RUTH

Und es geschah in den Tagen, als die Richter richteten, da entstand eine Not im Land. Und ein Mann von Bethlehem-Juda ging hin, um sich im Gebiet als Fremder aufzuhalten.

1. Ruth Kapitel 1 Vers 1

»Sie meinen, bei den hier angesiedelten Amish?«, fragte Elsa überrascht. »Finden Sie das nicht ein wenig dreist, diese frommen Menschen hier zu verdächtigen?«

Fromm! Dass ich nicht lache. Ich schüttelte den Kopf.

»Das hat nichts mit einem Verdacht zu tun, Miss Below, ich folge lediglich einer Spur. Und wenn ich Sie erinnern darf: Sie persönlich haben mich auf diese Fährte gebracht, wobei es mich ein wenig ärgert, nicht selbst darauf gekommen zu sein. Ein gewisses Unbehagen habe ich schon immer bei diesen seltsamen Amish gefühlt, dennoch glaubte ich den Aussagen der Einwohner von New Rock.«

»Was sagten denn die Einwohner aus?«

»Nun ja, ich kann mich noch an eine finstere Begegnung vor einigen Wochen im »Angel’s Bell« erinnern, als plötzlich ein Hüne an der Bar stand und mich mit finsteren Augen anstarrte.«

»Hatten Sie Angst?« Elsas Frage klang, als würde sie es gern einmal erleben, dass ich mich vor etwas fürchtete. Ob diese Frau mich durchleuchten wollte?

»Angst nicht gerade, eher ein seltsames Gefühl in der Magengegend, das mich davor warnte, in die Nähe dieses seltsamen Amish zu geraten.«

»Sie hatten also Angst«, schmunzelte sie, wobei sie es zu verdecken versuchte. Doch ihre Mundwinkel verrieten es mir. Gott, wie gerne hätte ich sie noch einmal geküsst!

»Möglich«, knirschte ich mit dem Gefühl, ertappt worden zu sein.

»Und was tat dieser Hüne, wie Sie ihn nennen, in der Bar?«

»Er schien irgendwelche Gegenstände zu kaufen, laut Parkers Aussage, der mir im Nachhinein noch versicherte, dass dieser Amish harmlos sei.«

»Parkers Aussage?«, wiederholte sie mit einem leicht abfälligen Ton. »Sie scheinen gleich immer alle zu verhören. Gibt es bei Ihnen auch so etwas, was man Unterhaltung nennt?«

Wenn Elsa Below ein männlicher Deputy gewesen wäre, wäre jetzt der Zeitpunkt gekommen, ihm die Leviten zu lesen, doch bei ihr konnte ich das nicht. Und ich glaubte zu wissen, dass Miss Below genau das ausnutzte. Ihre Menschenkenntnis war ebenso gut ausgeprägt wie meine, oder zumindest annähernd – vielleicht sogar besser.

»Parker ist der Barkeeper dieses Schuppens, und wir haben uns unterhalten. Sie müssen wissen, zu dem Zeitpunkt hatte ich meinen Dienst noch nicht angetreten. Es war die Nacht vor meinem ersten Tag als Sheriff in Crimson.«

»Verzeihen Sie, Sheriff. Mein Vater sagte schon immer, dass ich eine vorlaute Klappe hätte und dass die mich irgendwann meinen Kopf kosten würde.«

»Das waren aber harte Worte für die eines Vaters.«

Sie nickte und schwieg. Ich glaubte, dass ich sie damit an einem wunden Punkt getroffen und sie dadurch vermutlich an ihren toten Vater erinnert hatte.

Gedanken an den Verlust eines geliebten Menschen sind die schlimmsten, die es für jemanden geben kann. Sie treffen einen hart, und das Wissen, dass nichts und niemand einem wirklich helfen kann, macht die ganze Sache nur noch schlimmer. Es frisst einen förmlich von innen auf.

»Elsa«, rief ich zweimal zu ihr hinüber, bevor sie meine Stimme endlich wahrnahm. »Rufen Sie die Zentrale, und lassen Sie einen Streifen- und einen Krankenwagen hier antanzen. Die sollen sich um die Leiche kümmern.«

»Verstanden«, erwiderte sie, noch völlig übermannt von ihren Gedanken, wie mir ihr glasiger, starrer Blick verriet.

Während Elsa mit dem Anfunken der Zentrale beschäftigt war, sah ich über die Landschaft. Der Nebel beeinträchtigte meine Sicht derart, dass ich die ersten Häuser der Siedlung nur durch dunkle Umrisse erahnen konnte. Mein Blick verschärfte sich plötzlich, als ich glaubte, einen Wagen dort vorn entdeckt zu haben.

Ich lief ein paar Schritte und kniff die Augen ein wenig zusammen.

»Das kann doch nicht ...«, flüsterte ich und lief schnell zum Kofferraum meines Caprice, der wegen der Kälte schwer zu öffnen war. Es vergingen bestimmt zwei Minuten, bis ich endlich den Schlüssel in das vereiste Schloss rammen konnte. Ein Fluch nach dem anderen kam über meine mittlerweile vor Kälte blau anlaufenden Lippen.

»Suchen Sie etwas Bestimmtes, Mister Dark?«

Diese verdammte Frage ließ mich bewegungslos werden. Sie erinnerte mich sofort an den widerwärtigen Bileam, der mir, auch wenn ich es nur ungern zugab, einen gewissen Schauder über den Rücken laufen ließ. Doch zu meiner Erleichterung kam die Frage von Miss Below.

Während ich noch wie gelähmt dastand und wir uns beide fragend anstarrten, klappte der Deckel plötzlich von selbst auf, nachdem sich wohl das Schloss doch noch dazu entschieden hatte, meinen übertriebenen Gewaltanwendungen nachzugeben.

Ich holte das Fernglas aus dem Kofferraum. Standardausrüstung!

Mein Blick durch die Gläser bestätigte meinen Verdacht: Ich hatte zu lange gebraucht, um noch irgendetwas erkennen zu können. Verflucht noch mal! Verärgert warf ich den Feldstecher zurück in den Wagen.

»Was war denn?« fragte Elsa.

»Ich habe geglaubt, dort vorn einen Wagen gesehen zu haben.«

»Einen Wagen?«

Ich nickte, wobei sie keine Antwort zu erwarten schien, denn ein ungläubiges »Hm« folgte ihrer Frage.

»Sie waren die ganze Nacht im Einsatz und haben kein Auge zugetan. Vielleicht sind Sie übernächtigt und Ihre Sinne haben Ihnen einen Streich gespielt, Sheriff!«

Sie sah mich an. »Ich meine, Sie sind nun auch keine zwanzig mehr.«

Verärgert schloss ich die Augen und hätte am liebsten losgebrüllt, doch ich riss mich zusammen. Ihr scheinheiliges »Verzeihen Sie mir meine vorlaute Klappe« konnte mich auch nicht mehr überzeugen.

Doch ich war mir mehr als sicher, dass ich dort vorn einen Wagen gesehen hatte. Wenn mich nicht alles täuschte, kannte ich dieses Fahrzeug, aber das konnte ich nicht mit Sicherheit sagen. Ich musste mich vor Ort selbst davon überzeugen.

»Geht das mit der Zentrale in Ordnung?«

»Martin ist schon unterwegs.«

»Gut«, sagte ich und gab ihr mit einem Kopfnicken zu verstehen, dass sie mit anpacken sollte.

Mit Mühe und Not, schafften wir die Leiche vom Dach herunter und legten sie in den Schnee, so exakt es eben ging in dieselbe Position, wie sie oben auf dem Dach gelegen hatte. Ich brauchte schließlich den Wagen, und mit einer Leiche auf dem Dach zu fahren, wäre wohl nicht so intelligent gewesen. Besonders in der Nähe der Amish, oder sollte ich besser sagen: bei den Chlysten?

Wir stiegen in meinen Caprice, und dieses Mal lenkte ich den Wagen. Während ich wendete, überkam mich ein starkes Gefühl von Müdigkeit. Vielleicht hatte Elsa recht, wenn sie sagte, dass ich keine zwanzig mehr wäre, doch ich gab eher dem Stress die Schuld. Außer meiner Ohnmacht hatte ich seit zwei Tagen kein Auge mehr zugemacht. Cops brauchen entweder keinen Schlaf oder sie hauen sich wie Sergeant Riggs und Sergeant Murtough im Film »Lethal Weapon« bei einem ihrer verrückten Einsätze aufs Ohr.

»Haben Sie je mit einem der Siedlungsbewohner gesprochen?«, fragte Elsa unsicher, als wollte sie mir keinesfalls wieder eine Frage stellen, die als vorlaut gelten könnte.

»Ja, an meinem ersten Tag als Sheriff. Ich dachte mir, ich fahre einmal Streife, und siehe da, einer der Amish kreuzte meinen Weg.«

»Und welchen Eindruck haben Sie nun?«

Ich schwieg.

»Ihr Schweigen gibt mir Anlass zu denken, es war keine außerordentlich freundliche Begegnung, nicht wahr?«

»Sie haben recht«, antwortete ich überrascht. »Ist jedes Treffen mit einem der Amish standardmäßig unfreundlich?«

»Ja«, antwortete sie überzeugt.

»Woher wissen Sie das?«

»Mein Vater war ein Amish!«

Ich bremste so heftig, dass wir einige Meter im Schnee rutschten und der Wagen sich um ein paar Grad schräg stellte.

Ich schaute Elsa verblüfft an und traute meinen Ohren nicht. Sie steckte voller Überraschungen. Ob das gut oder schlecht war, konnte ich nicht sagen, dennoch beschloss ich, meine Fühler auszufahren. Jetzt durfte ich mich nur nicht vernebeln lassen. Der Ort hier sorgte schon genug dafür!

Ich betrachtete ihre Schönheit, musterte sie von oben bis unten, während sie stur durch die Windschutzscheibe blickte und dabei genau wusste, dass ich sie anstarrte. Doch sie zeigte keine Reaktion.

Ich stieg aus, als wir ungefähr an der Stelle angekommen waren, an der ich den fremden Wagen im Nebel erspäht hatte. Ich kniete nieder und untersuchte den Schnee. Nichts. Weder eine Reifenspur, noch sonstige Hinweise darauf, dass sich in den letzten Stunden jemand hier aufgehalten hatte.

Miss Below gesellte sich zu mir und suchte ebenso den Schnee ab, wortlos, mich dabei keines Blickes würdigend. Sie schien etwas zu verbergen, oder besser gesagt, etwas zu wissen.

Natürlich verstand ich nun ihre aufgebrachte Reaktion, als ich die hier ansässigen Amish verdächtigt hatte. Ihr Vater war ebenfalls einer von diesen seltsamen »Religionisten«. Wenn ich das gewusst hätte, wäre natürlich meine Wortwahl völlig anders ausgefallen.

»Suchen Sie eventuell das hier?«, rief sie plötzlich.

Ich richtete mich auf und sah exakt neben ihr eine Reifenspur. Es reichten ein paar Blicke, um zu erkennen, um was für einen Wagen es sich dabei gehandelt haben musste. Da ich die Wagenspur erkannte und erst vorgestern auf diese Reifenabdrücke gestoßen war, stellte ich die berechtigte Frage: »Was wollten die denn schon wieder hier?«

Endlich schenkte Elsa mir wieder einen ihrer durchdringenden Blicke.

»Wen meinen Sie mit ›die‹?«

Ich atmete tief durch, während ich mir kurz die Nase rieb.

»Nun sagen Sie schon. Auch wenn Sie mein Vorgesetzter sind, sollten wir wie Partner vorgehen und alles voneinander wissen, nicht wahr?«

»Es gibt etwas, von dem nur ganz wenige wissen, Miss Below, und ich bin nicht sicher, ob ich Ihnen das anvertrauen kann.«

»Was soll das heißen?«

»Das soll heißen, dass es Informationen gibt, die ich nicht jedem unter die Nase reiben will.«

»Aus welchem Grund? Ziehen Sie und die restliche Polizei nicht am selben Strang?«

»Mir geht es in erster Linie um Mister Fender!«

»Oh!« Sie wurde hellhörig.

»Sehen Sie? Das ist genau das, was ich meine. Ich glaube, Sie sind ein Spion!«

»Wie bitte?«, fragte sie erbost, wobei sich ihre Gesichtsfarbe deutlich rot verfärbte, so als hätte ich sie ertappt.

»Sie müssen wissen, Miss Below, dass ich beim FBI war und eine spitzenmäßige Ausbildung genossen habe. Das Kombinieren von Polizeiarbeit und Menschenkenntnis war eines meiner Spezialfächer. Ich glaube einfach, dass Mister Fender jemanden braucht, der mich auf Schritt und Tritt beobachtet und ihm regelmäßig Bericht erstattet.«

»Und Sie glauben, das bin ich?«, fragte sie, wobei ich erkennen konnte, wie sich Wasser in ihren Augen sammelte.

Ich nickte.

Ein verärgerter Blick traf mich, bevor sie sich wutentbrannt in den Wagen setze und die Tür zuschlug.

»Verdammt noch mal«, flüsterte ich. »Weiber!«

Einige Augenblicke stand ich noch in der Kälte, bevor ich mich endlich dazu entschloss, ebenfalls in den Wagen zu steigen und reinen Tisch zu machen.

Sie hatte das Radio eingeschaltet, und der Song »Jolene« von Dolly Parton drang sanft an meine Ohren.

»Hören Sie, das ist nichts Persönliches, aber ich möchte meine Ermittlungsarbeit nicht gleich jedem offen auf den Tisch legen. Ich habe einfach keine Lust, dass mir jemand wie Mister Fender ins Handwerk pfuscht«, erklärte ich Elsa.

Ich sah eine Träne, die ihr die Wange hinunterlief, und die sie sofort wegwischte.

Eine Träne der Wut!

»Es tut mir leid, Mister Dark. Meine Reaktion muss Ihnen einen unmöglichen Eindruck von mir geben.«

»Im Gegenteil, Elsa. Es zeigt mir, dass Sie ein Mensch sind, der Gefühle besitzt und nicht kalt durch die Welt rennt. Das zeugt von Stärke.«

»Meinen Sie?«, antwortete sie, meine Blicke erwidernd.

Ich nickte. »Und jetzt beruhigen Sie sich, verstanden?«

Dabei zog ich die Augenbrauen hoch, versuchte aber dennoch dabei nicht allzu ernst zu wirken. Ich gab ihr ein Taschentuch.

Ich ließ ihr einige Minuten, während der Radiosender einen Countrysong nach dem anderen spielte und mir sofort der Name »Teasle« wieder ins Gedächtnis kam, als Elsa plötzlich anfing, mir ihre Geschichte zu erzählen.

»Nach der Akademie bewarb ich mich in Fairbanks als Police Officer, und meine Bewerbung landete wohl nach einigen Umwegen direkt auf Fenders Schreibtisch. Natürlich kam es gleich zu einem Vorstellungsgespräch und er versprach mir einen guten Job, wenn ich zuvor für ihn einen Auftrag erledigen würde.«

»Mich beobachten und Bericht erstatten?«

Sie nickte. »Ich wusste ja nicht, dass Sie das sind!«

»Wie meinen Sie das?«

»Nicht, was Sie denken. Ich kannte Sie nicht, aber da ich nun weiß, dass es sich hier um eine persönliche Sache handelt, fühle ich mich hintergangen. Ich konnte ja nicht ahnen, dass sie beide sich nicht mögen. Ich dachte eher daran, dass ein Cop etwas ausgefressen hat und ich denjenigen auf frischer Tat ertappen sollte.«

Sie schwieg einen Moment.

»Dieser Fender kann mich mal«, fuhr sie dann fort.

»Wieso erwähnten Sie heute Morgen seinen Vornamen? Kennen Sie ihn denn mittlerweile schon so gut?«

»Nein und Ja. Als Dank hat er mich zum Essen eingeladen und bot mir an, ihn bei seinem Vornamen anzusprechen. Zuerst wollte ich das nicht, dachte aber daran, dass dies Auswirkungen auf meine zukünftige Stelle haben könnte, also nahm ich sein Angebot an.

Wenn ich nur an diesen Abend denke, wird mir schlecht. Es lief völlig aus dem Ruder, und er machte mich betrunken. Danach weiß ich kaum noch etwas, nur dass ich mich in einem Bett wiederfand ... Mist.«

»Verstehe ...«, murmelte ich und rieb mir mit der Handfläche über das Gesicht. Ich atmete tief durch und konnte es nicht glauben, dass so ein Brillenheini so ein hübsches Mädchen im Bett hatte. Wo befand sich die Kotztüte in diesem Wagen?

Ich beschloss, das Thema zu wechseln.

»Ich glaube Ihnen, aber bitte versprechen Sie mir, Fender nichts zu erzählen.«

»Ja, Sheriff. Dieser Penner erfährt von mir kein Sterbenswörtchen. Diese Situation verstärkt nur noch meine Abneigung. Leider ist er unser beider Vorgesetzter.«

Ich ließ einige Minuten verstreichen, bevor ich das Gespräch wieder aufnahm.

»Diese Wagenspur ähnelt einem Reifenabdruck, den ich vor zwei Tagen draußen bei der alten Tanner-Farm entdeckt habe.«

»Glauben Sie, dass das ein möglicher Hinweis für das Aufdecken der Identität des Mörders und von Wichtigkeit sein könnte?«

»Negativ, Elsa. Ich weiß mittlerweile, wem ich diese Wagenspur zuordnen kann, nämlich dem Fahrzeug, das ich vorhin gesehen habe. Es gehört zwei zwielichtigen Gesellen, die sich hier herumtreiben, und es ist nicht der CIA.«

Sie überlegte kurz. »Sie meinen einen anderen Geheimdienst?«, fragte sie völlig überrascht. Ich nickte.

»Der KGB?«

»Richtig. Genosse Igor Babrow und sein Amtskollege Dimitrij Saizew.«

»Sie haben sie schon kennengelernt und leben noch?«

Ich zog die Augenbrauen hoch. »Wie Sie sehen«, schmunzelte ich.

»Was wollen die hier? Haben die denn nichts gesagt?«

»Nicht viel, und ich weiß auch nicht, warum die beiden hier herumschnüffeln, dennoch scheinen sie etwas zu wissen. Sie brachten mich auch auf den Gedanken, dass es einen Zusammenhang mit der Bibel geben könnte. Sie erwähnten etwas von einem Anfang, der sogenannten Genesis. Diese Genossen waren es auch, die die erste Ritualleiche entdeckt haben.«

»Die Moses-Leiche?«

»Sie sagen es. Die Moses-Leiche«, wiederholte ich. »Ich glaube ohnehin, dass die ganzen Verbrechen eine russische Handschrift tragen. Erst der KGB, das Verschwinden meiner russisch sprechenden Sekretärin, dann fällt noch der Name Rasputin – russischer geht’s nicht mehr. Ganz abgesehen von den kyrillischen Buchstaben auf den Leichen. Ich fühle mich nicht wohl bei der Sache.«

Elsa folgte schweigend meinen Ausführungen.

»Des Weiteren gibt es noch eine Information, die ich Ihnen mitteilen sollte.«

»Und über Ihre Begegnung mit dem KGB haben Sie schon Bericht erstattet?«, fragte sie plötzlich nach.

»Nur Martin. Weshalb fragen Sie?«

»Ich dachte, Sie hätten es bereits den Deputies erzählt.«

»Nein, nur Mister Dohan weiß davon.«

»Und was war noch?«

»Vor Emmas Haus hatte ich eine unheimliche Begegnung. Dieser verdammte Bastard war nicht alleine. Kurz bevor mir das Licht ausgeschaltet wurde, konnte ich noch zwei weitere Gestalten erkennen, die ebenso in dunkelrote Mäntel gekleidet waren.«

»Es waren also drei?«

»Sie sagen es! Meiner Meinung nach haben wir es nicht mit einem Serienkiller zu tun, sondern einer ganzen Gruppe religiöser Fanatiker.«

»Sie denken, dieser Bileam ist nicht der einzige Gotteskrieger?«

Fragend sah ich zu ihr. »Was meinen Sie mit ›einziger Gotteskrieger‹ und warum habe ich den Eindruck, als wäre es für Sie etwas Ungewöhnliches, nur einen einzigen Serienkiller zu jagen?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Nicht für mich, Sheriff, sondern für die Chlysten. Mehr als einen Henker auf das ›Race of Unholy‹ zu schicken, zeugt davon, dass sie es wohl eilig haben.«

»Wie bitte? Sie sprechen davon, als wäre es eine Selbstverständlichkeit, dass die Chlysten von Zeit zu Zeit einen Serienkiller auf Streifzüge schicken. Und was meinen Sie mit ›Race of Unholy‹?«

»In einem der Tagebücher, die mir mein Vater kurz vor seinem Tod gab, stand etwas von diesem Begriff. Er schrieb darüber, als wäre es eine Prophezeiung, ein Ereignis, welches vorauszusehen war.«

»Ihr Vater wusste wirklich über einiges Bescheid. Sie erwähnten noch kein Wort darüber, an was er eigentlich gestorben ist.«

»Sein Glaube war sein Verhängnis«, flüsterte Miss Below leise.

»Das sagten Sie bereits«, erwiderte ich genervt. »Ich würde aber gern den wahren Grund erfahren.«

Sie schwieg einen Moment.

»Er erlag den Verletzungen, die ihm zugefügt wurden.«

Ich atmete tief durch. Wie ich vermutet hatte: Er war ermordet worden!

»Erzählen Sie mir etwas über das ›Race of Unholy‹!«

»Die Chlysten planen schon über einen längeren Zeitraum hinweg eine Art von Reformierung in den eigenen Reihen. Sie wollen möglicherweise ihre innere Struktur verändern und sich zu den Kriegern des wahren Gottes ernennen. Mein Vater nahm an, dass sie die Kirchen der Welt stürzen und ihren Glauben den Menschen, wenn nötig gewaltsam, aufzwingen wollen. Ihr friedvolles Leben, an das sie sich in den letzten Jahren klammerten, scheint wohl vorüber zu sein. Sie planen möglicherweise einen Aufstand, der die Welt in Aufruhr bringen und zum Nachdenken zwingen soll.«

»Indem sie unschuldige Menschen abschlachten?«

»Falsch! Diese Menschen halten sie ganz und gar nicht für unschuldig. In ihren Augen sind sie wohl Verbrecher.«

»Was haben diese Menschen denn verbrochen? Außerdem möchte ich daran erinnern, dass die Leiche, die wir vorhin gefunden haben, dem ersten Anschein nach ebenfalls ein Amish war!«

»Reformation in den eigenen Reihen, Sheriff.«

Langsam verstand ich. Ich glaubte zu wissen, warum ihr Vater ermordet worden war: Er hatte sich wohl der Reformation nicht gebeugt. Kein schöner Gedanke!

Nach Elsas Aussage liefen die Reformationen schon einige Zeit, und wie kann man am besten eine Gruppe bilden, die zu allem bereit ist? Ganz einfach: Man sortiert aus, ganz zugunsten der wahren, fanatischen Chlysten!

»Aber die anderen Toten waren keine Amish, so viel steht fest!«, merkte ich an, obgleich ich mir auch nicht zu hundert Prozent sicher war.

»Dazu müssten wir herausfinden, um wen es sich dabei gehandelt hat, welchen Berufen sie nachgingen, was für soziale Kontakte sie hatten und dergleichen. Ich vermute, dass diese Opfer etwas mit der Kirche zu tun hatten.«

»Verstehe. Und die Chlysten denken tatsächlich, sie könnten alle christlich engagierten Menschen auf der Welt ausrotten? Das glauben die doch selbst nicht.«

»Das nicht, Sheriff, aber den Pfad, den diese Leute eingeschlagen haben, erreicht nach deren Ansicht mehr, als Ihnen lieb ist.«

Ich runzelte die Stirn.

»Das ›Race of Unholy‹ ist eine Übersetzung aus dem Russischen, für die mein Vater verantwortlich ist. Es bedeutet ›Wettlauf gegen das Unheilige‹! So etwas geht um die Welt. Sie müssen wissen, dies ist erst der Anfang!«

»Ich weiß, ich weiß, die Genesis und so. Aber was meinen die mit den Unheiligen?«

»Alle, Mister Dark. Alle, die nicht den Glauben der Chlysten annehmen.«

»Sie nehmen mich auf den Arm!« Elsa schüttelte ihren Kopf und zuckte mit den Schultern.

»Ich erzähle Ihnen nur, was mein Vater in seinen Tagebüchern notiert hat.«

»Sie scheinen sich sehr dafür interessiert zu haben, oder?«

»Es war das Einzige, was ich von meinem Vater noch besaß. Seine Schrift zu lesen, war so, als hätte ich ihn vor mir. Die Bücher rochen sogar noch nach ihm, als würde er leiblich vor mir stehen.«

»Sie liebten Ihren Vater, nicht wahr?«

Sie nickte. »Ja, ich liebte meinen Vater! Doch es gefiel mir nicht, um welche Angelegenheiten er sich kümmerte.«

Ich ließ einige Augenblicke verstreichen und sah nach draußen. Es fiel Schnee, und der Nebel verdichtete sich zu einer Suppe, deren Konsistenz die eines Bohneneintopfs fast übertraf.

»Was glauben Sie, was es mit diesem ›Wettlauf‹ auf sich hat?«

»Die Zeit läuft ihnen davon.«

»Stellen die etwa einen Rekord im Morden auf?«

»Hier geht es um etwas weitaus Größeres als um Rekorde, Sheriff. Die Chlysten richten sich nach einem Datum, das für sie eine bedeutende Rolle spielt. In ihren ›heiligen‹ Büchern sprechen sie von einer Wiedergeburt, die ...«

»Warten Sie!«, unterbrach ich meinen weiblichen Deputy. »Das erinnert mich an etwas. Einen Moment, bitte. Lassen Sie mich kurz nachdenken.« Das Wort »Wiedergeburt« erinnerte mich an etwas, ich konnte es aber eben nicht zuordnen. Zum Teufel auch, denk nach, Dark!

Plötzlich löste sich der Nebel in meinem Kopf auf, wobei sich der Nebel da draußen immer mehr verdichtete.

»Bileam hat das zu mir gesagt!«, rief ich aus.

»Wann?«

»Es liegt schon knapp drei Wochen zurück. Das war bei der alten Tanner-Farm, als Bileam meinen Ex-Partner beinahe umgebracht hat und ihm dieses seltsame Brandzeichen verpasste. Er sagte zu mir ›Jake, hüte dich vor dem Datum der Wiedergeburt‹, bevor er den dunkelroten Nissan in die Luft jagte. Hat das etwas mit dem Datum zu tun, von dem Sie sprachen?«

»Denkbar wäre es zumindest; es ist sogar sehr wahrscheinlich. Die Chlysten sprachen immer von einem Datum, das die Welt verändern würde. Ein Datum, das die Wiedergeburt einleitet, dass an jenem Tag ihr Messias neu geboren werde, um die Welt von allem Übel zu befreien.«

»Und wann sollte das sein?«

»Das ist eines der großen Rätsel der Wissenschaft. Viele, nicht nur mein Vater, untersuchten dieses seltsame Datum. Es wird immer von zwei verschiedenen Daten gesprochen, und selbst mein Vater wusste nicht, welches nun stimmt.«

»Und um welche genauen Daten handelt es sich nun?«

»Es tut mir leid, aber die exakten Zeitpunkte sind mir entfallen. Wir müssten danach erneut recherchieren, was uns aber wohl nicht allzu schwerfallen wird.«

»Wie können Sie da nur so sicher sein? Glauben Sie im Ernst, dass derartige Schauergeschichten in Zeitungen oder in Geschichtsbüchern zu finden sind?«

»Das nicht, aber wir müssen uns nur an einem Namen orientieren!«

»Sie meinen doch nicht etwa diesen Rasputin?«

»Doch, Mister Dark. Er scheint der Schlüssel zu allem zu sein. Wenn wir etwas über ihn erfahren, werden wir Licht in diese bitterkalte Dunkelheit bringen. Sagen Sie, die Geschichte von vorhin, in der Sie etwas über ein Brandzeichen bei Ihrem Ex-Partner erwähnten ... Wie sah es aus?«

»Ich weiß es nicht mehr genau. Aber wenn ich mich recht erinnern kann, handelte es sich um kyrillische Buchstaben, die etwas seltsam angeordnet waren.«

»Haben Sie einen Stift und einen Notizzettel?«

In meinem Handschuhfach lagen ein Notizblock und ein alter Kugelschreiber. Ich reichte ihr beides kopfschüttelnd.

Mit einem freundlichen Lächeln nahm sie sie mir aus der Hand, wobei sich außerordentlich lang unsere Blicke trafen und sich ein Gefühl der Zuneigung in meinem Körper festsetzte.

Sie riss sich los und kritzelte etwas, das dem ähnelte, was ich auf Marcs Rücken entdeckt hatte.

Als sie mir den Notizzettel gab, fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Diese drei Zeichen waren exakt dieselben Symbole, die dieser Teufel auf Mister Richmonts Rücken hinterlassen hatte: Г Р Е!

»Verdammt, Elsa. Woher wissen Sie das?«, fragte ich sie völlig überrascht, wobei in mir ein Verdacht aufkeimte.

»Ich habe es nicht gewusst. Ich dachte es mir nur.«

»Was haben diese Buchstaben zu bedeuten?«

»Wo ist Ihr Partner jetzt?«

»Er ist zurück nach Detroit. Seine Verfassung war nicht mehr die Beste, nach seiner Begegnung mit Bileam.«

»Seltsam ...«

»Was meinen Sie damit?«

»Jemand, der dieses Brandzeichen trägt, gehört für immer ›Ihm‹!«

»Ihm? Sie meinen doch nicht etwa Bileam?«

»Nein, Sheriff. Demjenigen, dem diese Initialen gehören.«

»Initialen?«

»Das sind jeweils die Anfangsbuchstaben eines vollständigen Namens.«

Ich schwieg und hörte genau zu, während sie erneut etwas auf ihren Zettel schrieb.

»Grigori Jefimowitsch Rasputin«, las ich.

»Aber diese Anfangsbuchstaben lauten G, J und R. Die haben doch nichts gemeinsam mit denen auf Marcs Rücken.« Damit zeigte ich auf die Buchstaben, die sie zuvor darüber geschrieben hatte.

»Sie sagen es, Sheriff. Aber ich übersetze Ihnen den Namen ins Russische«, entgegnete sie mir, wobei sie erneut anfing zu schreiben.

»Г ригорий E фимович Р аспутин«, las ich.

»Sehen Sie? Diese Initialen gehören Rasputin. Ihr Ex-Partner ist nun Eigentum von dem, den man auch den Judenfreund oder den Geistheiler nennt. Nennen Sie ihn, wie Sie wollen, dennoch ist die Seele Ihres Ex-Partners verloren.«

»Seine Seele? Tut mir leid, wenn ich Ihr Glaubensbekenntnis nicht teilen kann, aber an solch einen Unsinn glaube ich nicht. Irgendein Verrückter läuft Amok und raubt Seelen? Ich bitte Sie, Miss Below, aber wissen Sie, wie sich so etwas anhört?«

Ich hatte den Eindruck, sie wäre gedanklich völlig abwesend und habe meine Fragen gar nicht wahrgenommen. Jedenfalls zeigte sie keinerlei Reaktion!

Eine Stille lag in der Luft, dass ich kaum zu atmen wagte. Elsas Gesicht verdüsterte sich schlagartig, und sie starrte mit glasigem Blick durch die Frontscheibe des Wagens.

»Miss Below ...«, sprach ich sie leise an, doch ihr sanftes Zischen ließ mich sofort verstummen. Erneut folgte eine seltsame Stille! Was zum Teufel war nur plötzlich geschehen?

»Sehen Sie dort?« Mit diesen Worten brach sie ihr Schweigen.

»Wo?« Ich schaute ebenfalls und versuchte ihrem Blick zu folgen. Ich konnte außer den düsteren Nebelschwaden und dem leichten Schneefall, der langsam, aber stetig die Scheibe verdeckte, nichts erkennen.

Ich stellte die Scheibenwischer auf die minimalste Stufe, wobei sie jedes Mal, wenn sie über die Scheibe rutschten, ein quietschendes Geräusch von sich gaben.

Was war nur los? Es fühlte sich an wie eine bedrückende Lähmung, welche von oben herabzukommen schien. Einbildung? Lag es daran, dass ich mich zu sehr an Elsa heftete und dass mich ihr ängstliches Verhalten in denselben Zustand versetzte? Oder sollte ich mir die ganze Sache nur in meinem Kopf vorgestellt haben?

Möglich war auch, dass die kalte Umgebung und diese Mordserie unsere Gedanken vereisten und zumindest ich nur noch dazu neigte, das Schlimmste zu befürchten. Fragen über Fragen, von denen ich nicht auch nur eine hätte beantworten können.

Elsa schreckte auf, wobei sie ihren Atem schnell durch den Mund einsog und ihre Stimmbänder einen leisen Ton von sich gaben. Dieser verdammte Nebel war so dicht, dass man den Eindruck hatte, es wäre kurz vor der Abenddämmerung, obwohl es erst früh am Nachmittag war.

Dieser Ort schien sich an die Dunkelheit zu klammern wie ein hungriger Wolf, der die blutige Spur seiner Beute aufgenommen hatte.

Plötzlich war ein Licht zu erkennen!

»Ich sehe es«, flüstere ich Elsa leise zu, ohne dabei meinen Blick von der Lichtquelle abzuwenden, um diesen fahlen Schein nicht aus den Augen zu verlieren.

»Was ist das?«, fragte ich leise, als ich bemerkte, wie das Licht hin und her wanderte und sich mal näherte und mal entfernte. Außerdem wechselte es so willkürlich die Richtung wie ein Glühwürmchen auf dem Hochzeitsflug. Was mich aber am meisten daran verwunderte war, mit welcher großen Geschwindigkeit sich diese ungleichmäßigen und unkontrollierten Bewegungen vollzogen.

»Lassen Sie uns verschwinden, Sheriff«, hörte ich Miss Below sagen, doch meine Lethargie, welche sich in mir plötzlich wie zu Hause fühlte, verstärkte sich nur, als wirke eine Art von unbekannter Hypnose auf mich. Dieses Licht war wunderschön!

»Oh Gott!«, schreckte sie erneut auf und ließ mich ein wenig mehr zu meinen Gedanken zurückfinden. Ich erkannte nun den immer deutlicher werdenden Grund ihres Schreckens: Fackellichter in der Ferne!

Schätzungsweise handelte es sich bestimmt um ein Dutzend solcher Feuer, die durch den Nebel strahlten und die Schwaden förmlich aufwirbelten, sodass es den Anschein hatte, als wären es Wellen, die schwebend über die Lichter flossen.

Meine Gedanken rissen sich von dieser seltsamen Trägheit endlich los. Der Grund war nicht etwa der, dass mein Deputy an meinem Arm rüttelte, sondern eher, dass sich in meinen Ohren ein Geräusch festgesetzt hatte, welches mich auf eine tödliche Gefahr hinwies: Hundegebell! Möglich, dass ich mich täuschte, aber wenn ich mich recht entsinnen konnte, klang es nach Rottweilern, mit denen ich schon zuhauf zu tun gehabt hatte, da diese Hunde bei Drogenhändlern besonders beliebt waren.

Während die Fackellichter immer näher kamen, und das Knurren und Bellen der noch unsichtbaren Hunde stetig ohrenbetäubender und durchdringender wurde, drehte ich den Zündschlüssel. Aber nichts tat sich. Der Wagen war tot!

Ein kurzer Blick zu Elsa, und dann versuchte ich es erneut – wieder ohne Erfolg. Ein plötzlicher Schlag auf die Motorhaube ließ uns beide zusammenzucken. Elsa wurde weiß wie eine Wand, während ich versuchte, die Fassung zu bewahren.

Vor uns baute sich eine Gestalt auf, die sich unbemerkt an unseren Wagen herangeschlichen hatte. Der Kerl trug einen dunkelroten Mantel, dessen Kapuze ihm das Gesicht verdeckte und in mir ein Gefühl des Unbehagens erweckte. Bedrohlich richtete er sich auf, und durch die Größe des im Wind wehenden Mantels wurde es in der Fahrerkabine dunkler, da die Lichter der entfernten Fackeln damit vollständig verdeckt wurden. Erneut fühlte ich mich wie gelähmt, Gedanken an Bileam, dessen Erscheinung mir wohl für lange Zeit im Gedächtnis bleiben würde, pressten sich in meinen Schädel. Langsam erhob er seine Hand und zeigte mir ein Verteilerkabel, welches zweifellos von meinem Wagen stammte.

Was ich in diesem Augenblick dachte, oder was in mir vorging, ist schwer zu beschreiben. Dass ich Angst verspürte, war meines Erachtens eine Selbstverständlichkeit, doch das Gefühl des Ausgeliefertseins und die Unfähigkeit, eine Bewegung auszuführen, waren deutlich stärker. Flüsternd kam ein kurzes Gebet über meine Lippen!

Trotzdem konnte ich mich dazu zwingen, langsam meine Hand zur Waffe zu bewegen und das Halfter zu lösen. Ein erneuter und kurzer Blick zu Miss Below ließ mich erkennen, dass sie starr vor Angst war.

Dieser Typ dort stand einfach nur da, gewaltig und einschüchternd. Um zu verstehen, was in solchen Situationen in einem vorgeht, ist es notwendig, dies einmal am eigenen Leib zu erfahren. Ich hatte jedes Zeitgefühl verloren und konnte nicht sagen, wie lange dieser Chlyst schon vor uns gestanden hatte. Es kam mir jedenfalls wie eine Ewigkeit vor.

Ein sanftes Gefühl der Erleichterung machte sich schließlich in mir breit, als ich erkennen konnte, wie sich die Gestalt mit dem dunkelroten Mantel langsam vom Wagen entfernte. Ich atmete kurz durch, während meine Hand weiterhin auf der Waffe ruhte.

Er bewegte sich langsam rückwärts, ohne seinen Blick von uns zu wenden, bis ihn die Dunstschwaden immer mehr verdeckten und die Fackellichter, verstärkt durch den Nebel, unsere Augen leicht blendeten, was ihn schließlich unsichtbar erscheinen ließ.

Im Wagen war es so still, dass ich Elsas schnellen Herzschlag hören konnte. Meine Hand glitt wieder von meiner Waffe, und ich bewegte sie langsam ans Steuer.

Die seltsamen Lichter in dieser von Gott verlassenen Gegend, schienen nun starr und etwas tiefer zu stehen. Ich wurde das unbestimmte Gefühl nicht los, dass ich wohl zu diesen Lichtern sollte.

Ebenso war das Bellen der Hunde verstummt. Hier und da hörte man zwar ein weit entferntes Jaulen, dennoch kehrte Stille ein, die bei Weitem nicht dieselbe war wie zuvor, als die Lichterquellen plötzlich aufgetaucht waren.

Einen Augenblick lang glaubte ich, dass wir uns kurzzeitig in einer anderen Welt befunden hatten, und dass sich nun die Realität wieder eingeschlichen hatte. Welch irrsinnige Gedanken, Jake!

Ich löste meinen Sicherheitsgurt und wollte eben aus dem Wagen steigen, als mich Miss Below am Arm festhielt.

»Gehen Sie nicht«, flüsterte sie ängstlich, und es schien so, als wollte sie nicht zu gefühlvoll wirken.

»Schon gut, Miss Below. Sie bleiben im Wagen, und wenn die Luft rein ist, werde ich Sie rufen, in Ordnung?«

Sie nickte und kam sich allem Anschein nach ein wenig feige vor, doch ich verstand ihr Verhalten.

Als ich die Tür hinter mir schloss, drang mir sofort der Geruch der brennenden Fackeln in die Nase, die immer noch loderten. Langsam näherte ich mich dem hellen Lichtschein, der sich anfangs zu einem großen Lichtkegel vermischt hatte, aber je weiter ich mich dem Ort des Geschehens näherte, desto besser konnte ich die einzelnen flackernden Lichtquellen erkennen: Es handelte sich um elf solcher Leuchten, die in einer Art Kreis im Boden steckten.

Plötzlich sah ich eine Gestalt im Innern der seltsam angeordneten Formation der Fackeln, doch die grellen Lichter blendeten mich und somit konnte ich nicht genau erkennen, um wen es sich handelte. Ich zog meine Dienstwaffe.

»Stehen Sie auf und kommen Sie mit erhobenen Händen langsam auf mich zu!«, rief ich laut.

Nichts geschah, und ich fürchtete, dass man mich hier in eine Falle locken wollte.

Ich wiederholte meine Aufforderung lauter und bedrohlicher, doch es rührte sich nichts.

Zweimal schoss ich in die Luft, ohne dass eine Reaktion folgte.

Ich beschloss, mich diesem »Ding« in der Mitte der Lichter zu nähern. Stetig die Waffe im Anschlag ging ich darauf zu, wobei ich die Umgebung im Auge behielt, so gut es eben möglich war.

Ein Schauer lief mir über den Rücken, und ich steckte meine Waffe zurück, als ich mein Ziel erreicht hatte. Ich stand neben einer Leiche, deren Bild denen glich, die wir zuvor gefunden hatten.

»Verdammt, verdammt!«, knurrte ich, als ich erkannte, dass es sich um eine Frau handelte. Sie war nackt, ihre Brüste und ihr Bauch waren zerschunden. Die Wunden sahen dem ersten Anschein nach aus, als rührten diese von Peitschenhieben, und auf der Brust erkannte ich etwas, das aussah wie ein großer dunkler Blutfleck.

Was um alles in der Welt waren das für Menschen? Wie kann jemand so abgrundtief gleichgültig gegenüber dem Leben sein? War dies Gottes Wille?

Ich war heilfroh, keiner Kirche anzugehören und mich an den Auswüchsen von religiösem Fanatismus nicht mitschuldig fühlen zu müssen.

Zweifel kamen auf. Zweifel an meiner Polizeiarbeit, zermürbende Fragen schossen durch meinen Kopf, ob ich diese Morde je würde aufhalten können, oder ob meine Anwesenheit gar einer der Gründe war, warum sie geschahen. Ich kam mir vor wie jemand, der eine Mauer erklimmen wollte, die jedoch viel zu hoch war, als dass man sie bezwingen konnte.

»Jake, deine Anwesenheit ist ebenso gleichgültig wie die Gefühle der Mörder von der Kleinen da!«, sagte ich zu mir selbst.

Ich spielte mit dem Gedanken, meinen Deputy zu rufen, entschied mich aber dagegen, da ich es als nicht taktvoll empfand, ihr diesen Anblick aufzudrängen. Immerhin war die Leiche eine Frau, und ich wusste nicht, wie Elsa jetzt darauf reagieren würde.

Als ich mich zu der Toten beugte, hörte ich von Weitem schon die Sirenen der Dienstwagen. Der Blick auf meine Uhr sagte mir, dass wohl gerade so viel Zeit vergangen war, wie Martin und seine Männer brauchen mussten, von New Rock nach Crimson zu gelangen. Da der Nebel verdammt dicht war, leitete dieser die Farben der Rundumkennleuchten weit ins Landesinnere und tauchte die Umgebung wieder einmal in ein Meer von Blau und Rot.

Mein Blick auf die Leiche ließ mich die typischen Merkmale erkennen, welche ich bei den anderen Körpern festgestellt hatte und gab mir die erdrückenden Beweise, dass es sich um einen weiteren Ritualmord handelte. Der Blutfleck auf der Brust stellte sich als eine große Schnittwunde heraus, die ich aufgrund des geronnenen Blutes nicht genau erkennen konnte. Ich benutzte ein Taschentuch, um das Blut ein wenig abzureiben. Zunächst konnte ich immer noch nichts sehen, aber als ich das Tuch mit Schnee befeuchtete und weiter rieb, verdeutlichte sich vor mir ein Schriftzug, der das Bild dieses grauenvollen Mordes abrundete. Ich sah kyrillische Buchstaben, welche tief in die Brust geschnitten worden waren.

»Ruth!«, hörte ich eine Stimme hinter mir sagen.

»Elsa!«, erwiderte ich, ohne mich umzudrehen. »Ich sagte doch, Sie sollen im Wagen warten.«

»Ich weiß, Sheriff. Aber ich dachte mir, Sie brauchen eventuell meine Hilfe. Übrigens sind unsere Leute da!«

Ich nickte. »Weiß ich, Miss Below, ist mir nicht entgangen. Aber was sagten Sie eben?«

»Рут! Das Wort auf ihrer Brust bedeutet Ruth. So nennt man das vierte Buch des Alten Testaments. Dass die Chlysten dabei eine Frau als Opfer auswählten, passt natürlich ins Bild, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

»Verstehe schon, Miss Below. Schicken Sie unsere Leute gleich hierher, und schaffen Sie mir vor allem Martin ran.«

»Verstanden Sheriff, ich kümmere mich sofort darum.«

»Sie leisten hier gute Arbeit.« Ich sah zu ihr und lächelte leicht. »Weiter so!«

Ein zauberhaftes Grinsen huschte über ihr Gesicht, und ich sah ihr ihre Freude förmlich an.

Während ich ihre sich entfernenden Schritte im Schnee hörte, fiel mir etwas auf: Am Hals des Opfers erkannte etwas Weißes, dass leicht herausragte. Das genauere Hinsehen brachte keine neuen Erkenntnisse, und so benutzte ich erneut das Taschentuch, um dieses Etwas zu ergreifen. Ein paar Mal rutschte ich ab, doch dann gelang es mir, es herauszuziehen. Es handelte sich um ein Schriftstück, das dort platziert worden war. Es war schon von Blut durchtränkt und wies rote Einfärbungen auf.

Ich klappte es vorsichtig auf, um es nicht zu zerreißen und erkannte eine krakelige Schrift.

»Und ich dachte, Ihnen gefällt die neue Sekretärin, Mister Dark!«, las ich.

Mir lief es eiskalt den Rücken hinunter, als mir klar wurde, um wen es sich hier handelte: Die Leiche war niemand anderes als meine falsche Emma Garner.

Der Teufel ging hier um!

Plötzlich drang ein Geräusch von Schritten im Schnee an meine Ohren. Dort vorn im Nebel, verdeckt vom Dunst, bewegte sich jemand. Ich zog meine Waffe und richtete sie blitzschnell auf ihn.

»Stehen bleiben!«, rief ich und versuchte dabei, die Person besser zu sehen. Der permanente Schneefall erschwerte mein Unterfangen ungemein, trotzdem glaubte ich zu erkennen, dass es sich um keinen der Typen handelte, die sich mit ihren dunkelroten Mänteln Zutritt zur Gesetzlosigkeit verschafften.

Langsam bekam mein Ziel eine Gestalt, meine Augen gewöhnten sich allmählich an die schlechte Sicht, und ich sah einen Mann, der mir bekannt vorkam.

»Teasle?«, rief ich. »Sind Sie es?«

Ich senkte meine Waffe und der Mann mit dem Sheriffhut warf mir etwas zu. Es landete exakt vor meinen Füßen.

Als ich nachsah, erkannte ich meinen 45er Colt, den ich schon so lange vermisste. Voller Freude schob ich ihn in mein Holster.

Ein erneuter Blick zu Teasle brachte eine herbe Enttäuschung, denn er war bereits wieder verschwunden.

»Teufel auch«, fluchte ich. »Was geht hier nur vor?«

»Alles in Ordnung, Sheriff?«, hörte ich Martin hinter mir. Elsa war bei ihm.

Ich nickte. »Alles okay, Martin. Die Leiche liegt gleich hier drüben!«