Heuler
Das Zimmer war fast leer. Lederne Polstermöbel standen als bequeme Sitzecken im Raum, was dem Charme einer Hotellounge ähnelte. Auf einem niedrigen, eleganten Tischchen lagen Zeitschriften. Auch hinterm Empfangstresen keine Menschenseele. Evelyn ließ sich in einen der Sessel fallen. Gestern die Allgemeinmedizinerin, heute die Psychologin. Die Arzttermine fraßen Zeit und Energie. Trotzdem hatte sie eingewilligt, jede erdenkliche medizinische Behandlung auf sich zu nehmen. Jahrelang war sie keinen Tag krank gewesen. Sie hatte einiges nachzuholen.
Auf dem Bildschirm an der Wand zeigte irgendein Dauersportsender das Match zweier afrikanischer Mannschaften in irgendeiner World League. Evelyn interessierte sich nicht für Fußball. Sie konnte nicht einmal die einheimischen Teams auseinanderhalten und sie verstand auch nicht die eigenartigen Rechnereien, nach denen eine Elf nahezu jedes Spiel verlieren konnte, um am Ende doch noch gerade so im Mittelfeld der Tabelle zu landen. Selbst Hansa Rostock kannte sie nur, weil immer mal die Zoobesucher durch gesperrte Straßen rund ums Stadion bedrängt wurden oder gleich ganz ausblieben, wenn am Tag vor dem Anpfiff ausgiebig die möglichen Folgen von Risikospielen ausgeschlachtet wurden. Das musste sie diesem Simon einmal sagen. Ihrer Meinung nach trug nämlich die Panikmache vor den Spielen nicht unerheblich zum Entstehen der berüchtigten dritten Halbzeit bei.
Eine Tür klappte.
Evelyn drehte sich um. Katharina Schall-Löckner kam auf sie zu. Sie strich sich den Rock glatt und hatte einen rosarötlichen Abdruck auf der Wange.
»Willkommen, Robbe«, sagte sie und reichte Evelyn die Hand.
»Wie bitte?« Evelyn blickte irritiert. Katharina wurde rot und zog die Hand wieder zurück.
»Unser Club-Gruß«, stammelte sie. »Ich meinte nicht dich körperlich.«
Evelyn erinnerte sich an das Ritual des RoBB, sich gegenseitig als Robben anzureden. Sie war erst Anfang des Jahres Mitglied geworden, hatte aber in den vergangenen Wochen etliche Treffen ausfallen lassen.
»Hatte ich ganz vergessen«, sagte Evelyn versöhnlich und streckte Katharina ihre Hand entgegen. »Aber dann bin ich wohl eher ein Heuler.«
Katharina wurde ernst. »Daran ist überhaupt nichts auszusetzen, du hast unwahrscheinlich viel durchgemacht. Es ist sogar gut für dich, wenn du dich deinen Gefühlen stellst. Das wird leider viel zu oft vergessen.«
Evelyn ließ die Hand wieder sinken. »Es ist so leer hier«, sagte sie und sah sich um. »Überall sind die Terminkalender voll, und hier bei dir ist ein einziger Patient.«
»Du bist hier. Ich lasse mir mit Absicht immer ein wenig Puffer vor und nach der Sitzung, falls es mal länger dauert. Komm mit.«
Sie gingen am ausgestorbenen Empfangstresen vorbei durch einen kleinen Gang in einen ungefähr vierzig Quadratmeter großen Raum, der ebenfalls durch karge Möblierung bestach: Ein Schreibtisch, eine Liege mit leicht zerwühlter Decke, hinten an der Wand ein fast leeres Bücherregal.
»Aufgeräumt«, sagte Evelyn.
»Reduktion ist die Voraussetzung für Konzentration.« Katharina signalisierte Evelyn, sich auf die Liege zu setzen.
»Ich sage übrigens nicht Patient. Das klingt so sehr nach Krankheit.« Katharina setzte sich an den Schreibtisch. »Ich sage Partner. Worum es mir geht, ist ein Gespräch von Gleich zu Gleich.«
Evelyn seufzte. Auf diese Art der Behandlung hätte sie vielleicht doch verzichten sollen. »Solange nicht ich dich analysieren muss«, sagte sie resigniert.
»Ich analysiere nicht, ich fühle mich ein. Weißt du, Psychologie ist für mich weder eine Wissenschaft noch ein Handwerk. Sie ist vielmehr eine grundsätzliche Lebenshaltung.«
Evelyn drehte sich zur Seite, hob ihre Beine auf die Couch und legte sich hin.
»Wie geht es dir nach all dem?«, fragte Katharina.
Evelyn tastete nach der Narbe. Ein feiner Graben, ein millimeterhoher Absatz zog sich quer über ihren Schädel. Die eine Seite des Grabens war taub geblieben. Das Gefühl irritierte Evelyn. Sie spürte den Druck ihrer Finger, aber es war, als würde sie auf ihrem eigenen Kopf etwas Fremdes berühren, ein Stück Kopfhaut, das nicht zu ihr gehörte. Schwarte, dachte sie. Es heißt Schwarte.
»Roberto«, sagte sie. »Ich muss über Roberto sprechen.«
»Erzähle mir etwas über Roberto.« Katharina schlug die Beine übereinander.
»Roberto war ein Kollege«, begann Evelyn zögernd. »Mein Freund. Mein Geliebter, um genau zu sein. Ich habe ihn umgebracht.«
»Eine Übersprungshandlung. Du machst dir Vorwürfe, und obwohl du nichts dafür kannst, nimmst du die Schuld auf dich, fühlst dich verantwortlich und beziehst das ganze Geschehen nur auf dich selber. Ein ganz normales Phänomen.«
Evelyn richtete sich auf. »Ist das die Diagnose? Dann bin ich jetzt geheilt – oder muss ich Tabletten nehmen?«
Katharina wurde rot. »Entschuldige, aber ich habe das Gefühl, als könnte ich in dir lesen wie in einem offenen Buch. Bitte bleib liegen.«
Evelyn lehnte sich wieder zurück.
»Wir hatten uns gestritten.«
Eigentlich war es kein Streit, dachte Evelyn. Eher ein Missverständnis. Sie hatte Roberto in der großen Voliere besucht. Er war unglaublich anhänglich gewesen, hatte sie in einen kleinen Geräteraum gezogen, sie geküsst, bedrängt. »Evelyn, ich will dich ganz und gar. Für immer«, hatte er gesagt. Sie hatte sich aus Robertos Umarmung befreit, woraufhin er vor ihr auf die Knie gefallen war. Da hatte sie gemerkt, dass es so nicht weitergehen konnte. Sie wollte es ihm so schnell wie möglich sagen, nicht in ihrer Wohnung, nicht im Bett, nicht nach einem weiteren dieser Liebesakte, die ihr immer mehr vorkamen wie akrobatische Übungen. Nach dem Dienst wollten sie sich treffen, in der Trotzenburg, dieser Wirtschaft mit selbst gebrautem Bier direkt vor den Toren des Zoos. Dort Kollegen zu begegnen, war eher unwahrscheinlich.
»Wir haben uns in einer Gaststätte getroffen, um uns auszusprechen. Ich war traurig, aber ich wusste, es musste sein. Ich musste Roberto sagen, dass wir beide keine Zukunft mehr hatten. Ich wollte dieses Versteckspiel nicht mehr, dieses Verbergen vor den Kollegen, und am Ende auch vor mir selbst. Die scheinheiligen Telefonate nach Leipzig mit Holger. Ich wollte es beenden.«
»Wie hat er reagiert?«
»Er ist mir zuvorgekommen. Bevor ich etwas sagen konnte, hatte er meine Hand genommen. Er hatte eine Ara-Feder mitgebracht. Grün und gold. Er hatte meine Handfläche nach oben gedreht und mit der Feder über mei›e Lebenslinie gestrichen. ‚Wenn dies ein Verlobungsring wäre, ich würde ihn dir j‹tzt auf den Finger stecken’, sagte er. Und dan› sah er mir in die Augen. ‚Evelyn, lass uns zusammen sein. Für immer. Ich liebe dich. Ich will mich nicht mehr verstecken. Ich will dein Mann sein, dein Freund, dein Vogelwart, was weiß ich. Aber i‹h will bei dir sein. Immer’.«
»Du warst schockiert?«
»Nein, eher resigniert. Roberto hatte nicht kapiert, worauf es mir in unserer Beziehung ankam. Jetzt war eingetreten, wovor ich mich, uns beide immer schützen wollte. Er wollte mehr. Ich versuchte ihm das auszureden. Und dann kam erst der eigentliche Schock.« Evelyn bedeckte mit den Händen ihre Augen.
»Ich fragte ihn, ob er sich für mich tatsächlich von seiner Familie trennen wolle. Von seiner Frau, seinen zwei Kindern. Ob er das tatsächlich übers Herz bringen würde, und das auch noch für eine deutlich ältere Frau. Da lächelte e› so eigenartig und sagte: ‚Es ist Zeit, dass ich dir die Wahrheit sage: Ich habe keine Familie. Keine Frau, keine Kinder. Ich habe nur dich, und mit‹dir will ich zusammen sein’. Die Ausreden, die er sich für seine angebliche Frau zurechtgelegt hatte, alles gelogen. Die Fotos, die er mir gezeigt hatte, der Vater mit seiner glücklichen Familie. Das waren die Kinder einer Schwester.«
Katharina wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel: »Der Beginn einer wunderbaren Liebesgeschichte.«
»Es hätte eine werden können. Ich weiß nicht, was mit mir passiert ist. Ich kam mir betrogen vor. All diese Vorsicht, dieses ganze Spiel. Er hatte mich an der Nase herumgeführt.«
»Was hast du getan?«
»Ich bin aufgesprungen, bin aus dem Lokal gelaufen auf die Straße, habe mir ein Taxi gerufen und bin nach Hause gefahren.«
»Eine weitere Übersprungshandlung.«
Evelyn reagierte nicht darauf. »Am nächsten Tag war Roberto tot. Und ich werde wohl nie erfahren, was wirklich passiert ist.«
»Suizid?«
»Nein, er wurde umgebracht, sagt die Polizei. Er muss aus der Gaststätte zurück in den Zoo gegangen sein. Er wurde im Verwaltungsgebäude gefunden. Das heißt, er wollte wahrscheinlich zu mir. Mit mir reden.«
»Warum sollte er dich im Zoo gesucht haben?«
»Mein Auto stand noch auf dem Parkplatz. Ich wollte es später holen, nach dem Essen mit Roberto. Er dachte sicherlich, dass ich dort wäre. Und dann muss er diesem Verrückten in die Arme gelaufen sein.« Evelyn spürte, wie ihr die Tränen aus den geschlossenen Lidern liefen. Was sie noch sagen wollte, ging in Schluchzen unter.
»Gut so«, sagte Katharina sanft. »Lass ihn raus, den Heuler, wie du es nennst.«
»Es ist meine Schuld, dass das passiert ist. Wenn ich anders reagiert hätte, nur ein wenig anders. Er wäre noch am Leben.« Evelyn trocknete sich die Tränen.
»Du hast Schuldgefühle.«
»Richtig, aus diesem Grund bin ich hier. Diese Schuldgefühle machen mich fertig, ich stehe neben mir und bin ständig angespannt. Ich habe mich noch nie so erbärmlich gefühlt. Die Frage ist, ob du mir helfen kannst.«
»Ich spreche von beistehen.«
»Ich will wissen, ob ich lernen muss, damit zu leben. Oder ob es eine Möglichkeit gibt, den Schalter umzulegen. Damit fertig zu werden, damit abzuschließen.«
»Das hängt davon ab, ob tatsächlich ein kausaler Zusammenhang besteht zwischen dem, was geschehen ist, und der Art und Weise, wie du gehandelt hast. Eine tiefe Wahrheit, die sich dir vielleicht noch nicht erschlossen hat.«
Evelyn hatte das Taschentuch zu einem winzigen Knäuel zurechtgeknetet. Kausale Zusammenhänge, dachte sie. Die gab es zuhauf. Aber alle Linien, die sie zu ziehen vermochte, endeten unweigerlich bei Henning Schwarck, der alle Grenzen überschritten und Regeln gebrochen hatte, beruflich und persönlich. Oder endeten die Linien am Ende doch bei ihr selbst? Hatte der Sicherheitschef Dinge über Evelyn erfahren, die er nicht hätte wissen dürfen, und am Ende war doch sie selbst der Dreh- und Angelpunkt der Tragödie? Nein, diesen Gedanken ließ sie nicht zu.
Evelyn richtete sich abrupt auf. »Ich denke, ich muss wieder los«, sagte sie und setzte resolut ihre Füße auf den Boden.
»Unsere Zeit ist ohnehin um.«
Sie verließen den Besprechungsraum. Draußen herrschte noch immer gähnende Leere.
»Sieht so aus, als ob sich der nächste Partner verspätet«, sagte Evelyn. Sie hatte sich wieder gefangen.
»Dann habe ich ja ein wenig Zeit, über unser Gespräch nachzudenken«, entgegnete Katharina.
Evelyn reichte ihr die Hand. »Ein Heuler ist übrigens eine junge Robbe.«
Katharina lachte. »Ich mag deinen Humor, Evelyn. In ein paar Monaten weiß niemand im Club mehr, dass du erst kürzlich aufgenommen wurdest, da bist du voll integriert. Das verspreche ich dir.« Sie schüttelte Evelyns Hand. »Bis zum nächsten Mal.«
»Das überlege ich mir noch«, sagte Evelyn und wusste nicht, ob sie den Club oder einen Besuch in Katharinas Sprechstunde meinte.
Der Weg von der Praxis in der St.-Georg-Straße nach Hause war nicht lang. Die Herbstluft tat ihr gut. Sie holte ihr Mobiltelefon hervor und wählte.
»Wie war’s bei der Seelenklempnerin?«, flötete Jeanette. Diese unbefangene Art war das, was Evelyn jetzt brauchte. Ihre Stimmung hellte sich auf.
»Wenn die Klempnerin wäre, die würde den Wasserhahn nicht reparieren, sondern ihn überreden, von allein mit dem unvernünftigen Tropfen aufzuhören.«
»Mehr kannst du von einer Germanistin vielleicht auch nicht erwarten«, antwortete Jeanette.
»Ich denke, sie ist Psychologin«, sagte Evelyn ernüchtert.
»Ihren Doktor hat sie damals in der Germanistik gemacht. Ich hatte mit ihr an der Uni zu tun. Da war sie Doktorandin in den Kommunikationswissenschaften. Später hat sie dann auf Psychotherapeutin umgeschult. Sie ist Dr. phil., das steht sicher auch an ihrer Praxis.«
»Dann ist mir ja einiges klar. Nicht mehr lange, und ich hätte mich zu einer physischen Übersprungshandlung hinreißen lassen. War die Polizei schon da?«
»Nein, wir müssen ja erst Anzeige gegen unbekannt erstatten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die wegen ein paar vernichteter Akten einen Einsatzwagen schicken. Deshalb werde ich nachher vorm Feierabend in der Polizeidirektion vorbeifahren.«
Evelyn war vor ihrem Haus angekommen, hatte ihr Schlüsselbund aus der Handtasche gekramt und den Briefkasten geöffnet. Zwei Wurfzeitungen, ein Werbeprospekt für eine sagenhaft günstige Internetflatrate und ein brauner Umschlag ohne jede Aufschrift lagen darin. Sie wog den Brief in der Hand.
»Ich ruf dich später an.« Sie steckte das Telefon ein, legte die Zeitungen auf die Stufen vorm Haus und riss den Umschlag auf.
Evelyn erbleichte. Sie taumelte, hielt sich am Geländer fest, setzte sich schließlich auf die Stufen. Ihr Atem ging schwer, ihre Schädelnarbe pulsierte, sie musste für einen Moment die Augen schließen. Dann sah sie erneut auf das Blatt aus dem Umschlag. Eine einfache weiße DIN-A4-Seite, in der Mitte ein einziger Satz in zwölf Punkt Times New Roman.
»Du hast alles falsch gemacht«, lautete der Satz.