DAS BUCH DER DUNKELROTEN
»Schlage zuerst, bevor die anderen dich schlagen.«
Weisheit des Grigori Rasputin
Dunkelrot! Diese verfluchte Farbe war wohl ein Teil meines Lebens geworden. Überall wo ich hinkam, dominierte sie. Wenn ich mich nicht täuschte, hatten doch Farben besondere Bedeutungen, und war nicht Rot die Farbe der Liebe, des Glücks, der Wollust und des Lebens? Ebenso wusste ich, dass sie aber auch viel Negatives wie Zorn, Wut und Gefahr symbolisierte und dass sie ein Inbegriff des Verbotenen war. Selbst die Katholiken sahen diesen Farbton als Erinnerung an das Leiden Christi, ihres gescheiterten Messias.
Wie dem auch sei, sie war mein stetiger Begleiter.
Im Rückspiegel meines von den Freimaurern spendierten dunkelroten Pickups blendete mich noch aus weiter Entfernung das rote Leuchten der feurigen Glut der langsam in sich zusammenfallenden Tanner-Farm, von der wir uns mit großer Eile entfernten wie die letzte Einheit einer aufgeriebenen Armee. Dass wir uns mit rasender Geschwindigkeit aufgemacht hatten, hatte einen Grund: Am düsteren, vom Nebel umfangenen Horizont, hatten wir bereits die blauroten Rundumkennleuchten der Cops von Fairbanks erkennen können. Mein Funkspruch trug also Früchte. Teasle starrte eisern nach vorn und glich einer Planierraupe, die alles und jeden, der ihr in die Quere kam, platt walzen würde. Seine Stimmung war nicht gerade die beste. Die Trennung von seiner Vergangenheit machte ihm zu schaffen, und ich hoffte insgeheim, dass er daran nicht zerbrechen würde.
Aber mir erging es doch ebenso. Nach wie vor plagten mich die Erinnerungen an mein altes Leben, wobei mein neues doch so schön sein könnte, oder besser ausgedrückt, schön ist! Ich war mir sicher, dass mich die Chlysten mit offenen Armen aufnehmen würden, auch wenn ich dem Leben als Amish skeptisch entgegen sah. Die zwölf Jahre des Wartens auf die Ankunft des Messias muss eine Marter ohne Gleichen gewesen sein. Doch ebenso konnte man dies auch als eine Art von Prüfung sehen, die einem genau das abverlangte, was am schwersten ist, wenn man sich auf etwas freut: die Geduld! Aber heißt es denn nicht, dass die Vorfreude die schönste aller Freuden ist? Ebenso konnte ich mir vorstellen, dass dies die letzten zwölf Jahre waren – das Ende der Wartezeit auf die lang ersehnte Wiederkehr des Messias auf diese Welt. Ich muss zugeben, dass dieser Gedanke eine wohltuende Wärme in mir aufstiegen ließ, wie an einem Heiligen Abend, als ich als Kind mit großen Augen vor dem Christbaum mit all den Kerzen und dem glitzernden Lametta gestanden hatte. Ich fühlte mich wohl dabei.
»Stimmt unsere Richtung denn?«
»Fahr immer weiter, Jake, ich sage dir Bescheid, wenn du abbiegen musst.«
Die Fahrt führte nach Süden, immer den hohen Bergen entgegen. Meine Vermutung schien sich allmählich zu bestätigen: Am dunklen Horizont erkannte ich den mächtigen Berg, der laut Mister Dohan einer der »Seven Summits« sein musste. Ein Schauder überkam mich, denn sofort dachte ich an meine unsanfte Begegnung mit diesem Geistertruck auf der Interstate, dessen grausige Fracht mich beinahe um den Verstand gebracht hatte. Dort hatte ich auch die Spur von Bileam verloren, obwohl dies von mir selbst so gewollt war.
»Aber ich dachte, dieser Blutstein stammt vom Yukon Reservat? Fahren wir dann nicht in die falsche Richtung, Sam?«
»Das ganze Land ist voll von Hämatit-Erz, Jake, und die Spuren, die ich verfolgt habe, führten aus dem Reservat wieder hinaus.«
»Also war das wieder nur ein Täuschungsmanöver der Dunkelroten?«
»Nicht ganz.
Fakt ist, dass sie ein gewaltiges Tunnelsystem nutzen, das hier
unter den Bergen und Gletschern existiert. Im Laufe der Jahrzehnte
haben sich die Chlysten dort zu schaffen gemacht und einige Gänge
erweitert. Diese Leute kennen sich bestens dort unten aus, es
dauerte also eine lange Zeit, eine grobe Karte anzufertigen, ohne
ständig von ihnen gestört zu werden.«
Ich war überrascht. »Eine Karte?«, fragte ich. Teasle nickte.
»Glaub mir, das hat Nerven gekostet. Dort unten in dieser verdammt kalten Nässe zu verweilen, ist nicht gerade das, was man eine gemütliche Polizeiarbeit nennen kann.«
»Und wohin führte die Spur?«
»Unter dem Yukon Reservat wurde vor vielen Jahren eine alte Mine betrieben, da es dort unten ein noch funktionierendes Schienensystem gibt. Die Chlysten nutzen diese Minenwaggons als Transportmittel, das sie ohne Umwege zum Denali National Park bringt. Doch da habe ich nie jemanden angetroffen, also entschied ich mich, dort unten zu warten, da ich mich in dieser Vielzahl von Gängen mit absoluter Sicherheit verirrt hätte.«
»Langweilige Sache, oder?«
»Das war die Hölle. Diese unendliche Finsternis raubt einem den Verstand, Jake. Ich habe versucht, mich abzulenken, meine Gedanken zu ordnen, aber das war nahezu unmöglich. Die erdrückende Beklemmnis schnürt dir deine Luftröhre zu. Man glaubt dort unten zu ersticken.«
Ich rieb mir meinen Hals und öffnete meinen Hemdkragen. Es schien mir, dass Sams Erzählung auch mir die Luft zum Atmen raubte.
»Was ist dann geschehen?«
»Irgendwann war es dann so weit. Eine Gruppe dieser Amish-Bastarde kreuzte auf. Beinahe hätten sie mich entdeckt, doch es gelang mir, mich zu verstecken und ich folgte ihnen unauffällig. Es war ein endlos langer Marsch. Ich vermute, dass es bestimmt einen halben Tag lang dauerte, bis wir einen alten Schacht erreicht hatten, der ebenfalls über ein Schienensystem verfügte.«
»Und das war noch intakt?«
»Nein und Ja. Damals, als ich ihnen gefolgt bin, war das Ding nur mit Krafteinsatz zu bewegen, heute jedoch wird es mit Strom versorgt, und ich vermute, nein ich nehme es mit größter Wahrscheinlichkeit an, dass die Energie vom russischen Stützpunkt stammt.«
»Aber ich dachte, das Sperrgebiet wäre das Yukon Reservat?«
»War es auch, Jake, aber durch seltsame Umstände wurde dieses Gebiet aufgegeben und ein neues wurde erschlossen.«
»Aber wozu?«
»Keine Ahnung, das Ganze fand erst vor ein paar Tagen statt. Das Yukon Reservat ist nun frei zugänglich.«
»Und wohin sind die Russen gewechselt?«
»Jetzt haben sie ihre Zäune im Gates-of-the-Arctic-Nationalpark aufgestellt. Weiß der Geier, was die dort wollen.«
Ich überlegte, und auch mir war dieses Vorgehen äußerst schleierhaft. Was sollte dieser unsinnige Umzug? Was war dort nur geschehen?
»Aber eine Sache gibt mir noch immer zu denken …«
»Von was sprichst du, Sam?«
»Nun, ich habe noch nie einen so raschen und ungewöhnlichen Personalwechsel gesehen.«
»Ich verstehe nicht …«, sagte ich und schüttelte den Kopf.
»Von meinem Versteck aus habe ich das Ganze beobachtet. An jenem Abend, es muss schon weit nach Mitternacht gewesen sein, tauchte plötzlich wie aus dem Nichts eine Gruppe von Männern auf, vielleicht an die fünfzig Mann, welche die russische Militäruniform trugen, schwer bewaffnet und allem Anschein nach bestens ausgerüstet. Sie trugen gesichtsbedeckende Schneemasken und näherten sich schnell der Basis. Als sie dann schließlich vor dem großen Tor gestanden haben, wurden sie sofort von den mächtigen Lichtkegeln aus der Station erfasst und man hat sich laut auf Russisch unterhalten. Das ging einige Male hin und her, und nach meinen Beobachtungen wurden diese Leute nicht unbedingt mit offenen Armen begrüßt.«
»Was ist passiert?«
»Die Konversation zwischen den beiden Parteien war schon eine ganze Weile verstummt, ich schätze knapp fünf Minuten, erst danach wurde das Tor geöffnet und die Männer traten ein. Ich dachte mir erst nichts dabei, doch es dauerte keine halbe Stunde, bis Schüsse von innen zu hören waren.«
»Ein Gefecht?«
»Allem Anschein nach, obwohl ich zunächst eher an eine militärische Übung gedacht habe. Jedoch wurde mir die ganze Sache immer schleierhafter, als plötzlich die ersten russischen Militär-Lkws der Klasse SIL durch das Eisentor rasten.«
»Sie haben es niedergerissen?«
»Ja, Jake, sie wollten wohl keine Zeit verlieren. Als die fünf oder sechs Laster mit einem Höllenlärm an mir vorbeirauschten, sah ich in den Fahrzeugen nur jene Soldaten, die aus dem Nichts aufgetaucht waren. Es fehlte jede Spur von den Russen aus der Basis.«
»Wie kannst du dir da so sicher sein?«
»Zu jenem Zeitpunkt war ich mir noch nicht so sicher, das wurde mir erst später bewusst.«
Ich sah ihn an und gab ihm zu verstehen, dass ich nicht begriff, worauf er hinaus wollte.
»Die Uniformen, die diese Kerle trugen, glichen lediglich denen der regulären Armee. Und die Trucks waren nur von diesen Leuten besetzt.«
»Aber ihre Kleidung war nicht exakt gleich?«
»Genau das will ich damit ausdrücken, Jake. Ein paar Tage später erfuhr ich, um welche Uniformen es sich dabei gehandelt haben soll.«
Meine neugierigen Blicke veranlassten Sam zum Weiterreden.
»Es waren die typischen Uniformen, welche der russische Geheimdienst trägt, wenn er sich auf einem Militäreinsatz befindet.«
»KGB?«, rief ich aus.
»Ja!«
Sofort trat ich in die Bremsen, sodass wir beinahe ins Schlittern gekommen wären.
»Verdammt, Jake! Hast du deine Fahrlizenz in Polen gemacht?«
»Sag mir,
Sam, war deine nächtliche Verfolgung in diesem Bergwerk vor oder
nach deiner Observierung in der Russenbasis?«
»Wieso?«
Ich wurde lauter. »War es davor oder danach?«
»Davor, Jake. Was ist denn los?«
»Ich verdammter Narr!«, schrie ich und schlug mit beiden Händen aufs Lenkrad.
Sam starrte mich an, als wäre ich ein Außerirdischer, der versuchen wollte, ihn zu vergewaltigen. Jetzt hatte sich wohl das Blatt gewendet, und ich war nun der von der Dritten Art.
»Nachdem die Russen den Stützpunkt verlassen hatten, hast du ihn betreten?«, fragte ich scheinheilig nach, obgleich ich vermutete, die Antwort bereits zu kennen.
»Vor hatte ich es zumindest, doch kaum wagte ich einen Schritt in diese russische Absteige, da flog schon der ganze Laden in die Luft. Ich hätte dort beinahe den Löffel abgegeben, Jake. Das ganze Gebiet war ein Feuerinferno, kein Mensch der Welt hätte mich dort hineinbringen können. Außerdem wurde ich davor gewarnt.«
»Gewarnt? Von wem?«
»Wie ich schon erwähnte, war die Wucht der Explosion derart stark, dass sie mich beinahe ins Jenseits befördert hätte, jedoch hatte ich einen Retter, der die Flammen ausschlug, die sich schon über meine gesamte Kleidung ausgebreitet hatte. Ich denke, die Russen haben einige Benzintanks hochgehen lassen, und dieses Zeug hat sich durch die Detonation in der gesamten Umgebung verteilt.«
»Wer war dort?«, fragte ich, während ich starr nach vorn blickte. Meine Gedanken richteten sich zielgenau auf einen bestimmten Menschen, doch ich wollte den Namen von Teasle selbst hören. Mir widerstrebte der Gedanke, auf eine falsche Fährte gelockt worden zu sein.
»Es war Parker«, antwortete Teasle. »Er schien
mir gefolgt zu sein!«
»Ist das nicht ein extremer Zufall?«
»Was willst du damit sagen?«
Doch meine Antwort blieb ihm verwehrt. Zu sehr
beschäftigten mich meine Überlegungen, obgleich ich sie selbst als
töricht empfand. Mir ging es einfach nicht in den Schädel, dass
Parker rein zufällig aufgetaucht war. Allmählich bekam ich gehörig
Zweifel an meiner eigenen Gesinnung. In den letzten Tagen hatte ich
zwar einen Kampf ausgetragen, der mich völlig zerrissen hatte,
sodass ich nicht wirklich wusste, zu wem ich eigentlich nun gehörte, doch jetzt bekam meine
Situation ein ganz anderes Gesicht, das mit einer Maske
bedeckt war, die selbst vor mir das wahre Antlitz
verbarg.
Ich wendete ruckartig den Wagen.
»Jake, was soll das?«
»Wir fahren in die falsche Richtung, Sam«, gab ich ihm entschieden zur Antwort.
»Aber den Stützpunkt können wir nur ungesehen
durch die Mine erreichen, eine Annäherung von der Oberfläche wäre
der reine Selbstmord. Die haben dort Scharfschützen
postiert.«
»Ganz ohne Zweifel, dennoch habe ich keine Lust, mich erneut in die Fänge der Freimaurer zu begeben.«
Sam sah mich verdutzt an, und ich konnte seine Zweifel deutlich erkennen. Doch meine Entscheidung stand unwiderruflich fest.
»Was redest du da, Jake? Bist du nun von allen guten Geistern verlassen?«
»Verlassen ist gut, Sam. Nur nicht von den Geistern«, war meine Antwort, wodurch seine Skepsis womöglich noch genährt wurde, doch meine Gleichgültigkeit darüber war mir ins Gesicht geschrieben.
Mit rasender Geschwindigkeit lenkte ich den Wagen durch den Schnee, und meine Gedanken richteten sich an jenen Ort, den ich zu erreichen gedachte: Die alte Basis der Sowjets!
Die Fahrt verlief ohne große Zwischenfälle. Sogar Sam schwieg; er war allem Anschein nach mit seinen eigenen Überlegungen beschäftigt, und meine Antwort schien ihn zum Nachdenken verleitet zu haben.
Der Blick auf meine Uhr ergab, dass die Nacht
schon weit fortgeschritten war und bald der Morgen anbrechen würde.
Die eisige Polarnacht herrschte hier oben im Norden
Alaskas!
Nach einer weiteren Stunde Fahrt durch den Schnee näherten wir uns dem alten Stützpunkt. Es waren einige Panzersperren zu sehen – zwar weit verteilt, dennoch effektiv. Wenn sich hier eine amerikanische Panzereinheit nähern würde, konnte man sicher sein, dass dadurch ihr Weg zur Basis deutlich kalkulierbarer wäre, und dass die Russen ein besseres und einfacheres Schussfeld hätten. Diese Bastarde!
Nach einigen Hundert Metern tauchten Schilder auf, die einem in zwei Sprachen die Annäherung alles andere als schmackhaft machen sollten. Oben auf dem Schild stand wohl das Gleiche auf Russisch wie das amerikanische »No Tresspassing« auf der unteren Hälfte, und das Ganze war verziert mit einem schwarzen Totenkopf.
»Noch ungefähr zwei Meilen, Jake, dann sind wir da«, sagte Sam. Ich konnte deutlich an seiner Stimme erkennen, dass er nun wusste, wohin mein Weg mich geführt hatte. Seine spürbare Unruhe brachte mich dennoch nicht aus der Fassung.
Ich nickte gelassen, sagte aber nichts. Ich wollte erst Gewissheit haben, bevor ich mich auf eine weitere Plauderstunde einließ. Zu sehr beschäftigten mich meine irrsinnigen Gedanken. Auch war ich mir sicher, dass ich hier zwar Hinweise finden konnte, aber keine absolut sicheren Beweise. Doch hier musste es beginnen, so viel stand fest.
Plötzlich tauchte die Basis vor uns auf, und
sofort kam mir Sams Erzählung in
den Sinn, als ich die drei völlig zerstörten Baracken wahrnahm.
Zudem sah ich links und rechts von unserem Wagen zwei eingestürzte
hölzerne Wachtürme , die wie eine Art Mahnmal vom baldigen
Niedergang Jehovas wirkten.
Der Stacheldrahtzaun stand noch, doch in der Nähe des eingerissenen Eisentores war er teilweise zerstört und zeugte von der enormen Gewalteinwirkung der Laster, von denen Sam erzählt hatte. Was zum Teufel war hier passiert, oder besser noch: weshalb? Das einzig Dumme an dieser Geschichte war, dass ich die Antwort höchstwahrscheinlich schon kannte, und die Spur, die meine Gedanken bestätigen sollte, würde hier beginnen. Verflucht!
Ich steuerte den Wagen langsam ins Zentrum der Basis und hielt ihn nahe einer der Baracken an. Als ich ausstieg, zögerte Sam noch einige Augenblicke, es schien ihm hier nicht geheuer zu sein.
Die Umgebung wirkte, als wäre hier das Zentrum
vom Ende der Welt. Diese Stille, welche lediglich vom leichten und
eisigen Wind untermalt wurde, zeigte deutlich, dass hier alles und
jeder tot war. Ein kurzer Schauer überkam mich.
Die Baracken qualmten noch leicht, der Rauch biss einem in die Atemwege und war der Grund dafür, dass Sam und ich immer wieder husteten. Der Gestank von verbranntem Kunststoff verpestete hier die ganze Luft. Ich spuckte den widerwärtigen Geschmack in meinem Mund aus.
»Ich sagte doch, dass es hier nichts mehr zu finden gibt.«
»Abwarten«,
entgegnete ich ihm und fand mich innerlich damit ab, dass er wohl
recht behalten würde. Die, die das hier veranstaltet hatten, waren
wirklich äußerst gründlich vorgegangen. Doch wer waren »Die«?
Sollte dies tatsächlich die Handschrift des russischen
Geheimdienstes sein? Nach der Vorgehensweise zu urteilen, war das
deren Stil: Es war sauber und präzise, nahezu in Perfektion, jedoch
konnte ich keinen plausiblen Grund erkennen.
»Ich verstehe das nicht, Sam, es will mir nicht in den Kopf.«
»Es ist schon eine seltsame Sache, wenn man darüber nachdenkt. Russen, die Russen töten! Was für ein krankes Land!«
»Die Sowjets haben hier einen Stützpunkt eröffnet, um einen Mörder zu finden, den sie für einen der ihren halten. Sie sperren das ganze Gebiet ab, lassen niemanden rein oder raus, und klären das sogar mit Fender ab. Dann plötzlich, nach einigen Jahren taucht wie aus dem Nichts eine Spezialeinheit des KGB auf, radiert alle aus und eröffnet einen neuen Stützpunkt in einem nahe liegenden Reservat. Was soll das Ganze?«
Sam überlegte. »Vielleicht handelte es sich dabei überhaupt nicht um Leute des Geheimdienstes. Möglicherweise war es eine Finte?«
Ich nickte, da ich seine Meinung teilte. »Genau das denke ich auch, doch sei mir nicht böse, Sam, wenn ich behaupte, dass das ebenso nicht der Stil der Dunkelroten ist, das sieht mir zu sehr nach Militär aus, möglicherweise Ex-Soldaten.«
»Söldner?«
»Vielleicht, Sam, jedoch äußerst fraglich.«
Ich lief ein paar Schritte und sah mich um. Ich durchsuchte eine Baracke, die dem Zerfall nicht ganz so nahe stand, als ich plötzlich unter einem Bretterhaufen etwas erkennen konnte, das aussah, als wäre es ein Teil einer Uniform.
»Hilf mir mal
bitte!«, rief ich, worauf Teasle schnell angelaufen kam. Mit
vereinten Kräften konnten wir den Schutt beiseiteräumen, und diese
Uniform endlich zum Vorschein bringen.
»Verdammt!«, rief Sam aus, als er erkannte, dass in der Uniform noch ein toter Körper steckte. Allem Anschein nach erschossen. Man sah deutlich rote Flecken auf der teilweise zerrissenen Kleidung dieses angeblichen KGB- Mitglieds.
Als wir ihn umdrehten und ihm die Maske abnahmen, erkannten wir einen Mann, der nicht unbedingt wie ein Russe aussah. Natürlich hätten wir uns auch täuschen können, dennoch zweifelten wir an seiner russischen Herkunft.
»Er muss wohl bei dem kurzen Gefecht ums Leben gekommen sein«, stellte Sam fest, wobei er mich fragend ansah.
»Sieht ganz danach aus. Zieh ihm seine Stiefel aus, ich möchte etwas überprüfen.«
Sam machte sich sogleich daran zu schaffen, während ich mich noch etwas in der Umgebung umsah. Trotz dieses leichten Gestanks atmete ich tief die kalte Luft ein und kam mir vor, als befände ich mich wieder in der Freiheit. Eine Art von Frühlingsgefühl überkam mich, das mich wieder aufleben ließ. Der Grund war mir natürlich bewusst: Meine törichte Hypothese, was diese Leiche betraf!
»Jetzt werde ich verrückt, Jake«, brachte Sam
hervor, während er mich ansah und mir den nackten Fuß dieses toten
Mannes zeigte.
»So, wie ich vermutete hatte, Sam. Die waren nicht vom KGB, das war eine Truppe der Freimaurer!«
Sam war weiß wie eine Wand. Er konnte nun absolut sicher gehen, dass es sich bei Parker um einen der Freimaurer handelte, nachdem meine Aussage darüber ihn wohl noch nicht ganz überzeugt hatte. Er ahnte nun, dass es ein unglaubwürdiger Zufall war, dass er Parker genau hier begegnet war. Doch ich entschied mich, nachzufragen.
»Hat Parker zu jenem Zeitpunkt gewusst, wo du dich aufgehalten hast?«
»Nein, weder er noch sonst jemand. Ich wollte keinen in Gefahr bringen. Wer wusste schon, was diese Sowjets mit einem anstellen würden, wenn die Falle zuschnappte.«
Ich atmete
tief durch und schüttelte den Kopf. Der Gedanke, der sich in
mein Gehirn eingefressen hatte, und den ich allem Anschein nach nicht mehr losbekommen würde,
trieb mich dazu, meine Gesinnung gegenüber den Chlysten erst einmal
auf Eis zu legen. Bevor ich den letzten Schritt in deren Richtung
gehen sollte, musste ich feststellen, ob sich meine Eingebung
bewahrheiten würde. Tief in meinem Innern hoffte ich, dass dem
nicht so war.
»Lass uns die restlichen Leichen suchen, Sam!«
Wir durchwühlten die Baracken, Meter für Meter, kämpften uns durch die Schuttmassen, wobei wir ständig diesen widerwärtigen Geruch einatmeten. Es war keine schöne Arbeit.
Es dauerte noch eine knappe halbe Stunde, bis wir schließlich fündig wurden: Unter einigen Fässern lagen an die zwei Dutzend Tote, die russische Uniformen trugen. Und endlich wurde mir auch klar, weshalb es hier so erbärmlich stank. Das war nicht der Kunststoff, der der Luft in unserer Umgebung einen süßlichen Beigeschmack verlieh, sondern der Grund waren die Leichen, bei denen teilweise schon der Verwesungsprozess eingesetzt hatte. Zudem waren auch noch ein paar von ihnen im Gesicht bis zu den untersten Hautschichten verbrannt; eine Folge der Explosion, die hier stattgefunden hatte. »Ebenso erschossen?«, fragte Sam
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, ich sehe keine Schussverletzungen, hier hat etwas anderes stattgefunden.«
Nachdem wir einige Leichen untersucht hatten, wobei ich zugeben muss, dass wir die zu stark verstümmelten Toten ruhen ließen, wurde ich erneut fündig. »Schau dir das an, Sam. Du glaubst nicht, was ich gefunden habe.«
Als ich ihm das Stück Hämatit-Erz vor die Nase hielt, sah Sam so platt aus, als hätte er damals vor dem Tor gestanden, als die russischen Lkws es niederrissen.
»Wo war das?«
Ich zeigte auf die Leiche.
»Er trug es bei sich?«
Ich schüttelte langsam den Kopf.
»Es lag neben ihm?«
Wiederrum verneinte ich. »Es steckte seitlich in seinem Hals.«
»Pfui Teufel, Jake«, gab Sam entrüstet von sich, so als wollte er mir damit sagen, dass ich diesen Blutstein wegwerfen sollte. Ich befolgte seinen stummen Befehl.
»Wollten die Freimaurer etwa den Verdacht auf die Chlysten lenken?«
»Du meinst, dass wir annehmen sollen, dass dies deren Werk war? Das kommt natürlich in Betracht, dennoch sollten wir diesbezüglich keine voreiligen Schlüsse ziehen. Letztendlich sind wir schon lange keine offiziellen Ermittler mehr.«
»Das ist mir scheißegal, Jake. Ich will dem endlich ein Ende setzen.«
Wir untersuchten noch zwei der Toten, und stellten fest, dass sie erdrosselt worden waren, und dass trotz unserer ganzen Zweifel die Spuren in die Richtung der Dunkelroten zu führen schienen. Somit offenbarte sich ein neues Rätsel!
Schließlich ließen wir von den Untersuchungen ab und entfernten uns von dieser Baracke des Todes. Ich entschloss mich, das Thema zu wechseln.
»Elsa …«, fing ich an, und sofort erkannte ich an Sams Gesichtsausdruck, dass ich rasch seine Aufmerksamkeit genoss. Sie schien ihm etwas zu bedeuten.
»Ja?«, fragte er sogleich nach.
»Du hegtest den Verdacht, dass sie hier
auftauchen würde, nicht wahr?
Deshalb auch dieser geheime Brief im ›Angel’s
Bell‹.«
»Sicher sein konnte ich nicht, ich habe es lediglich vermutet. Die Nachricht, dass Brauner verschwunden war, verbreitete sich schnell in der Umgebung, und somit lag es nahe, dass Elsa eine Dummheit begehen würde. Und auch wenn ich den Plan verfolgte, dich aus dem Verkehr zu ziehen, riet mir mein Instinkt dazu, dir diesen Namen mitzuteilen, wenn auch in einer nicht üblichen Weise. «
»Wieso siehst du Elsas Verhalten als eine Dummheit an?«
»Nun, ich meine damit, dass sie hier
aufkreuzen und selbst die Sache in die Hand nehmen würde. Dabei
konnte sie nur verlieren.«
»Und weshalb riet dir dein Instinkt dazu, sie mir dennoch vorzustellen? Ich meine, das ist doch eher ein paradoxes Verhalten, oder irre ich mich?«
»Instinkte äußern sich oft durch seltsame Entscheidungen, zumeist völlig anders, als man denkt, richtig? Ich dachte, es wäre eine gute Idee, dir den Namen als eine Art von Plan B zu präsentieren. Möglicherweise hättest du von Anfang an mehr Vertrauen zu ihr gehabt, wäre es doch zu einer Begegnung gekommen. Ich wollte dich schließlich nicht völlig unvorbereitet lassen. Aber wie wir wissen, ist dieser Fall sowieso nicht eingetreten.«
Mein verdutzter Blick brachte Sam dazu, erneut die Gesichtsfarbe zu wechseln. Mit schnellen Schritten kam er auf mich zu und ergriff mich mit beiden Händen an meinem Hemdkragen. »Was ist passiert?«, rief er wütend.
»Beruhige dich, Sam, ich dachte, du hättest darüber Bescheid gewusst, dass Fender Elsa in die Sache verwickelt hat.«
»Fender? Was hat Fender damit zu tun?«
Sein Griff wurde kräftiger. Langsam stieg mein Blutdruck an, und ein leichter Anfall von Wut überkam mich. Ich ließ mich von niemandem anfassen, nicht einmal von Sam. Mein zorniger und finsterer Blick trieb ihn wahrscheinlich dazu, mich wieder loszulassen.
»Entschuldige, Jake, es ist nur so, dass ich sie wie ein Vater liebe und ich nicht will, dass ihr etwas zustößt. Sie ist die einzige dieser kranken Familie, die noch normal ist.«
Ich beruhigte
mich etwas und glättete meinen Kragen. »Sie ist von den Dunkelroten
entführt worden, Sam. Ihr Vater hat sie …« Ich schwieg. Ich brachte
es einfach nicht über die Lippen; zu bizarr war die Erinnerung an
jene Nacht, als er versucht hatte, sie zu
schwängern.
»Ich weiß, Jake«, brachte Sam hervor, wobei es sich anhörte, als würde er diese Last kaum ertragen. »Er hat sie schon misshandelt, als sie noch ein Baby war.« Er schlug sich seine Hände aufs Gesicht. »Ich habe sie aus dieser Hölle geholt und sie und ihre Mutter fortgebracht.«
»Was leider nicht viel geholfen hat«, gab ich ihm als Antwort.
Sam schwieg noch eine Weile, und ich glaubte, dass er ein Geheimnis mit sich führte, dessen er sich gern entledigen würde. Ich konnte mich gut in ihn hineinversetzen!
Er setzte sich auf eine alte Kiste und fing an zu erzählen. Ich war auf alles gefasst!
»Es ist schon ein paar Jahre her, als ich mich in einer ähnlichen Situation befand, wie du sie gerade durchlebst. Die Aktivitäten der Chlysten waren im vollen Gange, und sie erreichten es beinahe, dass ich mich ihnen anschloss. Womöglich war dies einer der Gründe, warum ich mich damals so verhalten habe.«
Ich wurde
hellhörig, seine Aussage überraschte mich. Also waren
Rekrutierungen schon immer an deren Tagesordnung. Ich schüttelte
den Kopf und schämte mich beinahe dafür, dass ich immer noch den
Drang verspürte, den Chlysten beizutreten, auch wenn ich mich
entschlossen hatte, noch zu warten. Es hatte den Anschein, dass ich
nichts Besonderes in deren Augen war, nur ein weiteres Individuum,
das sie in ihre Reihen eingliedern wollten.
»Was ist passiert?«, fragte ich nach.
Er sah mich an. »Es waren die gesamten Umstände, Jake, das ist schwer zu erklären. Aber ich glaube, du benötigst solch eine genaue Darlegung der Fakten nicht. Du weißt, wovon ich spreche.« Meine Antwort war ein Nicken.
Teasle starrte wieder nach unten und rieb sich mit beiden Händen die Schläfen. »Ich konnte nicht mehr mit ansehen, wie David seine Familie quälte. Ich wusste selbstverständlich, dass es bei uns Amish ein wenig anders zuging, als bei den Englischen, dennoch: Genug ist genug, Jake. Also brach ich eines Nachts in deren Haus ein, drüben in Downfall, und schlich mich in das Schlafzimmer, wo ich die beiden liegen sah. Zu jenem Zeitpunkt war ich mutlos, dennoch trieb mich der Wille dazu, die Frauen aus den Fängen dieser Bestie zu befreien.«
Er sah mir wieder in die Augen. »Verstehst du das?«
Wieder nickte ich.
»Es packte mich innerlich, und mit einem gezielten Handgriff hielt ich mit aller Gewalt Davids Mund zu. Ich drückte ihn mit aller Kraft gegen das Bett. Er wehrte sich mit Händen und Füßen, jedoch hielt ich durch den Überraschungsmoment seinen Kraftanstrengungen stand. Seine weit aufgerissenen Augen starrten mich an, und trotz seiner Lage schaffte er es, dass sein Blick mich das Fürchten lehrte. Er hat die gleichen Augen wie unser gemeinsamer Vater.«
Mein Herzschlag erhöhte sich deutlich und mein Atem wurde schwerer. Ich sah in meiner Erinnerung den grauenvollen Mord an Bischof Duncon vor mir. Es fühlte sich an, als würde ich ihn eben erneut töten. Verdammt, was hatte ich nur getan?
Ich schloss meine Augen. »Was ist weiter geschehen?«
»Von diesem Lärm ist natürlich Emma neben ihm aufgewacht, und sie war von Angst gezeichnet.«
»Emma? Du meinst aber nicht Emma Garner?«
»Doch, Jake.
David Brauner war mit ihr verheiratet. Erst später nach der
Trennung nahm sie ihren Mädchennamen wieder an.«
Ich konnte es kaum fassen. »Aber dann wäre sie die Mutter von Elsa!«
»Nein, Emma war die Mutter seiner anderen Kinder Steve, Amos, Katie und Joseph. Die beiden Zwillinge stammen von einer gewissen Anastasija Below, einer jüngeren Russin, die er als Gespielin in seinem Keller eingepfercht hatte.«
»Du meinst im Keller seines eigenen Hauses?«, fragte ich entsetzt.
»Ja, und alle wussten darüber Bescheid, konnten sich aber gegen die Gewaltherrschaft von David nie durchsetzen. Außerdem kam noch hinzu, dass er schnell seine ältesten Söhne Amos und Steve auf seine Seite ziehen konnte.«
»Aber Steve verließ doch das Amish-Dasein, wie man weiß.«
»Richtig, und ich war damals heilfroh. Doch als ich bemerkte, wie es ihn im Laufe seiner Dienstzeit immer wieder zu David zurückzog, konnte ich sicher sein, dass es nur eine Frage der Zeit wäre, bis er sich erneut seinem tyrannischen Vater anschloss. Deshalb war ich damals auch so dagegen, als er die Stelle in Crimson übernehmen wollte. Mir war bewusst, dass ich dann keinen Einfluss mehr auf ihn haben würde.«
»Aber Joseph war nicht wirklich zu überzeugen«, stellte ich fest.
Teasle nickte. »Ich weiß von seinem Tod, Jake, ich habe ihn in der Leichenhalle gesehen. Grauenvoll! Aber um den Faden wieder aufzunehmen: Da stand ich nun inmitten des Schlafzimmers und hielt ständigen Blickkontakt mit Emma, die sich mittlerweile vom ehelichen Bett entfernt hatte. Ihre Blicke und ihr Kopfschütteln gaben mir zu verstehen, dass ich von meinem Plan ablassen sollte; sie hatte Tränen in den Augen.«
Teasle schwieg plötzlich. Er wirkte, als wollte er sich dafür entschuldigen, dass er dort eingedrungen war. Ich ließ ihm Zeit.
»Ich spürte die Stiche geradezu selbst. Sein Aufstöhnen und seine dumpfen, schmerzerfüllten Schreie unter meiner Hand raubten mir das letzte Gefühl in meiner Seele. Er war schließlich ein Teil meiner Familie, ein Bruder, verstehst du? Doch insgeheim glaubte ich, dass mein Hass durch die Taten meines Vaters genährt wurde und ich keinerlei Skrupel mehr kannte, als ich dieses Schwein mit meinem Messer abgestochen hatte.«
Ich setzte mich auf einen Bretterhaufen. Diese Sache war einfach zu viel. Ich versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen und atmete erst einmal tief durch. Es war verdammt kalt hier, ich fror erbärmlich, aber abgesehen von dieser bizarren Geschichte fühlte ich mich wohl in meiner Haut. Die absolute Einsamkeit, die Stille, weit weg von all dem Lärm und der Hektik der Menschen, waren wie ein Segen. Selbst die Luft glich einem weichen Teppich. Ich spürte sie gern an meinem Gesicht, auch wenn sich die eisige Kälte wie Nadelspitzen an meiner Haut anfühlten. Doch Teasle unterbrach die Gnade dieser Stille.
»Als er sich endlich nicht mehr wehrte und sich seine Schlafkleidung allmählich mit Blut tränkte, ließ ich von ihm ab. Doch ich verlor keine Zeit für Erklärungen oder Gewissensbisse. Ich brachte Emma, Anastasija und die beiden Zwillinge von dort fort, und erreichte schließlich einen kleinen Ort in der Nähe von Forks, wo ein alter Freund von mir eine kleine Pferdefarm besaß. Er versprach mir, auf sie auszupassen, doch das Schicksal wollte es anders.«
»Anastasija starb, nicht wahr?«
»Woher weißt du das?«, fragte er völlig verblüfft.
»Ich habe ein Gespräch zwischen Bileam und Fender aufgeschnappt. Er sagte, dass er sie ausfindig gemacht und vermutlich getötet hat.«
Teasle atmete schwer aus und war völlig am Boden zerstört.
»Sie wollte meine Frau werden.«
Verdammte Scheiße!
Was zum Teufel kam noch alles zum Vorschein? Ein Terrorakt folgte dem anderen, und sogleich schoss mir ein Satz durch den Kopf, den Sam Teasle zu mir gesagt hatte, als ich ihn damals im »Angel’s Bell« fragte, ob er verheiratet sei. Er hatte nur darauf geantwortet, dass es wohl nie hatte sein sollen. Großer Gott, dieser Mann war wie ich selbst von Verlusten gezeichnet, nur weitaus schlimmer.
»Und weshalb sind Esther und Emma zurückgekehrt?«
»Nun, Esther wurde von Steve verschleppt, und Emma? Tja, Emma wollte sich ihrer Familie nahe fühlen, und konnte sich sogar gegen David durchsetzen, der leider meinen Anschlag überlebt hat. Sie versprach, in Crimson auf der Polizeistation als Sekretärin zu bleiben, unter der Voraussetzung, dass sie in New Rock wohnen dürfe. Und so geschah es dann auch. Ich vermute, dass David wohl doch etwas für Emma empfand.«
»Richtig, deshalb hat er sie auch ermorden lassen.«
Teasle sah mich an und hob die Augenbrauen, womit er mir höchstwahrscheinlich sagen wollte, dass es die Umstände waren – er meinte wahrscheinlich damit, dass die zwölf Jahre gekommen waren, und sie in dieser Zeit nur störte. Absolut krank!
»Und Elsa?«
»Elsa blieb. Wir erreichten gottlob, dass sie sich versteckt halten konnte. Oft habe ich sie heimlich besucht, und wir verstanden uns wirklich gut, doch als ich hörte, dass sie ebenso auf die Polizeischule gehen wollte, schlugen bei mir die Alarmglocken. Mit aller Gewalt versuchte ich, dies zu verhindern, doch sie wollte nicht hören. Daher lag die Vermutung nahe, dass sie bald nach Crimson zurückkehren würde, um Rache zu nehmen.«
»So viel habe ich auch schon herausgefunden. Diese Kacke hier eskaliert. Verdammt, Sam!«
Er sah mich an.
»Wir müssen sie dort herausholen, koste es, was es wolle. Wir dürfen die nicht gewinnen lassen!«
Dieser letzte Satz glich dem Befreiungsschlag eines Insekts, das in ein gewaltiges Spinnennetz geflogen war und sich mit aller Kraft befreien wollte. Ich glaubte, dass ich wieder der alte Jake war. Zumindest vorerst!
»David scheint einen besonderen Schutzengel zu haben.«
»Ja, dieser
Bastard war nicht tot zu kriegen; irgendetwas hielt ihn am Leben.
Doch das Unbegreifliche daran war, dass er mich nicht verfolgen
ließ. Ich nahm damals an, dass er alles daran setzen würde, mir
nach dem Leben zu trachten, doch nichts von alledem passierte, bis
auf den heutigen Tag. Sie hätten mich dort unten in den Minen
verrecken lassen können und hatten genug Chancen, mich
beiseitezuschaffen, doch sie taten es nicht. Vielleicht stufte er
es als eine Art von Strafe ein, meinen eigenen Bruder fast ermordet
zu haben, so wie Kain es damals mit Abel getan hatte. Ich sollte
wohl mit dieser Gewissheit leben.«
»Weshalb hast du mich in Bezug auf Downfall belogen? Ich meine, du hättest mir ruhig erzählen können, dass es nicht mehr existiert, Sam.« Ich überlegte kurz. »Oder war das auch ein Teil deines Plans, mich von hier zu vertreiben?«
»In erster Linie war es das, jedoch muss ich dich enttäuschen, wenn du glaubst, dass ich dich belogen habe: Downfall existiert.«
»Aber Parker meinte, dass das Lepradorf nicht mehr besteht. Ein Erdbeben soll es verschluckt haben.«
Sam grinste in sich hinein, wobei ich eine gewisse Melancholie in seinen Augen erkennen konnte.
»Nun ja, Parker hat schon recht, doch verschluckt kann man es auf keinen Fall nennen. Eher verdeckt oder behütet«, antwortete er und betonte das Wort »behütet« mit einem Hauch von Zartheit. Was zum Teufel meinte er damit?
»Sodom wurde verschluckt, Gomorrha wurde durch die Hand Gottes zerstört, aber nicht Downfall. Hier hat wohl der Satan die schützende Hand darüber gehalten.«
»Von was sprach dann Parker?«
»Er weiß nur, was alle wissen. Ich bin aber dort gewesen und habe diesem verfluchten Ort direkt in die Seele gesehen.«
»Verdammt, Sam, nun sprich nicht andauernd in Rätseln, sag endlich, was es mit der Siedlung auf sich hat. Gibt es sie noch oder nicht?«
»1957 gab es in der Region ein fürchterliches Erdbeben. Selbst in New Rock wurden noch einige Nachbeben gemessen. Es war grauenvoll; die Einwohner von New Rock ließen damals die Telefone im Präsidium heiß laufen. Sie wussten nicht, was geschehen war und wir hatten alle Hände voll zu tun, die Leute zu beruhigen. Doch wir bekamen nicht nur diesen Befehl, sondern zusätzlich wurden zwei von uns nach Downfall geschickt, um Bericht zu erstatten. Die zuständige Behörde in Fairbanks wollte Gewissheit. Ich wurde damals auch eingeteilt, und so machten wir uns auf zur Leprakolonie. Mir war mulmig bis in die Knochen, aber jemand musste ja schließlich diese Drecksarbeit erledigen.
Als wir nach zwei Stunden dort ankamen, war es schon zu spät. Eine gewaltige Lawine hatte die Siedlung unter sich begraben. Man sah gerade noch einige Dächer der Holzbaracken.«
»Der Schnee hat sie also alle verschüttet?«
»Das nahmen wir an, oder besser gesagt, wir hofften es zumindest. Wir fürchteten uns vor der Seuche, verstehst du? Ich selbst war damals nur ein Deputy, Sheriff Francis Gorden leitete die Ermittlungen. Doch was glaubst du, was in uns vorging, als wir plötzlich Überlebende fanden? Sie hatten sich durch die ganzen Schneemassen frei gegraben. Es war ein fürchterlicher Anblick. Die Menschen dort waren durch ihre Krankheit schwer entstellt, doch nun sahen sie weitaus schlimmer aus. Die Lawine hatte einige von ihnen getötet, teilweise noch mehr verstümmelt. Ich sah halbzerfetze Leiber von Müttern, die uns unter Wimmern ihre Kinder anvertrauen wollten, Männer, die unter Schock ihre Gliedmaßen im Schnee suchten, die sie durch die extreme Naturgewalt verloren hatten.«
Ich schloss
die Augen und konnte mir gut vorstellen, dass das ausgesehen haben
musste wie in einem Kriegsgebiet, in dem kurz zuvor Bomben
abgeworfen worden waren. Der blanke Horror!
»Ja, Jake, sie bedurften der medizinischen Hilfe, jedoch …«
Ich riss die Augen auf. »Jedoch?«, rief ich entsetzt.
»Gorden setzte mit seinem Wagen zurück und entfernte sich rasend schnell von diesem Gebiet. Die Leute von dort folgten uns jammernd, sie bettelten um Hilfe, doch wir leisteten keine. Gorden fürchtete sich zu sehr vor dieser Krankheit. Wir ließen alle verrecken.«
»Und du?«
»Ich saß neben ihm im Wagen und war völlig entsetzt, dennoch unternahm ich nichts. Verflucht, Jake, ich war jung, ich wusste nicht, was ich tun sollte. Gorden war schließlich mein Vorgesetzter und ich musste doch davon ausgehen, dass er wusste, was er tat.«
Sam sah mir in die Augen. Ich nickte, und ein wenig konnte ich ihn verstehen. Ich verurteilte ihn nicht. Jedoch kam mir der Name Francis Gorden wieder in mein Gedächtnis. Irgendwas war mit ihm.
»Was stand im Polizeibericht?«
»Wir gaben an, dass alle dort draußen den Tod gefunden haben und dass eine Lawine alles unter sich begraben hat.«
»Und niemand wusste darüber Bescheid, dass ihr die Menschen im Stich gelassen habt?«
»Außer mir niemand, aber …«
»Aber?«
Sam schwieg. Es schien so, dass er noch etwas verbergen wollte. Doch plötzlich klingelte es in meinem Schädel in Bezug auf den Namen Gorden. Martin hatte mir erzählt, dass jemand mit diesem Namen umgekommen war, jemand, der auf dem Marktplatz gefunden wurde: Francis Gorden! War er nicht später der Bürgermeister von New Rock gewesen? Und ein weiteres Gespräch kam mir in den Sinn: Laut der Aussage des Gerichtsmediziners Andean hatte man ihn ermordet aufgefunden. Und nun war ich mir auch sicher, dass der Grund für seine Hinrichtung nicht die Schließung der Daily Sensation war, sondern ein Racheakt von jemandem, der über seine Feigheit Bescheid wusste. Zum Teufel auch, verdient hatte er es!
»Man hat ihn ermordet, nicht wahr? Und wer wusste sonst noch darüber Bescheid, Sam?«
Er schwieg noch immer. »Sam!«, rief ich.
»Niemand, Jake!«, schrie er zurück. »Niemand!«
»Also hast du ihn auf dem Gewissen? Ist dem so?«, sagte ich in einem ruhigen Tonfall.
Sam nickte. »Ja! Ich bin der Mörder von Gorden. Mir gingen die Bilder dieser Leute nicht mehr aus dem Kopf, Jake. Jemand musste doch für Gerechtigkeit sorgen!«
Ich schwieg und versuchte einen Gedanken zu verdrängen, den ich schon eine ganze Zeit im Kopf hatte. Doch meine Neugierde war schließlich stärker.
»Trägst du einen dunkelroten Mantel, Sam?«, fragte ich ihn.
Sam sah mich entsetzt an, doch ein Geräusch unterbrach unsere Unterhaltung. Sofort standen wir auf und zogen unsere Waffen. Es hörte sich an, als ob jemand über einen Bretterhaufen gestolpert war und sich möglicherweise verletzt hatte.
»Wer ist da?«, rief Sam, doch er bekam keine Antwort. Langsam setzten wir einen Schritt nach dem anderen in die Richtung, aus der der Lärm gekommen war. Wir verständigten uns mit Handzeichen. Doch kaum waren wir zehn Schritte gegangen, da hörten wir das Klicken des Hahns einer Waffe. Verdammt, nicht schon wieder!
»Keine Bewegung, Gentleman, ich hab sie beide im Visier.«
Kurz verspürte ich den Drang, mich schnell umzudrehen, und einen Schuss abzufeuern, jedoch kam mir die Stimme zuvor.
»Waffen fallen lassen, und ganz langsam umdrehen. Keine Tricks, so schnell bist du nicht, Jake!«
Ich warf meine Waffe weg und folgte seinen Anweisungen.
»Marc Richmont!«, rief ich völlig überrascht aus, nachdem ich mich in seine Richtung gedreht hatte.
»So sieht man sich wieder, Mister Jake Dark«, entgegnete er mir, und in seiner Stimme lag Hass.
»Was ist mit deinem Gesicht geschehen?«, fragte ich, als ich bemerkte, dass er eine Augenklappe trug. Daneben waren einige Narben sichtbar.
»Sie haben mich sehend gemacht, Jake, sehend,
verstehst du? Sie entfernten mein schlechtes Auge, indem sie es
ausrissen.«
»Gütige Mutter Gottes …«, warf Sam entsetzt ein.
»Diese Hure kann mir gestohlen bleiben!«, entgegnete Marc. »Was hat sie gebracht, außer einen Sohn, der nicht in der Lage war, die Welt zu retten? Auf sie spucke ich!« Damit spuckte er in unsere Richtung.
»Marc, was machst du hier? Ich dachte, du wärst in Detroit!«
»Detroit«, lachte er sarkastisch. »Glaubst du im Ernst, ich werde noch einmal in diese Stadt voller Huren zurückkehren?« Bei dieser Frage fing er für eine Sekunde an zu weinen, fing sich aber schnell wieder.
»Was haben sie nur mit dir angestellt, Marc? Du warst doch so wie ich von dieser Stadt fasziniert. Was hat dich so verändert?«
»Sie haben mich sehend gemacht!«, rief er wütend und richtete seine Waffe direkt auf mich.
»Bleiben Sie ruhig, Mann«, konterte Sam. »Tot nützt er uns nichts.«
Verdutzt sah ich zu Sam. Er zwinkerte mir kurz zu und signalisierte mir damit, dass er es auf die psychologische Art versuchen wollte.
Ich hoffte es zumindest.
»Dieses Schwein nützt sowieso niemandem etwas«, brachte Marc hervor. »Ihm habe ich das zu verdanken«, heulte er und hob mit aller Gewalt seine Jacke hoch, drehte sich schnell um und zeigte uns seine Brandnarbe, welche er damals aufgedrückt bekommen hatte.
»Ich war das nicht, Marc! Das ist das Werk von Bileam. Erinnerst du dich denn nicht mehr?«
Er runzelte die Stirn. »Erzähl keine Lügen, Jake, oder ich knall dich auf der Stelle ab!«
»Wir waren doch beide dort draußen, als wir unseren Verdächtigen verfolgt haben. Versuch dich zu erinnern, Marc!«
»Mein Name ist nicht mehr Marc, sondern Jakob. Und jetzt sag deinem Schöpfer guten Tag, Jake.« Er ging ein paar Schritte auf mich zu, hielt die Waffe schräg, und kurz bevor er abdrückte, schrie Sam: »Ich trage dasselbe Zeichen!« Marc hielt inne und sah zu Teasle.
Froh über die Tatsache, dass ich dem Tod noch einmal entrinnen konnte, war ich dennoch überrascht, was Sam da eben gesagt hatte. Was meinte er damit?
»Ich bin ebenso gezeichnet, doch ich bin mir sicher, dass das nicht Jakes Werk war.« Sam zog sich ebenfalls die Jacke hoch und präsentierte uns seinen Bauch, auf dem auch ein Brandzeichen zu sehen war. Marcs Gesichtsausdruck veränderte sich erneut, und er glich einem gedroschenen Prügelknaben, wie es Rasputins Tochter einmal vortrefflich beschrieben hatte, als sie von ihrem Vater sprach. Völlig überrascht sah ich ebenfalls Sams Brandnarbe an, was ihm sichtlich unangenehm war. »Ich wollte es geheim halten, ich schäme mich dafür.«
Es handelte sich um die gleichen Initialen, die Marc auf dem Rücken trug: Г Р Е ! Mein Gott, dachte ich. Was ist das hier nur für eine kranke Scheiße?
Richmont senkte seine Waffe vollständig und sah sich das Brandzeichen genauer an. Ich wusste nicht, ob ich es vielleicht irgendwann einmal unbewusst aufgeschnappt hatte, doch ich konnte den Namen Jakob zuordnen. Offenbar war dieser Name mit Bileam gleichzustellen, ein weiterer Prophet für die Verkündung der Worte Gottes. Auch fiel mir sofort das Gebet von David und Katie ein, als dort Exorzismus zur Sprache gebracht wurde, um die Besessenen zu heilen. Mit Besessenen meinten sie bestimmt »normale« Menschen, die nicht ihre Meinung teilten. Des Weiteren erinnerte ich mich an Fenders Worte, als ich im Schacht unter meinen Büro hing: Damals hatte er gesagt, dass ihr Gefangener ihnen nichts mehr nütze, wenn er blind werden würde. Er hatte sicher Marc gemeint. Außerdem hörte ich in meinen Erinnerungen plötzlich wieder die Schreie in dem finsteren Schacht, tief unter der Erde. Mir wurde nun klar, dass es sich dabei um die Hilferufe von Marc gehandelt haben musste. Zum Teufel auch, wie lange hatten sie ihn dort gefoltert, bis er ihnen hörig wurde? Ebenso wurde mir die Härte von Bileam erst jetzt so richtig bewusst, als er Fender darauf geantwortet hatte, dass ihn der neue Messias wieder sehend machen könne. Das war krankhafter religiöser Fanatismus!
»Marc!«, rief ich. »Sei vernünftig und steck deine Waffe ein, wir alle sind gezeichnet und sitzen im selben Boot, das eigentlich schon längst untergegangen ist.«
»Du auch?«, fragte mich Sam überrascht.
Ich nickte nur, doch ich vermied, mein Zeichen zu präsentieren, da es doch ein völlig anderes war. Ich dachte mir, sie könnten es falsch interpretieren und es würde die mit Spannung geladene Situation nur unnötig weiter aufheizen.
»Dann ist alles vorbei«, stammelte Marc plötzlich und steckte sich den Lauf seiner Waffe in den Mund.
Sofort raste ich zu ihm und konnte ihm die Pistole aus der Hand schlagen, wobei sich ein Schuss löste und Sam beinahe getroffen hätte. Doch das Glück war auf seiner Seite und das Projektil flog über seinen Kopf hinweg. Unsere Blicke sprachen Bände!
Als ich mich wieder Marc widmete, der durch meinen Angriff auf dem Boden lag, erkannte ich, dass sich seine Augenklappe verschoben hatte. Dass sein Auge nicht fachmännisch entfernt worden war, konnte selbst ein Laie wie ich erkennen. Die Ränder um das dunkle Loch waren förmlich ausgefranst, kleinere Hautfetzen hingen noch herab. Schnell rückte er die Klappe wieder zurecht. Ich hielt ihm meine ausgestreckte Hand als Aufstehhilfe entgegen. Zögernd nahm er sie an.
»Wer ist der?«, fragte Sam.
Ich sah Marc an, der meinen Blick traurig erwiderte.
»Ein alter Freund«, antwortete ich.
»Und was macht er hier?«
»Genau, Marc, wie kommst du hierher?«
»Durch die Mine, wie sonst?«
Ich klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter, und wir gingen zu Sam, suchten uns einige Holzbalken und entzündeten ein wärmendes Feuer. Jetzt war die Sache deutlich angenehmer. Die Hitze der Flammen vertrieb die eisige Kälte der Nacht, die unsere Glieder beinahe steif gefroren hatte.
Während wir uns aufwärmten, sprachen wir kein Wort miteinander. Wir waren wie räudige Hunde, die sich nicht riechen konnten. Oben am Himmel sahen wir das Polarlicht, das mit seinen hellgrün schimmernden Farben den halben Himmel bedeckte. Unsere Hälse wurden immer länger; jeder von uns war von diesem fantastischen Naturschauspiel fasziniert. Es brachte einen auf schöne Gedanken.
Die Nacht war nun nicht mehr ganz so finster.
Durch die andauernde Bewegung brachte das die bizarrsten Formen hervor und regte die Fantasie an. Ich glaubte zum Beispiel, einen Wirbelsturm zu erkennen, der sich aber schnell in eine Gestalt verwandelte, die die Arme nach uns ausstreckte.
»Das Polarlicht entsteht durch die Sonne«, unterbrach ich diese geisterhafte Stille. »Reine Elektrometeore.«
»Wow«, gab Marc von sich. »Das habe ich noch nie live gesehen, Jake. Es ist wunderschön.«
Mit einer gezielten Aktion zog ich meine Waffe und richtete sie auf meine beiden Besucher.
»Was soll das, Jake?«, fragte Sam erschrocken.
»Ganz ruhig, ihr beiden. Ich traue euch einfach nicht über den Weg. Was sollte das vorhin, als du Marc gesagt hast, dass ich euch tot nichts mehr nützen würde? Das hört sich sehr nach ›unter einer Decke stecken‹ an, oder täusche ich mich da?«
»Du täuscht
dich gewaltig. Ich kenne diesen Kerl nicht
einmal.«
»Aber ich kenne Sam Teasle«, gab Marc von sich. Teasle sah wütend aus.
»Was soll der Mist, Mann. Wollen Sie von ihm erschossen werden?«
»Keine Sorge, Marc, Sam erschieße ich auch und ich treffe hervorragend, es wird keine Schmerzen geben!«, erwiderte ich, wobei ich Sam durchdringend ansah.
»Ich habe seine Akte gelesen, als ich hierher verfrachtet wurde«, erzählte Marc weiter.
»Meine Akte? Wie kommen Sie dazu, meine Akte zu lesen? Wer sind Sie?«
»Jakob!«
»Hör endlich mit diesem Jakobscheiß auf! Du weißt, wer du bist, Marc.«
»Siehst du das denn nicht, dass ich den Typen jetzt schon nicht mehr ausstehen kann?«, rief Sam zornig.
»Tut mir leid, Sam, aber es könnte sich auch um einen Trick handeln. Ihr bleibt mir jetzt schön vom Leib, sonst weiß ich nicht, wie ich reagiere.«
Marc saß einfach nur da und bestaunte abwechselnd das Feuer und das Polarlicht, während Sam mit weit aufgerissenen Augen mich und meine Waffe anstarrte.
»Der Heilige wird kommen, der Heiland wird unsere Seelen retten«, murmelte Marc vor sich hin. Einen kleinen Moment lang war ich unachtsam und gleich hörte ich das Klicken von Sams Waffe, die er genau auf meinen Kopf gerichtet hielt.
»Verflucht!«, stieß ich aus.
»Lass deine Waffe fallen, Jake. Glaub mir, ich werde schießen, bevor du auch nur einen Gedanken daran verschwendest, abzudrücken.«
Vorsichtig legte ich meine Waffe vor mich hin, wobei ich immer wieder einen Blick zu Marc warf. Irgendetwas ging mit ihm vor, fragte sich nur, was.
»So, und jetzt hört ihr mir mal beide zu: Ich bin Sheriff Sam Teasle, und ich fühle mich, als hätte mich diese chlystische Seuche noch nicht heimgesucht. Wenn du mir nicht traust, Jake, dann ist das deine Sache, doch ich möchte es noch einmal sagen: Ich kenne diesen Jakob nicht!«
»Marc ist mein Name, Marc Richmont«, stammelte er, wobei er immer noch in den Himmel starrte, und ein Gesicht machte, als wäre er in einem Bordell eben zum Höhepunkt gekommen. Am liebsten hätte ich ihm noch eine verpasst, vielleicht wäre er danach wieder bei Verstand, doch mir waren die Hände gebunden. Verdammter Mist!
»Mister Richmont!«, rief Sam. »Sehen Sie mich an!« Er wiederholte es einige Male, bis der neu getaufte Jakob endlich reagierte.
»Nehmen Sie sich zusammen, zum Teufel. Wir sind hier nicht in Indien, um uns selbst zu finden, sondern direkt in der Hölle. Und wenn Sie das nicht begreifen, dann kann ich Ihnen auch nicht mehr helfen.«
»In deiner Hölle, Sam, wer weiß, möglicherweise hast du sie erschaffen«, konterte ich.
»Was redest du da? Haben die Chlysten in dein Gehirn geschissen, oder lässt du dich von deinem neuen Freund hier inspirieren, ein Kotzbrocken zu sein?«
»Wegen dir wäre ich beinahe in einem Staatsgefängnis gelandet. Außerdem: Was soll ich von einem halten, der sich mit den Freimaurern abgibt? Einem Verein, der uns nur schaden will!«
»Uns? Wen meinst du damit?«
Mir war etwas herausgerutscht, das ich besser hätte verschweigen sollen. Marc reagierte sofort und stand auf.
»Zebaoth! Herr der Götter, bringe diese verirrten Seelen zurück an den rechten Ort, zerschlage das Böse und gib mir die Kraft, den Messias in unsere Reihen aufzunehmen.«
»Setzen Sie sich!«, rief Sam, doch Marc schien nicht daran zu denken. »Zerstöre den Satan in unserer Mitte, und gib mir die Kraft«, schrie er.
Sam stand auf und zielte direkt auf ihn. »Maul halten!«
»Und Rasputin wird unsere Mitte führen, er leitet uns auf den rechten Weg!
»Seien Sie endlich still, Sie verfluchter Chlyst!«
Jetzt klingelten bei mir auch die Alarmglocken. Diese Beleidigung ließ ich nicht auf mir sitzen. Sofort sprang ich auf und raste auf Sam zu. Trotz seines größeren Gewichts konnte ich ihn zu Boden werfen.
»Bastard!«, rief er noch, als er bereits meine Faust im Gesicht zu spüren bekam. Wir prügelten uns im eiskalten Schnee, wobei wir abwechselnd die Oberhand bekamen. Ausgeglichener ging es kaum. Doch letztendlich schritt nicht ich über die Siegesstraße, als plötzlich ein Schuss fiel.
»Sofort aufhören!«, hörte ich Marcs Stimme. »Das Datum der Wiedergeburt naht!«
Sam und ich standen auf, warfen uns verachtende Blicke zu, und näherten uns Mister Richmont.
»Was redest du da, Marc?«
»Mein Name ist Jakob, und meine Aufgabe ist es, den Messias auf diesen Tag vorzubereiten, ihm zu sagen, dass die Welt seine Ankunft voller Sehnsucht erwartet.«
»Und wann soll das sein?«, fragte Sam, während er sich den Schnee von seiner Kleidung abklopfte.
Ich überlegte kurz. »Am 22. Januar«, sagte ich mit Bestimmtheit. Eine seltsame Euphorie überkam mich plötzlich, als wäre ich mit Drogen vollgepumpt.
»Wie kommst du denn darauf?«
»Rasputins Geburtstag!«
Doch Marc schien es besser zu wissen. »Nein, Jake, Grigori wurde am 10. Januar geboren.«
»Du musst dich täuschen, Marc. Ich habe es schwarz auf weiß gelesen: Rasputin kam am 22. Januar zur Welt.«
»Von was redet ihr da?«, fragte Sam überrascht, doch er bekam keinerlei Beachtung, weder von mir, noch von »Jakob«.
Richmont schwieg. Entweder hatte er keine Ahnung von dem, worüber er da redete, oder er durfte nichts preisgeben. Ich versuchte nachzudenken, wobei mir das deutlich erschwert wurde, da ich ständig die Waffe in Richmonts Hand sah. Er zielte zwar nicht direkt auf uns, jedoch konnte man nie wissen, wann sich das ändern würde.
Wieso redete Marc vom 10. Januar, wenn Elsa und ich es doch am Computer anders gelesen hatten? Ich glaubte kaum, dass diese schriftlichen Beweise gefälscht waren. Es musste sich um etwas anderes handeln, vielleicht einen Rechenfehler, eine falsche Überlieferung aus einer Zeit, in der man die Tage noch anders gezählt hatte. Genau das musste es sein. Jake, dein Verstand funktioniert noch!
»Sam, du kennst dich bestimmt aus, du bist schließlich älter als ich.«
Er sah mich völlig erstaunt an, als ob er meine Worte als Sarkasmus verstehen würde, doch das waren sie mit absoluter Sicherheit nicht. Das Gegenteil war der Fall: Ich brauchte ihn tatsächlich!
»Gab es früher noch eine andere Zeitrechnung?«
»Was meinst du damit?«
»Nun, ich weiß aus dem Geschichtsunterricht, dass unser Kalender nach Papst Gregor geführt wird.«
»Verstehe. Also wenn ich mich recht erinnere, gab es vor unserem Jahresweiser den Julianischen Kalender. Weshalb fragst du?«
Ich nickte, genau danach hatte ich gesucht. Jetzt wusste ich, wie Marc auf dieses Datum kam. Ich konnte mich vage daran erinnern, dass dieser Kalender in der Zeitrechnung etwas voraus war und sich demnach alle Datumsangaben von unseren unterschieden. Zum Teufel auch, wir befanden uns in der Zeitrechnung von Julius Cäsar und somit war auch das Datum der Wiedergeburt vorgezogen worden. Ich konnte es kaum fassen, doch der 10. Januar war für mich ein Zeitpunkt, der mit Entstehung zu tun hatte: Es handelte sich dabei um meinen eigenen Geburtstag. Ich hatte also am selben Tag wie Rasputin das Licht der Welt erblickt. Mein Gott, wer war ich?
Konnte es sich dabei lediglich um einen Zufall handeln? Sofort fielen mir erneut Bileams Worte ein, als er sagte, dass es bei den Chlysten keine Zufälle geben würde. Der Kreis schien sich zu schließen!
»Lassen wir das einmal mit diesem Wiedergeburts-Gerede, sprechen wir von dir, Marc.«
Er sah mich erstaunt an, so als ob er damit völlig überfordert wäre. »Ich bin unwichtig, Jake, ein Wurm, ein Nichts. Nicht würdig genug, dass man von mir spricht. Einzig der Messias verdient, in aller Munde geführt zu werden!«
Sam sah zu mir herüber und schüttelte leicht den Kopf.
»Ich meine, wie bist du hierhergekommen? Du sagtest vorher etwas über eine Mine.«
Marc schwieg und verneinte mit einem kurzen Kopfschütteln. Er wollte wohl nicht antworten. Ich versuchte ein anderes Mittel. »Aber allem Anschein nach bist du doch hier, um uns von der Ankunft des Messias in Kenntnis zu setzen, oder irre ich mich?«
»Ja!«
»Und ich nehme an, dass dies eine Einladung zu diesem Event ist?«
»Es ist eure Pflicht, daran teilzunehmen!«, sagte er mit Bestimmtheit, während sich sein Blick verfinsterte.
»Dann zeige uns den Weg dorthin, Jakob. Er führt sicherlich durch diese Mine.«
Es schien zu wirken! Marc zeigte mit der Hand in eine Richtung, die hinter die zerstörten Baracken führte. »Dort gibt es einen alten Zugang. Geht dort hinunter, und folgt dem Haupttunnel, der zu einem Schienensystem führt. Setzt euch in den Wagen und löst die Bremse.«
»Und das Ding führt uns dann zu dem heiligen Platz, an dem der Messias erscheint?«, fragte ich mit einem Hauch von Ironie. Na ja, welcher normale Mensch nahm schon eine derartige Geschichte ernst.
»Oh, du glaubst mir nicht, Jake?«, grinste Marc. »Du wirst dein blaues Wunder erleben, wenn du ihn erst einmal zu Gesicht bekommen wirst.«
»Bist du ihm denn schon begegnet?«
»Er war schon ganz nah bei mir, Jake, ich spürte seinen Atem.« Während Marc dies von sich gab, sah ich, wie er sein Auge schloss und leicht lächelte. Er war besessen von dieser Überzeugung, und ich konnte es ihm nicht einmal übel nehmen.
Mein Drang zu den Chlysten war trotz meiner Bedenken, die immer noch an mir nagten, ebenso stark. Ich musste mich zusammenreißen, um nicht auf der Stelle gemeinsam mit Marc zielgenau in Richtung des Messias zu stapfen. Doch ich konnte mich zurückhalten, obgleich mein innerer Kampf wieder neu entfacht wurde.
Nach der Aussage von Marc konnte ich sichergehen, dass er den Heiland noch nicht gesehen hatte. Er sagte keinen Ton davon, ihm in die Augen geblickt oder je mit ihm gesprochen zu haben. Auch erzählte er von ihm mit geschlossenen Augen, und somit war ich überzeugt, dass ihm jemand einen makabren Streich gespielt hatte. Marc war völlig hinüber, und im gewissen Sinne tat er mir auch leid!
»Mister Richmont!«, rief Sam, woraufhin Marc sein Auge wieder öffnete. »Was ist hier geschehen?«
Dies war eine Frage, die mich natürlich
ebenfalls brennend interessierte.
Ich hoffte, dass Marc eine Antwort dazu parat
hatte.
»Dieser Ort war schon zu lange verseucht, er musste gereinigt werden.«
»Gereinigt?«, hakte ich nach, und sogleich fiel mir meine eigene Predigt ein, als ich vom alles reinigenden Feuer geredet hatte. Richmont war ohne Frage ein Chlyst, ebenso wie ich mich als solchen bezeichnen konnte. Doch die Frage, ob wir das wollten oder nicht, stellte sich hier nicht. Aus meiner Sichtweise zumindest konnte ich mit Bestimmtheit sagen, dass ich mich wie ein Nazi im Zweiten Weltkrieg fühlte: Entweder ganz oder gar nicht!
»Ja, Jake, gereinigt.«
»Ging das von den Chlysten aus?«, fragte Sam, der mittlerweile wieder näher beim Feuer saß und nebenher einige Bretter in die Flammen geworfen hatte.
»Eine Anordnung unseres Messias.«
Seine Antwort zeigte mir, dass meine Überlegungen nicht völlig aus der Luft gegriffen waren. Es handelte sich aller Wahrscheinlichkeit nach tatsächlich um echte Russen, die dieses Gebiet absperren ließen, doch wieso war Fender daran beteiligt, und weshalb wurden sie von freimaurerischen KGB-Agenten so schnell und gnadenlos beseitigt?
»Wer genau war an diesem Überfall beteiligt?«
Marc schwieg, und ich glaubte auch zu wissen, weshalb: Er wusste es einfach nicht.
»Ich will, dass du mir jetzt genau zuhörst, Richiboy.«
Er sah zu mir auf und es schien so, als ob ihm der Spitzname, den ich ihm verpasst hatte, nicht sonderlich gefiel. Doch das war mir egal. Was sprach schon dagegen, einen Propheten so zu nennen?
»Das trägt nicht die Handschrift der Chlysten. Diese Truppe, die das hier angerichtet hat, war eine Einheit der Freimaurer.«
»Du lügst, Jake.« Er richtete die Waffe erneut auf mich.
»Einer von ihnen trug ihr Zeichen, Marc. Es konnte sich nicht um eine Anordnung des Messias handeln. Woher bekamst du die Informationen über diese Operation hier draußen?«
»Vom Messias selbst«, antwortete er. »Es hat es mir ins Ohr geflüstert.«
Ich schüttelte den Kopf und fragte mich, wer das wirklich gewesen war. Bileam? Aber das würde bedeuten, dass …
Mein Gedankengang wurde durch einen Schuss unterbrochen. Sam hatte blitzschnell Mister Richmont gepackt und hielt ihn mit dem Arm, den er direkt um dessen Hals gelegt hatte, fest. Dabei hatte sich wohl ein Schuss von Marcs Waffe gelöst. Früher in der Schule hatten wir diesen starken Griff »Schwitzkasten« genannt, aber nach Sams Kraft zu urteilen, handelte es sich dabei mehr um eine ganze Sauna.
Sam hatte sich, während wir uns unterhielten, leise hinter Marc geschlichen, ohne dass wir auch nur im Geringsten einen Laut wahrnehmen konnten. Dieser alte Teufel war unberechenbar!
Sam nahm ihm die Waffe ab, und Marc rang nach Luft, wehrte sich aber kaum.
»So, Freunde, ihr könnt nun euer scheinheiliges Spiel beenden.«
Ich war erleichtert, obwohl ich ein wenig von Teasles Aussage irritiert war. »Danke, Sam, ich muss zugeben, langsam ging mir die Muffe«, stieß ich erleichtert aus und lief auf ihn zu.
»Keinen Schritt weiter, Jake. Du bleibst wo du bist, oder sag deinem Freund auf Wiedersehen.« Er hielt die Waffe an Marcs Kopf.
»Was soll das jetzt schon wieder, Sam?«
»Gar nichts, Jake, ich kläre lediglich die Fronten. Glaubst du, ich durchschaue dein Spiel nicht? Ich bin zwar schon alt, aber nicht blöd. Denkst du tatsächlich, dass mir eure geheimen Zeichen entgangen sind? Spiel nicht den Unschuldsengel, du bist entlarvt!«
»Jetzt beruhige dich, Sam, ich bin nicht dein Feind.«
»Oh, ich bin völlig ruhig, du bist derjenige,
der aufgebracht wirkt.«
»Das ist beileibe auch kein Wunder, wenn jemand mit einer geladenen Waffe in der Hand seine ›Fronten klärt‹.«
Marc versuchte etwas zu sagen, doch Sam drückte noch kräftiger zu und hielt die Waffe fester an seinen Hals.
»Bring ihn nicht um, Sam. Er kann uns direkt ins Herz der Chlysten führen, wir brauchen ihn.«
»Du verstehst es immer noch nicht, oder? Das Herz der Chlysten, so wie du es nennst, liegt direkt in Downfall. Ich weiß, wo sich dieser Ort befindet, ich brauche keinen durchgeknallten Irren, der aus irgendeiner Anstalt entlaufen ist, verstehst du? Ihr beide seit jetzt entbehrlich!«
Marc konnte nun doch etwas sagen, hatte aber große Mühe, denn der Würgegriff von Sam schien enorm stark zu sein. »Die Waffe hat keine Munition mehr!«
Ich sprang mit einem schnellen Satz auf Sam zu und hörte noch, wie er abdrückte. Verfluchter Mist, ich hoffte in dieser Sekunde, dass Marc ausnahmsweise keinen Stuss erzählt hatte!
Es ertönte ein metallisches Klicken, als der Hahn der Waffe auf den Bolzen schlug. Richmont hatte also recht gehabt.
Als ich die beiden schließlich erreichte, flogen wir alle drei zu Boden, direkt hinein in den eisigen Schnee. Wir törichten Trottel. Anstatt uns auf unsere Feinde zu konzentrieren, prügelten wir uns wie Schulkinder, die sich untereinander das Pausenbrot gestohlen hatten. Ich schlug auf alles ein, was mir in die Quere kam, doch diese Taktik war keineswegs von Erfolg gekrönt. Die anderen hatten offenbar den gleichen genialen Einfall.
Wer nun bei diesem sinnlosen Unterfangen als echter Sieger hervorgegangen war, blieb wohl für immer ein Rätsel. Die Bilanz glich einem Kampf im professionellen Boxen: Ich blutete unter dem rechten Auge, Sam klagte über seine Hände, deren Knöchel aufgeschürft waren, und Marc rieb ständig seinen Unterkiefer, der jedes Mal stark knackende Geräusche von sich gab, wenn er ihn bewegte. Im Klartext: Wir waren ein Haufen gezeichneter Bastarde, die sich nicht mehr unter Kontrolle hatten. Letzten Endes, wusste keiner von uns, wer auf der richtigen Seite gestanden hatte.
Nachdem wir uns wieder beruhigt hatten, trafen wir uns am Feuer wieder. Nicht, dass wir uns gegenseitig vermisst hätten, nein, es waren die wärmenden Flammen, die uns erneut zusammenführten. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich diesem finsteren Ort den Rücken gekehrt – dieses Mal für immer. Doch ich konnte nicht, nicht ohne Elsa. Ich war mir ebenfalls sicher, dass auch Sam und Marc ihre eigenen Gründe hatten, nicht von hier fortzugehen. Unser Weg führte uns immer näher zu den Dunkelroten.
»Du hast mir vorhin nicht geantwortet, Sam.«
Teasle sah mich an. Er wirkte zunächst überrascht, als ob er nicht wüsste, worauf ich hinaus wollte. Doch plötzlich schien der Groschen zu fallen.
»Ja, Jake, ich habe den Mantel vor langer Zeit einmal getragen. Bist du nun zufrieden?«, erwiderte er zornig, und ich wusste, dass er sich darauf keine Antwort von mir versprechen würde.
Marc schwieg. Ich glaubte zu erkennen, dass er sich genauso angesprochen fühlte. Er warf noch ein altes Brett ins Feuer.
»Ich trage ihn auch«, sagte er.
Darüber war ich mir schon vor seiner eigenen Schuldigsprechung klar gewesen. Marc war ohne Zweifel ein Chlyst, wobei Sam sogar noch Wurzeln in der Amish-Gemeinde vorweisen konnte. Und ich? Ich war einer der Dunkelroten schlechthin. Ich verübte diese teuflischen Morde, trieb ein falsches Spiel, und erhoffte mir insgeheim, dass sich alles von selbst auflösen würde – natürlich zu Gunsten der Chlysten. Zum Teufel auch, hier saßen drei Mitglieder dieser geheimen Sekte, jeder vertieft in seine eigenen Gedanken, die nichts anderes hervorbrachten als Selbstzweifel.
Es war schon eine kranke Vorstellung, dass ein Mensch, der zwischen Falsch und Richtig unterscheiden konnte, sich nicht sicher war, ob ein Mord an einem Ungläubigen eine gute oder böse Tat war. Wenn ich mir diese Runde so ansah, erkannte ich drei gute Polizisten, die eh und je das Gesetz vertreten hatten. Sie waren, wie man immer so schön sagt, das zu Fleisch gewordene Gute, und dennoch mordeten und töteten wir wie Serienkiller und fühlten uns nicht schuldig genug, dem ein Ende zu setzen!
Während die Nacht voranschritt, und sich das Polarlicht langsam verdunkelte, wurde es immer kälter, und wir rückten zwangsläufig immer näher zusammen. Die Flammen vermittelten den Eindruck, dass es sich bei dem Feuer um eines von den Chlysten handelte, das uns wieder vereinigen sollte wie ein Schmelzofen, der verschiedene Metalle zu einer festen Form verwandelte. Ich versuchte das zu unterstützen.
»Den wievielten haben wir heute?«
»Den 28. Dezember, denke ich«, antwortete Marc mit vor Kälte zitternder Stimme.
»Dann haben wir noch ganze dreizehn Tage, richtig?«
Sam nickte. »Du sagst es, Jake. Und was hast du jetzt vor? Spielen wir Reise nach Jerusalem?«
»Nicht ganz, Sam. Ich dachte eher an eine andere Stadt.«
»Und welche?«, fragte Marc.
»Crimson!«, sagte ich mit Entschiedenheit.
»Gott bewahre«, antwortete Sam, obgleich ich deutlich zu hören glaubte, dass er diese Idee als nicht ganz so abwegig empfand, wie er sagte. Sicherlich, ich konnte mir gut vorstellen, dass er keine Lust dazu verspürte, diesen Ort je wiederzusehen. Wozu auch.
»Was willst du denn dort?«, gab Marc von sich.
»Ich möchte etwas überprüfen, was mich schon
lange beschäftigt.«
»Geh du alleine, ich habe keine Ambitionen mehr, je wieder eine von diesen Bestien zu treffen.«
Ich verstand, dass Marc etwas Grauenvolles damit verband. Ich schätzte, dass er den Exorzismus meinte, den man an ihm durchgeführt hatte. Natürlich verstand ich ihn, und meine innere Schlacht gegen die Dunkelroten tobte wie noch nie zuvor. Es schmerzte schon körperlich, mich dagegen zu wehren, endgültig zu ihnen zu gehören. Doch auch, wenn ich es nicht wahrhaben wollte: Wenn wir die Chlysten je besiegen wollten, mussten wir zusammenarbeiten. Doch ich war mir dabei nicht im Klaren, was dieser Sieg für mich bedeuten würde: Meine persönliche Erlösung? Oder musste ich sterben, um zu siegen, wie Jesus von Nazareth es einst gewählt hatte?
»Sam? Begleitest du mich wenigstens?«
»Nein, Jake. Das ist dein Weg, nicht meiner.«
»Aber euch ist doch sicherlich klar, dass wir in dreizehn Tagen in Downfall sein müssen?«
Sie starrten
mich an, als wäre ihnen soeben ein Geist begegnet.
»Bist du nun völlig übergeschnappt?«, meinte Sam. »Merkst du denn nicht, dass unsere einzige Chance, die Sache hier heil zu überstehen, die ist, dass wir uns von hier verpissen? Du kannst sie nicht aufhalten, Jake, ihre Macht ist zu stark!«
Doch ich wollte mich von Sam nicht beirren lassen, ich hatte schließlich mein Ziel vor Augen. Ich musste die beiden nach Downfall locken. Wie sonst sollte das mit den Dunkelroten funktionieren?
»Allein erreiche ich es auf keinen Fall. Wenn ihr mich hängen lasst, unterschreibt ihr mein Todesurteil.«
»Verdammt, Jake. Was soll das? Sollen wir jetzt diese Schuld auch noch tragen? Ich muss schon sagen, du bist schnell, was das angeht«, rief Sam erbost.
Eine kurze Stille trat ein und wir starrten auf das Feuer. Doch die Ruhe wurde unterbrochen, als sich plötzlich Marc zu Wort meldete und davon erzählte, was ihm zugestoßen war, nachdem er Rasputins Initialen »geschenkt« bekommen hatte. Vermutlich hatte ihn die Prügelei wieder auf den Boden der Tatsachen gebracht. Fragte sich nur, wie lange so etwas anhalten würde.
»Nachdem man mich aus dem Krankenhaus von New
Rock entlassen hatte, war ich auf dem Weg nach Fairbanks, als mich
plötzlich ein dunkelroter Pickup verfolgte. Zuerst fiel er mir
nicht auf, doch mir war immer noch der rote Wagen im Gedächtnis,
den wir damals verfolgt haben, Jake, erinnerst du dich?«
Ich nickte; diese Verfolgungsjagd würde mir wohl für immer in Erinnerung bleiben.
»Nun, ich erhöhte die Geschwindigkeit, um zu
sehen, ob es sich möglichweise um
einen Zufall handelte, doch ich irrte mich.« Er hielt inne.
»Bei den Chlysten gibt es keine Zufälle.«
Ironisch lächelte ich in mich hinein. Dieser Satz schien eine Art von Gebot zu sein, und ich musste eingestehen, dass es nahezu immer eingetreten war. Dieser Fakt gab mir zu denken!
»Nachdem ich bemerkt habe, dass mich der dunkelrote Wagen mit den getönten Scheiben verfolgte, rief ich die Zentrale in Fairbanks an und bat um Hilfe. Jedoch war ihre Antwort alles andere als beruhigend: Die sagten mir, dass alle Fahrzeuge zurzeit im Einsatz wären und es einige Zeit dauern würde, bis Streifenwagen eintreffen würden. Ich sollte auf keinen Fall aus dem Wagen steigen und zur nächsten Polizeistation fahren. Doch auch das schaffte ich nicht mehr. Der Wagen hinter mir drängte mich von der Fahrbahn ab, woraufhin ich ins Schleudern kam und beim Unfall mein Bewusstsein verlor. Ich dachte, dass es mein Tod sein würde, und im Nachhinein betrachte ich diesen Gedanken als einen Segen. Warum nur musste ich weiterleben?« Er starrte uns an und ich sah, dass sein einziges Auge nass geworden war.
»Als ich dann schließlich zu mir kam, fand ich mich auf einem Stuhl gefesselt wieder. Die Luft stank nach verbranntem Fleisch, der ganze Raum war voller Qualm, und einige nackte Frauen umgarnten mich. Sie fassten mich an, küssten mich, und drückten mir ihre warmen Brüste ins Gesicht. Zuerst dachte ich, es wäre ein Scherz von Kollegen, doch als sie mir Blut über das Gesicht schütteten, war mir mehr als klar, dass dem nicht so war. Sie befriedigten mich, nahmen mein Glied in ihre mit Blut gefüllten Münder, ließen das Blut über meinen Körper laufen und schliefen abwechselnd mit mir. Ich konnte mich einfach nicht beherrschen, und trotz meiner Abneigung gegenüber diesen vom Teufel bezahlten Huren siegte das berauschende Gefühl in mir.«
Marc hielt inne und ich nutzte die Gelegenheit, um in meine Gedankenwelt zu entfliehen. Ich wusste ja, wovon er sprach. Mit geschlossenen Augen genoss ich noch einmal diese Art der sexuellen Ausschweifungen, die mich ebenso heimgesucht hatten. Ein verschämter Blick zu Sam verriet mir, dass ihm die Geschichte von Marc wohl ebenfalls bekannt vorkam. Er schien dasselbe erlebt zu haben. Plötzlich überkam mich die Begierde, und ich dachte an Katie, wie ihre Hände meinen Körper angefasst, meine Gefühlswelt völlig durcheinandergebracht hatten und wie meine Sehnsucht nach einer weiteren Berührung von ihr ins Unermessliche stieg.
Allmählich wurde mir gewahr, dass wir drei uns in den Fängen der Dunkelroten befanden und dem gnadenlosen Griff ihrer finsteren Tentakel nichts entgegensetzen konnten. Ich versuchte, meine Gedanken wieder zu ordnen.
»Was geschah dann?«, fragte ich nach.
Marc atmete tief durch. Er hatte wohl Schwierigkeiten, sich zu offenbaren, dennoch war ich ihm dankbar dafür, dass er sein Schweigen mir gegenüber gebrochen hatte. Ein weiterer Grund, meine Sache voranzutreiben.
»Danach folgte die tagelange Folter, sie
rissen mir mein Auge aus, verarzteten mich immer wieder und redeten
wirres Zeug. Sie sprachen von einem Erlöser, ihrem Glauben und
hatten mich schließlich so weit, dass ich dem Ganzen eine Bedeutung
schenkte. Außerdem erzählten sie immer wieder von einem, der kommen
würde, ein Mensch von außerhalb, der den Chlysten neues Leben
einhauche, und dass sie nach ihm suchten. Doch ich konnte ihnen
keine Auskunft darüber geben, über wen sie da sprachen, Jake. Sie
fragten auch, ob ich derjenige wäre, nachdem sie Ausschau
hielten.«
»Und, bist du es?«, fragte ich ernst.
»Spinnst du? Natürlich nicht. Frag doch deinen Sheriff dort drüben, möglicherweise ist er es.« Sam reagierte aber nicht darauf.
Es schien ihn kaltzulassen.
Nachdem sich Marc ein wenig beruhigt hatte, nahm er den Faden wieder auf. »Es war fürchterlich. Keine zehn Pferde bringen mich noch einmal dorthin. Da ziehe ich den Tod vor, ohne einen Augenblick darüber nachzudenken. Das könnt ihr mir beide glauben.«
Marc klang sehr überzeugend, dennoch vertraute ich ihm nicht mehr. Es war kaum eine geschlagene Stunde her, da war er noch auf einer völlig anderen Schiene gefahren. Ich fragte mich, wohin sein mörderischer Nachtexpress fuhr, und wen er alles darin mitriss!
»Marc!«, rief ich. Er sah mich mit ernsten Augen an. »Ich brauche deine Hilfe, verstehst du das?«
»Vergiss es, Jake, ich geh da nicht wieder hin.«
»Du sagtest, dass du auf keinen Fall diesen Bestien erneut begegnen willst, richtig? Deine Wortwahl lässt mich sofort erkennen, dass das aller Wahrscheinlichkeit nach noch zaghaft ausgedrückt war. Ich möchte, dass du dich erneut in deine damalige Situation hineinversetzt und die ganzen Gräueltaten, die an dir verübt worden sind, in deinen Gedanken noch einmal durchlebst.«
»Du bist eindeutig krank. Was soll das? Willst du, dass ich draufgehe? Du kannst dir wohl nicht vorstellen, wie das ist, wenn sie von dir verlangen, dein eigenes Blut zu trinken.« Er stand auf, und ich bemerkte, wie er rasend wurde. Aber genau das war meine Absicht.
»Sie gaben mir Dinge zu essen, von denen nicht einmal deine schlimmsten Albträume erzählen. Sie bereiten dir Schmerzen, dass du Gott darum bittest, deine eigene Mutter zu verfluchen, dass sie dich je zur Welt gebracht hat. Du weißt nicht, was du da redest.« Er setzte sich wieder und fing an zu weinen. »Gott, was habe ich nur verbrochen, um solche Demütigungen ertragen zu müssen?«
Sam schien ebenso davon berührt worden zu sein, mein Plan schien aufzugehen.
»Und genau in dieser Hölle befindet sich Miss Elsa Below.«
Sofort sah Sam zu mir und ich erwiderte seine Blicke. Sein schlechtes Gewissen stand ihm ins Gesicht geschrieben, und er schaute weg. Marc jedoch hob den Kopf. »Wer?«
»Meine Nichte«, antwortete Sam.
»Sie haben sie gefangen genommen. Ich möchte nicht wissen, was mit ihr gerade passiert, Marc. Sie wurde von ihrem Vater bereits schwer misshandelt. Er ist einer der Drahtzieher dieser Teufelsbande.«
Ich sah, dass in Marc etwas vorging.
»Und wieso glaubst du, dass sie noch lebt?«, fragte er.
»Ich weiß es, Marc. Es ist nicht allzu lange her, seit ich sie noch einmal gesehen habe. Außerdem ist sie als eine ihrer Gottesmütter auserkoren worden, und sie brauchen sie. Sie wird ihren neuen Messias gebären.«
Marc schwieg, und ich konnte erkennen, dass er scharf nachdachte. Ja, er rang womöglich im Innersten seiner Seele nach Freiraum, doch dieser unerbittliche Kampf war alles andere als einfach.
»Ich weiß nicht, wie lange ich dem standhalten
werde, Jake. Es ist nahezu unmöglich, mich meinem Schicksal zu
entziehen, verstehst du das?«
»Nur zu gut, Marc.« Auch Sam nickte verständnisvoll.
»Wenn wir das je durchziehen, musst du mir jetzt etwas versprechen.«
»Was meinst du?«
»Wenn ich dennoch scheitern sollte, verlange ich von dir, dass du es beendest!« Marc sagte das in einer unglaublichen Härte, und ich wusste natürlich, was er damit meinte: Ich sollte demnach sein Leben beenden. Keine Ahnung, ob ich das fertigbringen würde, doch für den Augenblick konnte ich es ihm versprechen.
Sam atmete tief durch, sah sich ein wenig um und nickte dann schließlich, ohne dass er mir einen seiner sarkastischen Blicke schenkte. Das war also geschafft!
»Wie lautet dein Plan?«, fragte er.
»Ich dachte mir, Mister Richmont sollte wieder zu ihnen zurückgehen, so tun, als hätte er seine Aufgabe erfüllt und denen sagen, dass wir aufkreuzen würden, und dass alles in bester Ordnung ist. Sie werden dir schon nichts tun, Marc. Denke immer daran: In dreizehn Tagen sehen wir uns, und beenden die Sache ein für alle Mal, verstanden?« Marc nickte selbstsicher, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, und wurde in diesem Augenblick wieder zu dem Mann, wie ich ihn kannte.
»Sam, wenn du mir immer noch helfen willst, begib dich zur neuen Russenbasis, schau nach, was dort los ist. Kundschafte sie aus, vielleicht kannst du etwas Wichtiges in Erfahrung bringen.«
»Aber wenn sie mich erwischen?«
»Keine Sorge, die werden dir nichts tun, da bin ich mir sicher. Parker wird frühzeitig zur Stelle sein, um dich erneut zu retten.«
»Aber …«
»Vertrau mir einfach, Sam.«
Teasle schüttelte den Kopf. Er konnte es sich nicht erklären, wie ich in dieser Hinsicht so sicher sein konnte. Doch da ich wusste, dass die Leute vom KGB Freimaurer waren, bot sich diese Überlegung an. Parker war mit Gewissheit dort. Es konnte sich keinesfalls nur um einen Zufall handeln, dass der Weg zu der Mine urplötzlich frei war, sodass wir ungehindert hier passieren konnten. Nein, dieser Weg wurde absichtlich zur rechten Zeit von unserer ungebetenen »Besatzungsmacht« frei gemacht. Diese ganze Sache hier, der gesamte Ablauf und die nahtlos zusammenpassenden Ereignisse wurden zweifellos perfekt inszeniert. Es schien so, als dass uns überhaupt nichts passieren konnte. Hier gab es keine Zufälle. Das Ganze glich einem makabren Theater, dessen Zuschauer und Akteure dieselben waren, mit dem einzigen Unterschied, dass beide Parteien nicht wussten, wie es je enden würde.
»Und was hast du vor, Jake?«
»Ich?«, sagte ich leise, während ich mich nach Osten wandte und die kalte Luft genoss. »Meine Reise führt mich in eine Stadt, deren Einwohner ebenso gottlos sind wie ihr ganzer verfluchter Kontinent.«
Damals hatte ich mir diesen Satz von Teasle
gut eingeprägt, als er mir im »Angel’s Bell« hatte weismachen
wollen, wie schrecklich diese Umgebung hier war, und dass es ohne
Zweifel kein Ort für mich wäre. Nun ja, ich hätte ihm damals
einfach mehr Glauben schenken sollen!