ERSTER TAG

Der erste Engel blies seine Posaune. Da fielen Hagel und Feuer, die mit Blut vermischt waren, auf das Land. Es verbrannte ein Drittel des Landes, ein Drittel der Bäume und alles grüne Gras.

Offenbarung Kapitel 8 Vers 7

Ich erinnere mich noch ganz genau an die Zeit meiner Versetzung. Es glich damals einer persönlichen Apokalypse, den Arsch aus meinem Bürosessel zu erheben und den hohen Posten beim FBI an den Nagel zu hängen.

Nicht, dass es mir nur wegen diesem Job leid tat – es ging mir auch um die Stadt, die ich dadurch verlassen musste. Wenn ich nur daran dachte, wurde mir schon speiübel, und ich hätte am liebsten dem gesamten Kollegium die Faust in den Magen gerammt. Detroit, Michigan! Welch eine Stadt! Es steckte so viel Leben in ihr.

In der letzten Zeit war ich fast jeden Abend Stammgast im »Walker«. Gut, nicht unbedingt eine Kneipe von hohem Niveau, keine sauberen Toiletten, und die Luft war so verraucht, dass ich jedes Mal ein Taschentuch benötigte, um mir die Tränen aus den Augen zu wischen. Aber es gab den besten Whisky weit und breit und die Bedienung war nicht ohne. Wie hieß sie noch gleich? Jessy? Mary? Ich muss zugeben, für weibliche Vornamen hatte ich mich noch nie wirklich interessiert, eher für deren Oberweiten. Sie trug leider kurzes Haar, dennoch war sie eines der Mädchen, für die ich töten würde.

Es ist schon Ironie, wenn man bedenkt, dass ich für die Aufklärung einiger Morde eingesetzt worden war, und ausgerechnet jemand wie ich sprach vom Töten. Nun ja, es ist ja auch nur so eine Redensart.

Die letzten zehn Jahre hatte ich in Detroit verbracht, wobei ich erst vor fünf Monaten das erste Mal das »Walker« betreten hatte. Ich glaube, einer der Gründe war der, dass mich etwa zu dieser Zeit meine Frau verlassen hatte.

Ja, dies war alles ein schwerer Umbruch für mich. Ich war irgendwie in einer Sackgasse gelandet. Wir hatten die ganze Ehe, die immerhin neun Jahre angedauert hatte, zu lange schleifen lassen.

Meist ging der Job vor, und ich habe dadurch meine Frau Cynthia sehr vernachlässigt. Sie sprach mich immer wieder darauf an; leider vergeblich. Ich fühlte mich ständig unter Beobachtung und schob ihr damals die Schuld zu. Ein großer Fehler. Und als dann auch noch unsere neue Kollegin, Miss Cole, ihren Dienst bei uns angetreten hatte, ging es vollends bergab: Ich begann damals ein Techtelmechtel mit ihr und wir landeten im Bett. Jede Woche. Als Ausrede für meine jetzige Exfrau landete mein Job auf dem ersten Platz der Ausredecharts.

Wie auch immer, lange ging das nicht gut, und irgendwann kam es raus. Wenn ich recht überlege, kann ich mich überhaupt nicht mehr daran erinnern, wie es passieren konnte. Ich war immer äußerst vorsichtig. Ich meine, ich arbeite, Entschuldigung, arbeitete beim FBI, der ranghöchsten Polizeibehörde in den Vereinigten Staaten, und sollte eigentlich Bescheid wissen, worauf es bei der Vertuschung von Beweisen ankommt. Den ganzen verdammten Tag war ich damit beschäftigt, Indizien von Mördern und Vergewaltigern zu sammeln, und schließlich kam man mir bei solch einer Lappalie auf die Schliche. Das Wort »Lappalie« hätte mir in dieser Hinsicht wirklich besser gefallen als das, das meine Ex mir damals an den Kopf geworfen hatte: Dreckschwein!

Für sie war es wirklich alles andere als Peanuts. Die Konsequenz konnte ich mir damals schon ausrechnen.

Mein Anwalt meinte, ich solle froh sein, dass es so glimpflich ausgegangen sei: Ich durfte das Auto behalten – einen alten 67er Chevy, der bei Kälte nicht anspringen wollte. Die Heizung war schon lange defekt und die Fahrertür klemmte, sodass ich fast jedes Mal durch die Beifahrertür einsteigen musste. Das Haus wäre mir lieber gewesen.

Das ganze Geld, welches ich damals verdiente, war für unser Haus draufgegangen; für einen neuen Wagen war einfach nichts übrig geblieben. Dieser fahrende Schrotthaufen erinnerte mich irgendwie an meine Frau: Nichts als Probleme. Oh Mann, schlechter hätte es damals wirklich nicht laufen können.

Sie grinste, als der Scheidungsrichter das Urteil verkündete und sie mir den Wagenschlüssel übergab. Das hängt mir heute noch nach: Der Moment, als sie mir den Schlüssel in die Hand fallen ließ. Das Letzte, was mir dazu noch einfällt, war das zufriedene Lächeln ihres Anwalts, während er seine Akten zusammenpackte. Das widerwärtige Feixen dieses milchgesichtigen Schlipsträgers hatte sich förmlich in mein Gehirn eingebrannt.

In meinem letzten Apartment, welches mir der Staat Michigan besorgt hatte, kam ich kaum zurecht, und es war eine extreme Umstellung für mich. Alleine schon das Bad war so eng, dass ich mich gerade mal von der Kloschüssel zum Waschbecken drehen konnte, und auch die Dusche war wohl für Kleinwüchsige gebaut worden. Immerhin war es eine Erfahrung, sich mal wie ein solcher zu fühlen, wenn man auf den Knien duschen musste.

Der Fahrstuhl im Haus war so oft außer Betrieb, dass die Hausverwaltung das Schild »Nicht defekt« ins Foyer hängte, wenn er mich dann doch ab und zu in den zwölften Stock fuhr. Welch ein Luxus!

Aber was hätte ich machen sollen? Das Haus wurde von meiner Exfrau verkauft, und ich bekam davon keinen Penny. Als ich mich damals kurz vor dem Verkauf ins Haus begab, um meine letzten Sachen zu bergen – der Rest meiner Klamotten kam aus dem Fenster geflogen –, lief sie mir noch einmal über den Weg. Ich versuchte, den Blickkontakt zu meiden, doch als ein Möbelwagen die Straße zu unserem Haus, Pardon, ihrem Haus hochfuhr, um die Möbel mitzunehmen, musste ich sie einfach fragen, warum sie das Haus verkaufte. Ein verachtender Blick war ihre einzige Antwort, und ich denke einfach, sie verband damit zu viele schlechte Erinnerungen. Ich kann es ihr nicht einmal übel nehmen.

Tja, und bei Miss Cole war danach ebenso Schluss. Jeder von meinen Kollegen wusste über unser Verhältnis Bescheid, und es dauerte nicht lange, bis der Commissioner davon erfuhr.

Nur, zu dieser Zeit war der Commissioner eine Frau und von diesen Neuigkeiten alles andere als begeistert. Kurz darauf wurde Miss Cole versetzt und gab mir auch noch die Schuld.

In den folgenden Wochen kam es mir so vor, als wüsste das ganze verdammte FBI-Hauptquartier Bescheid. Ich fühlte mich wie ein Tier, das zur Schlachtbank geführt wird. Ich war das Hauptthema! Und als ob dies nicht schon ausreichte, wurden mir die miesesten Fälle zugeteilt, deren Aufklärung entweder unmöglich war oder die mit so viel Arbeit verbunden waren, dass sie mir einen Fünfzehnstundentag beim FBI bescherten. Es war also auf der ganzen Linie beschissen.

Ich fühlte mich einsam, und so fand man mich nach fast jedem stressigen Arbeitstag in irgendeiner Tittenbar, in der ich ein paar hart verdiente Dollar in den Slip eines der Mädchen steckte. Auch wenn ich den Anblick der Tänzerinnen genoss, konnte ich mich dabei nicht fallen lassen. Der Grund waren aber eindeutig nicht die Mädchen, die wirklich eine gute Show ablieferten, sondern die Gedanken an meine kürzliche Scheidung, die mir den Verstand raubten. Und die Kerle, die um mich herum grölten, während ihnen der Sabber aus den mit schlechten und gelben Zähnen gespickten Mündern lief, machte die Sache nicht gerade besser. Genießen war hier nicht drin. Entweder du heulst mit der Meute oder du lässt es. Das Letztere war wohl zwangsläufig der Fall. Ich ließ mich zwar noch ein paar Mal blicken, doch ich merkte schnell, dass dies nichts von Dauer war.

Damals streifte ich abends oft durch die Straßen und ließ mich von den Großstadtlichtern verzaubern. Am schönsten war es immer, wenn es regnete und die Lichter der großen Lichtreklamen sich vermischten – wie auf einem Ölgemälde, auf dem man Wasser verschüttet hatte.

Viele Menschen behaupten, der Großstadtlärm würde sie zum Wahnsinn treiben. Bei mir war das anders. Das Hupen der Autos, der ferne Sound einer Polizeisirene, das Rattern der Hochbahn durch ganz Detroit ... all dies zeigte mir, dass ich noch lebte.

Oft stand ich nachts am Detroit River und sah auf die Skyline, deren Anblick mich jedes Mal aufs Neue faszinierte: diese gewaltigen Hochhäuser, deren Lichter sich im Wasser widerspiegelten. Das muss man erlebt haben; man kann es nicht mit Worten beschreiben. Ja, meine Heimat war Detroit, obwohl mir ihr Spitzname besser gefiel: Rock City. Hm, wie sie wohl zu diesem Namen gekommen ist? Vielleicht wegen Schockrocker Alice Cooper, der in dieser Stadt geboren wurde?!

Viele mögen mich für verrückt halten, aber jedes Mal, wenn ich meinem Job nachging, musste ich am alten Fisher Building vorbei, und ich war begeistert von dessen »biblischer« Bauweise, ähnlich dem Turm zu Babel. Es erinnerte mich zudem an ein paar alte Schwarz-Weiß-Filme mit Humphrey Bogart oder Cary Grant. Ich mochte die Zeit, in der diese Filme entstanden waren, und wünschte mir oft, ich könnte dorthin entfliehen. Aber in Erinnerungen schwelgen half mir natürlich auch nicht mehr weiter. Ich hatte mir ja alles selbst zuzuschreiben. Verdammt!

Doch es kam noch schlimmer. Eine Strafversetzung stand vor der Tür, und anstatt dass sie höflich anklopfte, flog gleich der ganze Rahmen mit aus den Angeln. Der Grund war diese verdammte Kneipe. Das »Walker« mochte eine gute Bar sein, aber der Alkohol, den sie dort ausschenkten, war wohl für keinen gut. Schon gar nicht für jemanden wie mich, den die Einsamkeit gepackt und durchgeschüttelt hatte, ohne dass ich auch nur im Geringsten etwas dagegen tun konnte.

Dann geschah es! Eines Abends, als ich die geleerten Whiskygläser nicht mehr zählen konnte, schlug ich grundlos jemanden nieder. »Grundlos« nannte es wenigstens die Richterin. Im Nachhinein betrachtet hatte sie natürlich recht. Jemandem zwei Zähne auszuschlagen, nur weil er in der Jukebox ein Lied ausgewählt hatte, das nicht meinem Geschmack entsprach, war wirklich des Guten zu viel. Die Schlägerei, die darauf folgte, war auf der ganzen Linie mein Verdienst; so lautete die Aussage des zuständigen Police Officers, dessen Schlagstock ich noch heute am Rücken spüre.

Wie dem auch sei, dem Alkohol verdankte ich meine Versetzung, da nach der Meinung des Commissioners ein volltrunkener FBI-Detective nichts mit einer Massenprügelei zu tun haben sollte, geschweige denn sie auch noch anzuzetteln.

Damals ging einiges zu Bruch – auch die Jukebox. Sie vertrug es wohl nicht, dass ich mit einem eisernen Stuhlbein dagegen hämmerte, bis sie endlich damit aufhörte, diesen Countrysong von George Strait »All my Ex’s live in Texas« zu spielen. Sorry, aber in meiner Situation konnte ich nichts von Exfrauen hören.

Der Schaden betrug knapp fünftausend US Dollar. Dazu kam noch eine Strafanzeige wegen schwerer Körperverletzung. Aber das Schlimmste für mich war damals, dass Jack mich aus seinem Laden verbannte. Lebenslang. Das traf mich wie ein Hammer und ich dachte an die vielen Liter Whisky, die mir dadurch entgehen würden. Jack war der Barkeeper, und er lauschte gern meinen Geschichten, auch wenn ich vermutete, dass er nur ein guter Zuhörer war, weil meine Münzen über seine Theke rollten.

Als dann am nächsten Morgen einige Beamte der Inneren Sicherheit an meine Tür klopften und mir ein Schreiben unter die Nase hielten, war mir sofort klar, dass dies alles andere als eine Einladung nach Tahiti war.

Ich wurde vor die Wahl gestellt: Entweder würde ich suspendiert mit anschließendem Disziplinarverfahren, oder ich stimmte einer Degradierung vom Detective zum Police Officer mit anschließender Versetzung zu.

Dass meine Laune dadurch nicht gerade besser wurde, leuchtet wohl jedem ein. Mit Gefühlen, die einem persönlichen Weltuntergang gleichkamen, unterschrieb ich den Wisch und ließ mich auf die Versetzung ein. Ich könnte mich ohrfeigen, wenn ich nur daran denke!

Laut Commissioner durfte ich in einem Bundesstaat der USA meinen künftigen Dienst als Officer ausführen. Ich dachte, ich würde an die Westküste versetzt und würde dadurch endlich die Chance haben, San Francisco zu sehen, um die Golden Gate Bridge in der Dämmerung zu betrachten. Ein Officer, der wie Michael Douglas in der gleichnamigen Serie durch die Straßen von San Francisco heizte – Fehlanzeige. Zugegeben, die Degradierung störte mich nicht einmal so sehr. Gut, der Dienstgrad bescherte einem nicht gerade einen vollen Geldbeutel (nach der Gehaltsliste waren es gerade mal fünfhundert Dollar die Woche), aber diese ewige Konfrontation mit Morden und anderen Schwerverbrechen war nicht gerade ein Zuckerschlecken, und ich sehnte mich nach einem gediegenen Job.

Na ja, wenn mein neuer Job so ruhig werden würde, hatte ich mir geschworen, einen Besen zu fressen. Wie hieß dieses Kaff, in das sie mich strafversetzt hatten? Crimson? Oh Mann, die hatten wohl nicht mehr alle Latten am Zaun. Dieses Nest war nicht mal auf irgendeiner Karte verzeichnet! Ich hoffte insgeheim, dass es dort wenigstens eine Bank gab, sonst bekäme ich nicht einmal Clint Eastwoods »Handvoll Dollar«, die mir zustehen würden.

Was sagten sie zu mir? »Die frische Luft tut dir mal gut, das ist genau das Richtige für dich.« Als ob die gewusst hätten, was das Richtige für mich wäre. Auf jeden Fall nicht dieses gottverlassene Kuhdorf, das sich laut meines Versetzungsschreibens nahe des Yukon Charley Rivers Reservats befinden musste – mehr als eine Stunde Fahrt von der Zivilisation entfernt. Keine Ahnung, ob man Fairbanks überhaupt als Zivilisation bezeichnen konnte. Allerdings musste ich dies wohl, denn hier endete alles. Alles, was sich westlich davon befand, wurde als das Hinterland Alaskas bezeichnet.

Alaska! Ich konnte es kaum glauben, dass ich wirklich dorthin versetzt wurde.

Die Flugreise nach Fairbanks konnte man über sich ergehen lassen, aber mit meinem alten Chevy über diesen Feldweg zu fahren, (Straße konnte man dies kaum nennen), war wirklich das Letzte. Und dies sollte auch noch die Interstate 3 sein. Dass ich nicht lache! Die Highways an der Ostküste konnte man wenigstens als Straßen bezeichnen, sie glichen keineswegs den hiesigen einspurigen Katastrophen.

Nicht einmal einen Dienstwagen hatten die für mich, nein, mein alter 67er Chevy mit der nicht funktionierenden Heizung wurde vorausgeschickt, wartete bereits am Flughafen auf mich. Und das mitten in Alaska!

Der Außentemperaturmesser am Wagen musste wohl defekt sein oder war zumindest gerade dabei, endgültig den Geist aufzugeben. Es konnte einfach nicht sein, dass er bei minus zwölf Grad stehen blieb.

Meine Atemwolke verdeckte mir fast die Sicht und die Windschutzscheibe beschlug. Mit meinen Handschuhen versuchte ich sie wieder frei zu bekommen.

Obwohl ich mich dabei ziemlich weit vorbeugen musste, gelang es mir mit Mühe und Not. Es war ein Drahtseilakt: Mit einem Fuß auf dem Gaspedal, einer Hand am Lenkrad und mit der anderen Hand an der Scheibe reibend, war ich einen Moment unachtsam, und meine Hand glitt wegen der rutschigen Wildlederhandschuhe ab. Das Fahrzeug driftete schnell nach links, kam kurzfristig ins Schleudern und geriet auf die Gegenfahrbahn. Ich konnte nicht schnell genug reagieren, um rechtzeitig gegenzulenken. Doch kaum gelang es mir, das Lenkrad mit beiden Händen zu ergreifen, da blendeten mich bereits zwei extrem helle Scheinwerfer und ein ohrenbetäubendes Horn ertönte. Mein Adrenalinspiegel schoss in die Höhe, ich riss reflexartig das Lenkrad in die Gegenrichtung und konnte nur mit Mühe und Not einen Zusammenstoß mit dem heranrasenden Truck vermeiden.

Ich brachte den Chevy zum Stehen. Mein Atem glich dem eines Marathonläufers, der gerade noch das Ziel erreicht hatte. Mein Wagen rollte ein wenig nach, da die Straße hier abschüssig verlief. Erneut trat ich in die Bremsen.

Stille umgab mich. Ich vernahm lediglich meinen Herzschlag, der von meinem aufgeregten Atem begleitet wurde. Ich war hellwach. Die Trägheit, weil ich mich fühlte wie einer, dem man einen fremden Willen aufgedrückt hatte, war verflogen.

Langsam nahm ich wieder meinen Körper wahr. Ich umklammerte das Lenkrad so fest, dass meine Hände schmerzten. Erst jetzt wurde mir klar, dass dies wirklich mein Ende hätte sein können. Welch ein Albtraum. Mitten im Nirgendwo von einem Truck überrollt. Das würde sich wirklich nicht gut auf meinem Grabstein machen.

Mein Blick in den Außenspiegel ließ mich die Rückleuchten des bereits ziemlich weit entfernten Lastwagens erkennen. Ich sah ihnen nach, bis sie aus meinem Sichtfeld verschwunden waren.

Für einen Moment kurbelte ich die Seitenscheibe herunter, um frische Luft zu tanken. Ich schloss die Augen, denn der eisige Wind ließ sie tränen.

Der Motor lief noch und ich hatte auch nicht vor, ihn abzustellen. Wer weiß, ob er je wieder angesprungen wäre, und das wollte ich in dieser trostlosen Gegend nicht riskieren. Ich stieg aus und sah mich um. So weit das Auge reichte, nur gähnende Leere, bis auf die weit aufragenden, gletscherbedeckten Berge, deren Hänge allem Anschein nach mit Nadelhölzern bewachsen waren.

Ich stieg wieder in den Wagen. In meinem Handschuhfach lag noch ein Schokoriegel, den ich mir für die Fahrt nach Crimson an einem Automaten am Flughafen geleistet hatte. Als ich hineinbiss, brach ich mir fast einen Zahn ab. Die Kälte hatte den Riegel erstarren lassen wie eine dieser mumifizierten Leichen, die man im Eis nach Tausenden Jahren wiedergefunden hatte. Aber da ich Hunger verspürte, blieb mir nichts anderes übrig, als ihn hinunterzuwürgen. Dieser Tag gehörte dem Teufel.

Ich nahm die Fahrt wieder auf. Der Highway schien kein Ende zu nehmen. Alaska beherrschte wohl die Kunst, die Straßen endlos erscheinen zu lassen. Die hohen und dichten Nadelbäume am Rande der Straße, die ins Nirgendwo zu führen schien, glichen einander wie eineiige Zwillinge. Und vor mir dieser hohe Berg, der keinen Deut näher heranrückte. Ich weiß nicht, aber es kam mir so vor, als sei er eine riesige Attrappe, wie bei einer der Hollywood-Produktionen, die einem vorgaukelten, man sei in Kansas, obwohl sich die Studios in L. A. befanden.

Ich stellte mir vor, ich befände mich in einem dieser Road Movies, wie zum Beispiel »Easy Rider«, in dem Dennis Hopper auf dem Motorrad in die Freiheit fuhr – nur mit dem Unterschied, dass ich direkt ins Ungewisse unterwegs war.

Die Zigarette, die ich mir vorher angezündet hatte, qualmte wie ein Rauchzeichen der Indianer, und ich dachte mir, die Asche müsse keineswegs im Wagen landen. Also öffnete ich das Fenster und ließ es einen kleinen Spalt offen. Der Fahrtwind ließ die Straßenkarte, die ich mir auf dem Beifahrersitz bereitgelegt hatte, flattern. Mich fröstelte und ich zog meinen Jackenkragen höher.

Das monotone Geräusch des Motors, die endlose Straße und die kalte Luft waren wohl die Gründe dafür, dass mir immer wieder dieselben Gedanken durch den Kopf gingen: Erinnerungen an meine Exfrau. Ich fühlte mich allein gelassen, und eine innere Wut wuchs in mir. Nicht auf Cynthia, nicht auf mich, nein, es ging mir einfach darum, dass es doch noch so geschehen war, wie ich es nie beabsichtigt hatte. Alles um mich verschwamm. Wie in Trance versetzt fuhr ich den Highway entlang, und mein Unterbewusstsein gaukelte mir vor, es ginge mir gut dabei.

Meine Blicke wanderten durch meinen Chevy. Die Mühle hier mochte alt sein, und kein Autohändler der Welt würde mehr als fünfzig Dollar dafür zahlen, trotzdem bemerkte ich, dass ich doch irgendwie an dem Wagen hing. Er hatte einfach das Zeug dazu, mich, trotz all der technischen Mängel, nicht im Stich zu lassen – im Gegensatz zu Cynthia.

Doch dann geschah es. Vor diesem Moment hatte ich mich weitaus mehr gefürchtet, als vor diesem Trip hier. Ich wollte es einfach nicht wahrhaben, dass mich jemals dieses Gefühl einholen könnte. Ich bildete mir tatsächlich ein, dass ich dafür zu stark wäre und dass mich nichts zerbrechen könnte, außer ...

… Die Einsamkeit. Hier auf dem Highway, fernab jeder Zivilisation, übermannte sie mich schließlich. Ich wusste, dass es dieses Gefühl gab. Es wurde oft genug darüber geredet. In fast jeder Geschichte, die je zu Papier gebracht wurde, kam so etwas vor. Es wäre auch absurd gewesen, zu behaupten, ich sei davor sicher. Ich hätte nur nicht gerade jetzt damit gerechnet, mitten im Hinterland von Alaska. Dass hier die Einsamkeit beheimatet war, wollte wohl niemand bezweifeln. Aber es ging mir nicht um das Alleinsein, sondern um das Gefühl, verlassen worden zu sein.

Es schmerzte weitaus mehr als meine Scheidung.

Ich blies den Qualm der Zigarette durch den Spalt im Fenster und warf den Stummel hinterher. Der Tacho zeigte mir die stetigen fünfundsiebzig Meilen pro Stunde, die hier zulässig waren, und der Streckenzähler darunter, den ich in Fairbanks auf null gestellt hatte, gab gerade einmal siebenunddreißig Meilen an.

Die Interstate 3 verlief hier kerzengerade, und kein Hügel versperrte einem die Sicht. Es war kurz vor halb vier am Nachmittag, und laut der Karte, die ich im Flugzeug genauestens studiert hatte, musste sich in der Nähe eine Abzweigung befinden, die nach Norden führte; eine etwas ältere Landstraße, die mich nach Crimson bringen sollte.

In weiter Ferne sah ich einen Wagen, der aus der Gegenrichtung auf mich zufuhr. Wenn mich nicht alles täuschte, war auf dem Dach eine rote Rundumkennleuchte installiert, wie es bei den Streifenwagen der County-Sheriffs auf dem Land üblich war.

Ich verlangsamte meine Fahrt. Möglicherweise konnte mich einer der Cops auf die richtige Straße geleiten; vielleicht war es sogar ein Ortsansässiger.

Ich hielt an, nachdem ich mich vergewissert hatte, dass sich niemand hinter mir auf der Fahrbahn befand, wie etwa der Truck, der mich beinahe überrollt hätte.

Als ich ausstieg, hob ich meine Hand. Das Rotlicht auf seinem Wagen fing an zu leuchten, was mir die Bestätigung gab, dass er mich wohl nicht übersehen hatte. Ich zog die Jacke noch etwas fester um mich heran und nickte zum Fahrer, als sein Wagen neben mir zum Halten kam. »County Interstate Police« las ich auf der Tür des Fahrzeugs, dessen Räder und Kotflügel mit dunklem Schnee und Matsch verdreckt waren. Da der Highway doch relativ frei von Schnee war, konnte ich nur vermuten, dass der Wagen wohl durch eine wenig befahrene Straße gelenkt worden war. Es könnte sich doch möglicherweise um die Landstraße handeln, die ich suchte. Das Blatt schien sich zu wenden.

»Entschuldigung«, rief ich zu ihm rüber, als er sein Fenster vollständig geöffnet hatte.

»Ich dachte mir, Sie könnten mir vielleicht behilflich sein.« Dabei versuchte ich ein freundliches Gesicht zu machen, obgleich es mein Zähneklappern erschwerte, dies überzeugend zu bewerkstelligen.

Er stieg aus dem Wagen und setzte sich seinen Hut auf, dessen goldener Stern auf der Vorderseite glänzte.

»Ich bin Sheriff Teasle, Leiter der Interstate Police zwischen Fairbanks und Anchorage. Was kann ich für Sie tun, Sir?«

Ich stockte. In meinem ganzen Leben hatte mich noch kein Mensch mit »Sir« angesprochen. Möglich, dass es einmal vorkam, wenn ich als FBI-Detective Zeugen vernommen hatte, aber als Privatperson war mir diese Anrede bislang verwehrt geblieben.

Dieser Sheriff Teasle, dessen bereits ergrauter Oberlippenbart eine ungeheure Dichte aufwies, bewirkte jedenfalls, dass sich meine Laune drastisch verbesserte.

Ich bemerkte, dass in seinem Dienstwagen leise Musik lief, deren Sound mich sofort an die zerstörte Jukebox erinnerte. Es lief zwar nicht derselbe Song, aber es handelte sich dem Anschein nach um einen Countrymusic-Sender. Jetzt bloß nicht überreagieren!

Ich begrüßte ihn lächelnd mit einem kräftigen Händeschütteln und versuchte mit einem Nicken meinerseits recht freundlich zu wirken.

»Mein Name ist Jake Dark und ich bin auf der Suche nach der ...« Ich kam ins Grübeln. Wie hieß noch gleich die Straße? Doch bevor ich richtig nachdenken konnte, kam mir Teasle zuvor.

»Sie meinen bestimmt die Yukon Street, oder?«, sagte er in einem Ton, als wäre er sicher, dass er recht behalten würde.

Das löste bei mir ein breites Grinsen aus und ich nickte.

»Ich habe mir gleich gedacht, dass Sie nicht aus der Gegend sind«, sagte er, während er in eine andere Richtung sah. Es kam mir vor, als ob er seinen Brustkorb leicht aufrichtete, so als wäre er stolz, sein County präsentieren zu können.

»Es kommt nicht oft vor, dass ich hier auf Fremde stoße. Sie müssen wissen, dieser Bezirk ist nicht gerade ein Urlaubsparadies.« Ich nickte erneut und presste meine Lippen zusammen.

»Und Sir, auch wenn Sie es nicht hören wollen, ich halte rein gar nichts von diesen ganzen Touristen, die die törichten Absichten hegen, hier nach alten Schätzen zu graben!«

Bei diesem Satz wurde mir plötzlich klar, dass mit diesem Sheriff hier kaum zu spaßen war. Auch wenn er nicht bösartig klang: Einen gewissen sarkastischen Unterton konnte ich deutlich heraushören. In gewissem Sinne verstand ich ihn, lediglich das mit dem »nach Schätzen graben« schien mir etwas ungewöhnlich. Gab es hier doch mehr als das schwarze Gold?

Ich schüttelte den Kopf und griff in die Innentasche meiner Jacke, um meinen Dienstausweis hervorzuholen. Dabei bemerkte ich, wie seine Hand langsam zu seinem Colt glitt, als ob er vermuten würde, dass ich eine Waffe ziehen könnte. Ich zögerte, beschloss aber, nicht darauf einzugehen. Ja, dieser Sheriff war vorsichtig. Ich fragte mich wirklich, warum!? War die Verbrechensrate hier denn so verdammt hoch? Ich konnte es mir beim besten Willen nicht vorstellen. Oder lag es einfach daran, dass ich ein Fremder war, dessen Gesicht nicht denen glich, die Teasle normalerweise zu sehen bekam.

»Nein, ich bin kein Tourist, sondern der offizielle Nachfolger von Sheriff Brauner von Crimson«, sagte ich, während er mit erstauntem Gesichtsausdruck meinen Dienstausweis begutachtete, bevor er mich genauestens musterte.

»Soso«, sagte er abwertend. »Haben die also einen Frischling von der Akademie hierhergeschickt?«

Meine Antwort darauf wäre ihm definitiv im falschen Hals gelandet. Erstens sprach er wohl mit sich selbst und zweitens wären meine Worte nicht gerade höflich gewesen. Ich entschloss mich daher zu schweigen.

»Wie alt sind Sie, wenn ich mir diese Frage erlauben darf?«, fragte der Mann mit dem anscheinend lockeren Colt.

Dieser Sheriff schien mir völlig ungeeignet für eine intelligente Unterhaltung zu sein, und meinen Witz hätte er wohl nicht verstanden, wenn ich auf seine Frage mit »jünger als Sie« geantwortet hätte.

Was mir absolut nicht gefiel, war der zweite Teil seiner Frage, die so einen hochnäsigen und selbstgefälligen Beigeschmack trug, als wäre dies nur eine Geste der Höflichkeit gegenüber einem Fremden, dessen Erlaubnis er im Grunde nicht benötigte.

»Jahrgang siebenundfünfzig«, sagte ich rasch und gefühllos.

Nachdenklich schüttelte er den Kopf und gab mir meinen Ausweis zurück, den ich sofort wieder in meine Jackentasche schob.

Er ging zu seinem Wagen und zog sich seine warme Dienstjacke über. Auch mich fröstelte es immer mehr. Ich zündete mir eine Zigarette an, wobei ich meinem mürrischen Gegenüber ebenfalls eine anbot. Er lehnte schweigend ab. Kann sein, dass er Nichtraucher war, ich vermutete aber eher, dass er einem »akademischen Touristen«, dessen Alter nicht mal die Mitte dreißig erreichte hatte, keinesfalls über den Weg traute.

Er lehnte sich gegen seinen Wagen und warf einen kurzen Blick in jede Richtung des Highways, vermutlich um sich zu vergewissern, dass kein Fahrzeug auf der, meiner Meinung nach, von Gott verlassenen Straße entlang fuhr.

Als er seine Aufmerksamkeit erneut auf mich richtete, bemerkte ich an ihm einen seltsamen Gesichtsausdruck, der mir einen Schauer über den Rücken jagte. Er blickte so geheimnisvoll und dennoch fragend, als ob er irgendetwas zu wissen glaubte, mir aber nicht davon berichten konnte. Entweder wollte oder durfte er mir nichts sagen.

»Warum wollten Sie ausgerechnet hierher versetzt werden?« fragte er kopfschüttelnd. »Steve können Sie nicht ersetzen, egal wie gut Sie sind, was ich ohnehin stark bezweifeln muss.«

Oh Mann! Nun wusste ich, wie sich Richard Dreyfuss gefühlt haben musste, als er den »Außerirdischen der Dritten Art« begegnet war. Dieser Sheriff legte es förmlich darauf an, mich zu reizen.

Mit »Steve« meinte er Sheriff Brauner. Dass sie sich gekannt hatten, war mir nun klar. Und wenn sie auch noch miteinander befreundet gewesen waren, worauf ich schloss, da er ihn beim Vornamen nannte, konnte ich seine Unhöflichkeit gegenüber mir im Nachhinein verstehen.

Womöglich meinte er es sogar gut mit mir, und wenn ich die Wahl gehabt hätte, hätte ich diesem Abbild eines Seeelefanten auch noch recht gegeben, dass ich hier absolut nichts zu suchen hatte. Leider hatte ich aber keine Wahl gehabt.

Mit der Antwort auf seine Frage tat ich mich schwer. Keineswegs wollte ich meine Strafversetzung erwähnen. Welches Licht würde es auf mich werfen, wenn ich gleich mit der Tür ins Haus fallen würde? Nicht, dass es mir besonders wichtig gewesen wäre, was Teasle von mir hielt, doch eines war sicher: Gerade in einem Bezirk, in dem sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen, wäre es nur eine Frage von Stunden gewesen, bis jeder darüber Bescheid gewusst hätte.

Das wollte ich verhindern. Ich mochte nicht noch einmal dasselbe erleben wie damals beim FBI-Kollegium, als jeder von meiner Affäre und meiner Scheidung wusste. Was sich danach abgespielt hatte, war wie eine der typischen Seifenopern gewesen, die sich stetig wiederholten und kaum voneinander unterschieden.

»Ich hatte einfach die schlechte Luft in der Stadt satt und wollte mein Glück hier versuchen«, nuschelte ich und hoffte, dass er die Hälfte nicht verstand, da dies alles andere als der Wahrheit entsprach. Ich musste zugeben, ich mochte diese Art von Lügerei nicht mehr. Diese permanenten Ausreden damals bei meiner Frau hatten mich gelehrt, dass Lügen nie wasserdicht genug waren, um damit Tiefseefischen zu gehen.

Kopfschüttelnd sah mich Mister »Ich Boss – du Nichts« an, während er kurz danach schwer ausatmete, als würde er einen inneren Druck ablassen. Er änderte seine Miene und nickte.

»Na dann, viel Glück Junge«, sagte er ironisch und klopfte mir auf die Schulter. »Steve und ich waren Freunde und kannten uns schon seit unserer Kindheit. Sein unerwarteter Tod traf mich schwer und ich muss zugeben, ich kann es eben nicht leiden, wenn er einfach ersetzt wird.«

»Das kann ich verstehen, Sheriff, und ich hoffe, Sie glauben mir, wenn ich Ihnen versichere, dass ich mich nicht besonders wohl dabei fühle, in Ihren Bezirk einzudringen.«

»Mein Bezirk?«, fragte er und gab mir dabei zu verstehen, dass ich mit meiner Aussage völlig falsch lag. »Glauben Sie mir, zu diesen Siedlungen bringen mich keine zehn Pferde. Mein Bezirk ist und bleibt New Rock.«

New Rock? Das sagte mir etwas. Ich versuchte, mich zu erinnern, in welchem Bezug ich diesen Namen schon einmal gehört oder gelesen hatte.

»Steve war in Crimson stationiert und übernahm das Amt des Sheriffs der Siedlungen nördlich von New Rock, deren Einwohner ebenso gottlos sind, wie ihr ganzer verfluchter Kontinent. Diese seltsamen Europäer«, untermalte er seine Aussage, deren bitteren Beigeschmack ich förmlich auf meiner Zunge zu spüren glaubte.

Wie kann man nur so voller Hass und Vorurteile sein? Wenn hier alle nur halb so viel Sarkasmus besaßen, wäre die Hölle im Vergleich dazu ein Paradies, in das ich nur zu gern flüchten würde. Wenigstens wusste ich nun, was es mit New Rock auf sich hatte. Es war die Stadt, die einige Meilen vor den Siedlungen lag. Als ich die Karte im Flugzeug studiert hatte, war mir ein Fleck aufgefallen, den ich zuerst für einen Kaffeeklecks gehalten hatte. Doch dann hatte ich darunter ein mit kleinen schwarzen Buchstaben aufgedrucktes Wort bemerkt: New Rock – der Name jenes Ortes, dessen Sheriff alles andere als ein geselliger Mann war.

Mir wurde klar, dass meine Versetzung von seltsamen Vorzeichen begleitet wurde. Ein abergläubischer Mensch hätte eine gewisse Verbindung herstellen können, was die beiden Städte angeht. Detroit nannte man auch Rock City, und meine Reise führte mich nach New Rock.

Das klang wie eine Art Neuanfang, wobei ich es eher als mein langsames Ende beschreiben würde. Bei dem Truck vorhin wäre es deutlich schneller gegangen.

»Der Highway ist aber besonders leer heute«, sagte ich, um die Unterhaltung ein wenig aufzulockern. Aber das hätte ich mir sparen können. Teasles mürrisches Verhalten mir gegenüber blieb auf demselben Niveau. Jetzt wusste ich wenigstens, wie der Name vom Bruder des Teufels lautete.

Der Sheriff entnahm aus dem Kofferraum seines Wagens eine Straßenkarte und breitete sie auf dem Dach aus.

Er sah zu mir rüber und schwenkte mit dem Kopf, als Zeichen dafür, dass ich zu ihm kommen sollte, was ich infolgedessen auch tat, wenn auch mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend. Mal sehen, was für eine Boshaftigkeit er sich nun wieder ausgedacht hatte. Möglich, dass ich mich auch täuschte.

»Der Highway ist immer wenig befahren, aber in der Nacht nimmt der Fernverkehr zu. Die Interstate verbindet Fairbanks mit Anchorage und ist ohnehin die einzige Straße im County, abgesehen von der Yukon Street, die Sie erreichen wollen.«

Ich nickte und rieb mir in der Kälte die Hände warm.

»Das wird hier noch viel kälter«, reagierte er rasch. »Außerdem sollten Sie sich etwas beeilen, denn in der nächsten halben Stunde, wird die Sonne untergehen, und diese schmale Straße nach New Rock ist nicht so einfach zu befahren. Sie können leicht von der Straße abkommen. Verkehrsschilder oder sonstige Fahrbahnmarkierungen suchen Sie dort vergeblich.«

»Wird es in der Gegend denn immer so schnell dunkel?«

Teasle nickte. »Sie haben heute sogar einen der hellen Tage erwischt. Die Sonne scheint heute besonders grell. Wohl ein Glückspilz, hm?«, grinste er, während er mit seiner dunklen Sonnenbrille gen Himmel starrte.

Ein Glückspilz? Leicht schüttelte ich den Kopf, sodass er es nicht bemerken konnte. Ich fragte mich, was in diesem Menschen vorging, dass er mich als »Glückspilz« bezeichnete. Gehen wir die ganze Sache doch mal logisch durch: Heute Morgen, in aller Frühe, na ja, sagen wir mal mitten in der Nacht, musste ich aus dem warmen Bett aufstehen, (wir hatten immerhin schon Ende November), meine Sachen packen, mich in einem absolut ungemütlichen Taxi zum Flughafen bringen lassen und eine billige Airline nach Fairbanks nehmen, denn mehr Geld stellte man mir für ein Flugticket nicht zur Verfügung. Kaum dort angekommen, musste ich mit meinem alten Chevy durch eine eiskalte und gottverlassene Gegend fahren, mich dabei fast von einem Laster überrollen lassen, durch einen viel zu kalten Schokoriegel einen Zahnarzttermin heraufbeschwören und mich dann auch noch mit einem Sheriff herumschlagen, der, wenn er mein Dad gewesen wäre, mich zum Selbstmord getrieben hätte, und das höchstwahrscheinlich mit einem befreiten Lächeln im Gesicht.

Nein, jemanden, der so einen Tag hinter sich hat, nenne ich definitiv nicht Glückspilz.

Außerdem protestierte ich innerlich, denn wenn dieser Sheriff meinte, mir weismachen zu wollen, dass die Sonne heute grell scheine, dann sollte er dringend beim Augenarzt vorbeischauen. Meiner Meinung nach war es schon dunkel gewesen, als ich in Fairbanks angekommen war. Etwas verständlicher ausgedrückt, würde ich sagen: Es war hier noch nie hell gewesen!

Jetzt wurde mir auch einiges klar. Diese dauerhafte Dunkelheit konnte einen ja nur depressiv werden lassen. Dies war kein Sonnenlicht. Wenn man den Himmel betrachtete, erkannte man nur einen weißen Hochnebel, der nicht einmal die Umrisse des hellen Planeten, der auf der ganzen Welt für Wärme und Licht sorgte, erkennen ließ. Oh, ich vergaß, außer hier natürlich. Mir brannte es förmlich auf der Zunge, Teasle die Frage zu stellen, ob er überhaupt wüsste, dass es eine Sonne gab, und dies einfach nur, um ihn ebenso verbal zu attackieren, wie er es mit mir machte, um mich als absoluten Volltrottel dastehen zu lassen. Doch ich wollte mich nicht auf sein Niveau herablassen und beruhigte mich allmählich.

Ich starrte auf seine Karte. Sie glich der, die in meinem Wagen lag. Der Sheriff sah ebenso darauf, blickte sich um, starrte mich mit seiner Sonnenbrille auf seiner Nase an, brachte ein kurzes »Hm« heraus und faltete die Karte wieder zusammen.

»Wissen Sie was?«, fragte er, warf die Karte in den Wagen und schwieg einen Augenblick. In seinem Radio lief einer der Countrysongs, in dem der Rock’n’Roll fest verankert war. Ich glaubte zu erkennen, dass Teasles Kopf sich leicht im Rhythmus dazu bewegte und auch sein Fuß klopfte behutsam auf der Stelle. Es schien, so unglaublich es mir auch vorkam, als ob der Sheriff seine musikalische Ader entdeckt hätte, die hoffentlich seine Laune verbessern würde.

Ich wartete immer noch auf die Fortsetzung seiner Frage, wobei ich hoffte, dass es nicht mehr allzu lange dauern würde, da ich erstens vollkommen durchgefroren war, sodass ich an der kanadischen Grenze locker als tiefgefrorenes Grillhähnchen durchgekommen wäre, und zweitens wanderten meine Blicke immer häufiger in die beiden Richtungen des Highways, da ich befürchtete, dass der Fernverkehr nun langsam anrollen würde, so wie es mir eben der Sheriff prophezeit hatte. Und ehrlich gesagt, von solch heranrasenden Trucks hatte ich wohl für den Rest meines Lebens genug.

»Fahren Sie mir hinterher. Ich zeige Ihnen den Weg nach New Rock.«

»Aber kamen Sie denn nicht von dort?«

»Schon, aber den Termin in Fairbanks kann ich verschieben.«

»Sheriff, ich bin Ihnen wirklich dankbar, aber ich möchte nicht, dass Sie meinetwegen in Verzug geraten.«

»Jake, glauben Sie mir, wenn ich Ihnen sage, dass ich wegen Ihnen keinesfalls in Schwierigkeiten geraten werde?«

Ich grinste. »Bestimmt!«

»Haben Sie eine Sonnenbrille?« fragte er mich.

»Im Gepäck, womöglich, ich weiß es nicht.«

»Besorgen Sie sich eine. Glauben Sie mir, der Schnee macht einen auf die Dauer blind.«

»Werde ich tun«, antwortete ich.

Der Sheriff stieg in den Wagen, ließ den Motor an und wendete. Ich ließ nicht lange auf mich warten und joggte förmlich zu meinem Chevy, dessen Motor immer noch lief. Als sein Wagen langsam an mir vorbeifuhr, stoppte er kurz und sah zu mir rüber.

Mit Mühe und Not kurbelte ich mein Fenster ganz herunter, da die Kälte wohl langsam diesen Wagen vollends dahinraffte und die Mechanik schon halb festgefroren war.

»Schalten Sie Ihr Licht ein, auf dieser Straße werden Sie es brauchen. Versuchen Sie in der Spur zu bleiben, man rutscht hier so verdammt schnell und ich habe mein Abschleppseil bei den Tanners vergessen.«

Bei diesen Worten zog er die Augenbrauen hoch, als ob er mich zum Gehorsam erziehen wollte. Ich nickte und zeigte ihm einen schlecht geführten Militärgruß, welchen er mit einem abwertenden Kopfschütteln quittierte.

Dann fuhr er los und ich folgte ihm, während ich mein Fenster vollständig schloss. Der Temperaturmesser zeigte mir nun minus fünfzehn Grad, und auch wenn ich es hasste zuzugeben, dass Sheriff Teasle recht behielt, tat ich es dennoch. Die Dunkelheit, von der er gesprochen hatte, setzte wirklich schon ein. Ich bemerkte das von Minute zu Minute schwindende Tageslicht und den stetig dichter werdenden Dunst. Einige Schneeflocken flogen gegen meine Windschutzscheibe, als plötzlich der Wagen der Interstate County Police stark rechts abbog. Ich folgte, auch wenn mein Gefühl mich davor warnte, den einigermaßen sicheren Highway zu verlassen.

Ein kurzes Poltern der Stoßdämpfer schüttelte mich durch, und ich dachte, ich wäre in einem Schlagloch stecken geblieben. Doch gleich darauf zeichnete sich vor mir eine Straße ab, deren verschneite Fahrbahn sich einen Weg durch die für mich unbekannte Landschaft fraß.

Durch einen kurzen Blick in den Rückspiegel, konnte ich noch einmal den Highway erkennen, der durch das Rot meiner Rückleuchten erhellt wurde, während ich mich immer weiter davon entfernte. Ein gut beleuchteter Truck, der in Richtung Fairbanks dahinrauschte, war das Letzte, was ich vom Highway mitbekam, während ich mich wieder auf die Straße vor mir konzentrieren musste.

Ein Song schoss mir plötzlich durch den Kopf, obwohl ich ihn bestimmt schon fünf Jahre nicht mehr gehört hatte: »Highway to Hell«.