eine Bewegung bemerkt. Gregor stopfte das Telefon und seinen Fund in den Rucksack und starrte angestrengt ins Dunkel. Viel mehr als den Umriss einer Person konnte er nicht erahnen. Der allerdings war beunruhigend genug. Der Mensch dort drüben war ungefähr so groß wie er selbst, nur ungleich bulliger. Er schien Gregor zu fixieren. Jetzt setzte er sich in Bewegung und kam auf ihn zu. Gregor drehte sich um und rannte los. Fern, sehr fern konnte er die Straße schimmern sehen. Er musste sie erreichen und um Hilfe schreien, zur belebten Trotzenburg fliehen. Da stieß er mit jemandem zusammen. Umzingelt, dachte Gregor, als der andere ihm routiniert die Arme auf den Rücken drehte und ihn in die Knie zwang. Eine Taschenlampe leuchtete ihm gleißend ins Gesicht.

»Ganz ruhig«, sagte eine Stimme, die Gregor bekannt vorkam. Der eiserne Griff um die Handgelenke ließ nach.

»Bernd?!«

»Für ein Eichhörnchen bist du entschieden zu langsam, Simon. Was machst du hier?«

»Ich habe einen Tipp bekommen, da bin ich hergefahren. Da hinten am Zaun ist jemand, wir müssen weg.«

Bernd leuchtete in den Wald. »Da ist niemand.«

Gregor stand auf. »Warst du mal bei der Polizei?«, fragte er und hielt sich den Arm.

»Grenzbrigade Küste. Kampfschwimmer. Ist aber schon lange her.«

»Den Griff beherrschst du jedenfalls noch«, sagte Gregor. Arme und Schulter schmerzten, als wäre er die letzten drei Tage ausschließlich auf Händen gegangen.

»Hast du etwas entdeckt?«

»Nein«, log Gregor. »War wohl falscher Alarm.«