DAS BUCH DES JUDAS

»Wir können unser Heil nur durch die Reue erlangen. Wie
soll man bereuen, wenn man nicht vorher gesündigt hat? Wenn uns also Gott die Versuchung schickt, ist es unsere Pflicht,
ihr zu erliegen.«

Ansprache Rasputins beim Gottesdienst

Ma-Ha-Bone! Welch krankes Wort! Ich fragte mich, was die Freimaurer eigentlich den ganzen Tag unternahmen, außer Geheimnistuerei, rote Umhänge stricken und seltsame Schlüsselwörter erfinden. Dieses Wort solle ich mir merken, sagte Parker, nachdem wir die Leiche des Bischofs in einige Decken eingewickelt und auf die Ladefläche ihres dunkelroten Pickups gelegt hatten, den ich soeben den Dalton Highway entlang fuhr. Welch grausige Fracht!

Sollte ich weiteren Freimaurern begegnen, bräuchte ich nur diese geheime Ansammlung von Buchstaben auszusprechen, und alles wäre in Ordnung. Fragte sich nur, für wen!

Zudem kam noch die Mitteilung, dass ich dieses Wort keinem anderem Menschen verraten durfte: Freimaurerverschwiegenheit. In meinen Augen waren sie eine Bande von Lügnern! Ich traute ihnen nicht über den Weg. Man konnte nicht wissen, was die im Schilde führten. Ihre ganze Art von Vision, die Welt zu verbessern, trieb mich dazu, ihnen alles in die Schuhe zu schieben. Möglicherweise waren sie die eigentliche Kraft, die die Chlysten antrieb. »Moment mal …«, sagte ich und legte die Stirn in Falten. Einige wirre Gedanken flogen mir durch den Kopf, die sich zu einer standhaften Theorie formten: War das Ganze ein Sektenkrieg? War es denn möglich, dass es sich hier um etwas handelte, was meine ganze Ermittlungsarbeit über den Haufen warf? Doch zu diesen Gedanken gesellte sich noch die Frage, wie ich auf diese Theorie überhaupt kam. Verhaltensforscher hätten mir die Frage bestimmt beantworten können, doch ich selbst konnte nur Vermutungen anstellen, und ehrlich gesagt, waren meine Argumente nicht wirklich glaubhaft, da ich nicht einmal wusste, wer ich eigentlich war.

Im Grunde hätte mir das auch alles gleichgültig sein können, doch tief im Innern fühlte ich das genaue Gegenteil. Die Wahrheit war für mich trotz allem noch von äußerster Wichtigkeit. Eine Art von Überbleibsel meines alten Lebens, wie ein letztes Testament.

Zu der Annahme, dass es sich hier um einen Sektenkrieg handeln könnte, trieben mich zwei Gedanken, wobei der erste wohl der Hauptgrund war: mein starker Bezug zu den Chlysten. Ich konnte mir gut vorstellen, dass sich meine Gesinnung gegenüber anderen Gruppierungen so drastisch geändert hatte, dass ich sie als Feinde ansah. Zugegeben, immer wieder drang meine Loyalität als Sheriff und Gesetzeshüter durch meine dunkelroten Gedanken, als Parker mich beinahe so weit hatte, den Freimaurern den Gefallen zu erweisen, mich für sie als Spion in die Chlysten einzugliedern. Doch dieser Zug war wohl für immer abgefahren, auch wenn sie fest daran glaubten, dass ich auf ihrer Seite war.

Der zweite Gedanke rührte vom Gespräch mit Parker her, der so einiges von sich gegeben hatte, das mich auf eine seltsame Spur brachte: seine mysteriöse Wortwahl! Natürlich lag das sehr wohl daran, dass die Freimaurer alle irgendwie geisteskrank waren, oder sie sich mit aller Anstrengung so benahmen. Doch wenn ich Parkers Worte einmal analysierte, konnte ich definitiv annehmen, dass seine Idee nicht einmal so abwegig war. Am gravierendsten schienen mir die Worte »Sie sind unsere letzte Hoffnung, um endgültig diese bestialischen Morde aufzuhalten. Wie viele müssen noch sterben, bis die Welt endlich versteht, wie wichtig wir sind?« zu sein.

Wen meinten die bitte mit »Wir«? Meiner Meinung nach konnten sie sich damit nur selbst gemeint haben. Diese Überlegungen ließen mich in die Bremsen steigen, während ich an meine Ladung dachte.

Der Wagen kam schließlich zum Stehen. Ein kurzer Blick in den Rückspiegel ließ mich außer der anhaltenden Dunkelheit und einem leichten Schneetreiben nichts erkennen. Also stieg ich aus meinem Fahrzeug, ließ aber den Motor laufen. Man konnte nie wissen!

Die klirrende Kälte, die meine Knochen beinahe zum Einfrieren brachten, erschwerte mir die Schritte. Parker meinte, bei mir wäre Duncons Leiche am besten aufgehoben und ich könnte sie ohne Probleme den Behörden übergeben. Aber er dachte wohl keinesfalls mehr daran, dass Fender die Behörde war. Das Letzte, was ich vorhatte, war, diesem Penner in die Arme zu laufen. Das Ganze war sowieso total seltsam. Parker wusste doch von meinem Versuch, den Bischof zu töten …!

Ich atmete schwer aus und ließ die warme Luft durch die Nase entweichen. Meine Blicke folgten dem weißen Dampf und richteten sich nach Norden, wo ich die hohen schneebedeckten Berge sehen konnte, welche trotz der immerwährenden Polarnacht den Eindruck erweckten, dass sie hell erstrahlten. Es war eine geisterhafter Atmosphäre, hier inmitten im Nirgendwo zu sein, die tödliche Kälte zu spüren, wobei ich eher an die in meinem Herzen dachte. Wie hatte es nur so weit kommen können?

Der Highway in Richtung der Arktis schlängelte sich durch das Land wie ein riesenhafter Wurm. Der Dalton Highway hatte es in sich, und diesen Anblick würde ich wohl nie wieder vergessen können. Nahezu zeitgleich strahlte er Faszination und Gefahr aus – eine Kombination, die eine innere Leere in mir auslöste, als wäre ich eine einsame Seele, die keinen Körper besaß und nur reine Wahrnehmung war, ohne jegliche Empfindung dabei zu spüren. Meine Hände froren so sehr, dass ich keinerlei Gefühl mehr darin hatte. Sie zitterten und waren rot. Ich glaubte zu erkennen, dass sie allmählich auch noch bleich wurden, die ersten Anzeichen von Erfrierungen. Meine Beine fingen ebenso an zu zittern, und ich fiel auf die Knie.

Der kalte Wind ließ meine Gedanken nahezu einfrieren, und ich bemerkte, wie sich der Wunsch nach dem Tod einstellte. Wenn ich hier sterben würde, wen kümmerte es schon? War dies nicht ein schöner Ort, um das Leben zu verlassen? Hier, in einem Land, an dem man Gott näher war, als man zu glauben vermochte. Fernab von den Menschen, entfernt von dieser Gefühllosigkeit, die die Geschöpfe an den Tag legten. Wo sonst sollte man die Nähe mehr spüren als hier? Man kam sich vor, als wäre hier noch der Schöpfungsprozess voll im Gange, ohne dass der sechste Tag je stattgefunden hätte.

Die eisige Kälte übermannte mich nun völlig. Ich hatte sie wohl unterschätzt, und ich spürte meinen Herzschlag kaum noch. Wenn ich an meinem Leben gehangen hätte, so hätte ich ein Gebet gesprochen, und Gott darum gebeten, mir ein normales Leben zu schenken und mich aus dieser lebensfeindlichen Umgebung hinauszuführen, doch die Gleichgültigkeit in mir war stärker.

Ich fiel zu Boden und spürte den eisigen Schnee in meinem Gesicht, und wie sich das Eis an meinem ganzen Körper ausbreitete. Diese Kälte schien mir etwas sagen zu wollen, und ich horchte. Ein kaum hörbares Flüstern schien aus dem Schnee zu kommen. Dass es sich um das leichte Schmelzen handelte, welches durch meine Körperwärme ausgelöst wurde, ignorierte ich völlig. Ich glaubte fest daran, dass es mir sagen wollte, ich solle liegen bleiben und den Tod gewähren lassen. Sagte David nicht, es handele sich nur um einen Übergang in ein schöneres Leben? Wäre ich dann bei Gott?

Ich schloss meine Augen, Müdigkeit überkam mich, doch es glich einer Art von Trancezustand, dem ein unbeschreiblich wohltuendes Gefühl innewohnte. Plötzlich formten sich vor meinen geschlossenen Augen zwei Gestalten, und bald schon glaubte ich sie zu erkennen: Jesus von Nazareth und Grigori Rasputin, zwei Heilige, die mir den Weg ins Licht zeigen wollten. Sie öffneten ihre Arme, während sie mich ansahen, und hinter ihnen war das wärmende Licht. Ich drängte danach, mit ihm zu verschmelzen, eins zu werden mit Gott! Ich fühlte bereits die Wärme, sie umfing mich, und ich war behütet. All das Schlechte hinter mir zu lassen, die Erde mit all ihren Problemen nie wieder betreten zu müssen, war nun mein innigster Wunsch. Ich wollte nicht mehr hier sein.

Doch plötzlich verschwand das Licht wieder und eine durchdringende Traurigkeit erfasste mich: Nicht hinübergehen zu dürfen, erneut die Lasten zu tragen, die ich in meinem Leben mit mir führen musste. Welches Verderben! »Lasst mich nicht zurück«, flüsterte ich, doch die Söhne Gottes entfernten sich rasch, und mein Körper spürte wieder die Kälte Alaskas.

Ich öffnete die Augen. Ein Karibu hatte mich am Bein mit der Schnauze angetastet. Erschrocken fuhr ich hoch, und bemerkte, wie das Leben in meinen Körper zurückkehrte, auch wenn ich noch nie so gefroren hatte wie jetzt.

Das Karibu entfernte sich wieder, erst langsam, dann immer schneller und war schon bald in der Finsternis verschwunden.

Ich kletterte kurzerhand in den Wagen zurück und drehte die Heizung voll auf.

Es vergingen einige Minuten, bis mein Gehirn wieder anfing, vollständig zu arbeiten. Wie lange ich da draußen gelegen hatte, wusste ich nicht. Es konnten einige Sekunden gewesen sein, oder auch einige Minuten, doch ich wusste, dass ich dem Tod noch nie so nahe gewesen war. Meine Zeit war wohl noch nicht gekommen. Handelte es sich um einen Zufall? Wäre das Karibu nicht hier gewesen, was wäre dann passiert? Es glich einem Wink des Schicksals, als ich ebenso ein Rentier bei der Pipeline entdeckt hatte – wie eine Art von Zeichen, welches mich doch tatsächlich eingeholt hatte und mir die Gewissheit gab, dass alles vorausbestimmt war. Mir fiel auf Anhieb eine alte Geschichte ein, die ich vor einigen Jahren von einem alten Mann gehört hatte, der auf der Straße gestanden und um Geld gebettelt hatte. Er erzählte, dass man den Tod weder austricksen noch ihm entrinnen, und nach seiner Erfahrung ebenso nicht einholen konnte. Folgende Geschichte erzählte er:

Es lebte einmal ein reicher Kaufmann in Bagdad, der eines Tages auf dem großen Basar am Tigris eine erschreckende Begegnung hatte. Er erkannte auf der anderen Seite des Flusses den Tod, und er erhoffte sich, dass der ihn nicht entdecken würde. Doch wie das Schicksal so spielte, sah ihn der Tod direkt an, tat äußerst freudig und winkte ihm sogar noch mit seiner Knochenhand zu. Als er dies sah, floh der Kaufmann voller Furcht in seinen Palast, packte seine persönlichen Dinge zusammen, nahm das schnellste Pferd, das er für Geld bekommen konnte, und ritt wie der Wind ins weit entfernte Sumatra. Kaum war er abends erschöpft dort angekommen, erwarb er eine kleine Holzhütte und hoffte, dadurch dem Tod entflohen zu sein. Doch mitten in der Nacht klopfte es an der Tür und herein kam der Tod. Er sagte, dass seine Zeit gekommen sei, und dass er ihn nun mitnehmen müsse. Widerwillig schlug der Kaufmann ein, mit ihm zu gehen, doch bevor er sich ihm endgültig anschloss, fragte er ihn, warum er ihm auf dem Basar zugewunken hatte. Doch der Tod antwortete, dass dies nicht seine Absicht gewesen war, sondern dass er nur überrascht war, ihn am selben Tag in Bagdad zu begegnen, wo er doch wusste, ihn an diesem Abend im weit entfernten Sumatra anzutreffen.

Als tröstend konnte man diese Geschichte keinesfalls bezeichnen, doch sie gab mir zu denken, und mein Gehirn arbeitete erneut auf Hochtouren. Allmählich konnte ich auch meinen Körper wieder fühlen. Die wärmende Heizung taute die gefrorenen Glieder wieder auf.

Ein Blick in den Rückspiegel offenbarte mir wieder meine tote Ladung. Dieses Ding auf der Ladefläche des Pickups lag da wie ein gefrorener Kokon, der nur darauf wartete, sich endlich zu befreien und sein Geheimnis preiszugeben. Ich wusste, dass ich ihm dabei helfen musste!

Ich raffte mich erneut dazu auf, die Leiche zu inspizieren, und wagte mich noch einmal hinaus in die lebensfeindlichen Temperaturen. Langsam bewegte ich mich durch die alles zerfressende Kälte, immer den Blick nach Norden gerichtet, dorthin, wo sich der rettende Flughafen befand, den Parker erwähnt hatte. Direkt am Ende der Welt: Prudhoe Bay!

Ich öffnete die hintere Luke, stieg auf die Ladefläche und näherte mich dem leblosen Körper. Mit Mühe und Not konnte ich den Toten von diesen ganzen »Leichentüchern« befreien und empfand dabei eine gewisse Erleichterung, so als hätte ich ihm dazu verholfen, sich in einen Schmetterling zu verwandeln. Doch der Anblick war alles andere als solch eine Metamorphose, als ich erkennen musste, dass sein ganzer Körper völlig durchgefroren war. Seine Haut fühlte sich an wie raues und hartes Pergamentpapier, auch seine Gesichtszüge, die völlig entgleist waren, glichen einer Schaufensterpuppe, der man vergessen hatte, den Mund zu schließen.

Ich starrte in sein Gesicht und erkannte die blau geschwollene Zunge. Die Kälte hatte ihr den Rest gegeben. Doch seine Augäpfel toppten diesen schaurigen Anblick: Sie spiegelten die finstere Leere, die meinem inneren Empfinden verdammt nahekam – so grau und unendlich tief, wobei die eisige Luft einige Tropfen, welche noch aus seinem Tränenkanal geronnen waren, an den Wimpern festgefroren hatte. Ich hätte mir auch vorstellen können, dass seine Lider bei der kleinsten Berührung abgebrochen wären. Widerlich!

An seinem Hals erkannte ich noch die tiefen Mulden, die von meinen Fingerkuppen herrührten, als ich dem armen Teufel das Leben genommen hatte. Seine Haut glich einem weißen Laken, an dem bereits Motten und der Schimmel ganze Arbeit geleistet hatten. Leicht berührte ich seine eisigen Handgelenke und bemerkte, dass schon der leichteste Druck die Haut abblättern ließ wie getrocknetes Papier. Gefrorene Schweißperlen verliehen dem gesamten Körper einen besonderen Glanz. Was mich jedoch am meisten verwunderte, war mein Empfinden gegenüber diesem Leichnam. Es handelte sich um eine Mischung aus Ekel und Faszination, wobei das Letztere allmählich überhandnahm. Was für eine Teufelei!

Ich war mir sicher, dass die Chlysten und vermutlich speziell Bileam das Opfer für mich vorbereitet hatten, so wie er es immer getan hatte. Er lief mir bereits geschwächt in die Arme, der Name war schon eingraviert, sodass ich ihn nur noch töten musste. Doch das Ritual war noch nicht vollendet, da der Kopf, Hände, Füße und selbstverständlich das Blut noch nicht entfernt waren.

Aber meine Überlegungen richteten sich wieder auf die Ermittlungen, und in meinem Inneren herrschte nach wie vor ein anstrengendes Hin und Her. Wer war ich nun wirklich, oder besser ausgedrückt: Zu wem gehörte ich?

Ich begutachtete die Leiche, so gut es eben ging, wendete den leblosen Körper und stieß auf eine völlig wahnsinnige Entdeckung: Ein Brandzeichen auf dem linken Fuß! Es war klein, nicht unbedingt ein Merkmal, welches man sofort erkennen konnte; vielleicht so groß wie ein Fingernagel. Doch nun wurde mir auch klar, weshalb bei all den Leichen die Füße fehlten. Hier ging es darum, Identitäten zu vertuschen! Und ich spreche nicht von Namen und Herkunft, denn diese hätten wir sowieso irgendwann herausgefunden, da wir die Köpfe den Leichen zuordnen konnten.

Nein, hier ging es um eine andere Identität: Ihre Zugehörigkeit, ihre Gesinnung und wenn man so wollte, um ihren Glauben. Dass die Opfer alle im Dienste der Geistlichkeit gestanden hatten, wusste ich ja bereits, doch ich dachte nicht im Traum daran, dass sie einer weiteren Gemeinschaft angehörten. Meine Theorie schien sich zu bestätigen. Auf dem Fuß des Bischofs erkannte ich ein Brandzeichen, das einem Winkelmaß, einem Zirkel und einem kaum sichtbaren »G« glich. Das Zeichen der Freimaurer!

Fassungslos ließ ich von ihm ab, lehnte mich an die Fahrerkabine und konnte es nicht begreifen. Die Chlysten töten also keine »reinrassigen« Katholiken, sondern Freimaurer! Das Ganze war also nichts anderes als ein teuflischer Sektenkrieg, und ich befand mich mittendrin!

Natürlich stellte sich mir die Frage, was es mit dem Mord an Davids Sohn auf sich hatte. Hatte er sich möglichweise ebenfalls den Freimaurern angeschlossen? Wollte er Davids Pläne vereiteln? Weiterhin stellte ich Überlegungen an, was es mit dieser Spionagegeschichte der Freimaurer auf sich hatte. Möglicherweise war ich für die nur eine weitere Schachfigur, um ihre Sache voranzutreiben, wie Parker es vortrefflich ausgedrückt hatte. Sie schienen immer wieder Leute zu rekrutieren oder nahmen jemanden aus den eigenen Reihen und schickten sie als Versuchskaninchen vor, ähnlich den Ratten, die ihre Kinder vorschicken, um das Gift zu fressen. Und jedes Mal, wenn etwas schiefging, brauchten sie erneut einen Dummen, der die Drecksarbeit für sie erledigte. Meiner Meinung nach sollte man sie alle töten!

Natürlich war ich mir sicher, dass die Chlysten ihren Rasputin wieder zum Leben erwecken wollten. Sie schienen zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen, indem sie ihre Feinde töteten und zeitgleich ihre teuflischen Rituale vollzogen. Und ich konnte mir denken, dass diese Scheiße jedes Mal so ablief. Die Chlysten kämpften gegen die Freimaurer, obgleich mir der Grund dafür schleierhaft war. Doch es gab einen Anhaltspunkt, den ich mir nur zu gern ins Gedächtnis rief: Parker hatte etwas über diesen seltsamen Kult in Südamerika erzählte, dessen Anhänger alle auf mysteriöse Weise umkamen, und er nannte mir den Grund für deren Tod: Illoyalität! Die Chlysten scharten so viele Mitglieder um sich, wie sie nur bekommen konnten, und sollte irgendetwas nicht nach Plan laufen, so wurden sie beseitigt. Nur schien mir, dass dieser Krieg hier nicht in einer einzigen Schlacht ausgetragen werden konnte, sondern sich über Jahre hinzog und noch lange nicht beendet sein würde. Möglicherweise unterschätzten die Chlysten die Freimaurer und erhofften sich durch die Ankunft ihres Messias Rasputin einen endgültigen Sieg. Verflucht, ich wollte hier weg!

Insgeheim hoffte ich natürlich, dass all dies nur Spinnereien von mir waren, doch ich vermutete, mein Instinkt offenbarte mir ein weiteres Mal die bittere Wahrheit. Meine Gedanken waren immer noch dunkelrot genug, um die Freimaurer als Feinde anzusehen!

Mit einem Gefühl von extremem Unbehagen kehrte ich in die Fahrerkabine zurück und fuhr los. Ein letzter Blick in den Rückspiegel zeigte mir den Norden, und Gedanken an eine Flucht wurden wach. Ich brachte den Wagen noch einmal zum Stehen und wusste nicht, wie ich nun vorgehen sollte. Ich bräuchte nur umzudrehen, um dem Dalton Highway in Richtung Polarmeer zu folgen und nach Prudhoe Bay zu fahren. Dort gab es einen kleinen Flughafen, der mich nach Kanada bringen konnte. Am Benzin sollte es nicht liegen. Parker hatte das Fahrzeug vollgetankt und bis nach Dead Horse kam ich mit dieser Tankfüllung bestimmt. Verdammte Scheiße!

Doch trotz meines törichten Wunsches, von hier zu fliehen, gab ich Gas und blieb auf dem Südkurs. Es gab einfach zu viele Dinge, die mich hier festhielten: Elsa, die Chlysten und der Wunsch, endlich Licht in die Dunkelheit zu bringen. Mein Plan war somit, diese Leiche nach Crimson zu befördern und gleich danach an einen Ort zu fahren, der mir ein wenig mehr Gewissheit geben konnte, auch wenn dieser Gedanke nur aus einem fadenscheinigen Hoffnungsschimmer bestand: Die alte Tanner-Farm!

Die Fahrt auf dem Dalton Highway verlief relativ reibungslos, wenn man diese tödliche Abgeschiedenheit außen vor ließ. Einzig und allein quälten mich noch so einige Überlegungen, aus denen ich nicht schlau wurde. Die Hauptfrage war selbstverständlich, wie Duncon in die Loge der Freimaurer gelangt war. Natürlich gab es den irrsinnigen Hinweis auf die Boten Gottes, doch trotz allem war das für mich äußerst schwer nachzuvollziehen, auch wenn wir Menschen nicht alles über unsere Galaxis wissen. Möglich war alles, und die Einstellung, nur an das zu glauben, was man sieht, bezeichne ich als eine stupide und einfältige Lösung für jemanden, der nicht einmal weiß, wie man IQ buchstabiert. Dennoch schien mir diese Aktion fast schon zu offensichtlich für einen Beweis der Existenz einer höheren Lebensform. Warum sollte Gott es nötig haben, Wunder zu wirken? Wenn er wollte, dass alle Menschen an ihn glaubten, so könnte er mit den Fingern schnippen, und alles wäre nach seinem Willen, als sei es nie anders gewesen. Nein, er benötigte diese Art von Wunder nicht. Anders ausgedrückt, wäre dies absolut langweilig, demnach muss es auch Ungläubige geben. Ebenso gibt es genügend »Wunder«, die die Ungläubigkeit nahezu schüren. Immer wieder kam mir das Gespräch mit David in den Sinn, als er etwas von den Kinderschändungen im Namen der Kirche erwähnte. Gott, welch grauenvolle Teufelei! Man sollte sie alle hängen! Doch wenn ich darüber so nachdachte, so konnte ich mich danach gleich zu ihnen gesellen, ich wäre dann ebenso kein Deut besser. Gleiches mit Gleichem zu vergelten, konnte nicht der richtige Weg sein.

Die nächtlichen Stunden auf dem Dalton Highway vergingen langsam. Der andauernde, leichte Schneefall erschwerte die Fahrt extrem, und es gab so einige Situationen, bei denen ich beinahe von der Fahrbahn abgekommen wäre. Doch das Glück spielte in meiner Liga.

Endlich konnte ich auf der anderen Seite der Straße das Highway-Schild entdecken, welches ich bei der Alaska-Pipeline gesehen hatte, als ich kurz ausgestiegen war. Jetzt war es nicht mehr allzu weit.

Plötzlich kam mir Sam Teasle in den Sinn. Ich konnte mich seltsamerweise an jeden Gesprächsfetzen mit ihm erinnern, angefangen bei meiner ersten Begegnung mit diesem rauen Gesellen, und meiner Erkenntnis, weshalb Teasle so mürrisch und abweisend gewesen war. Doch schlagartig wurde es mir flau im Magen, denn mir fiel ein ganz bestimmter Satz von ihm ein, der meinen Blutdruck zum Ansteigen brachte. Als ich ihn damals fragte, wo es zur Yukon Street ginge, und er mir darauf antwortete, dass er mich dorthin begleiten würde, hatte er noch etwas anderes erwähnt: »Versuchen Sie, in der Spur zu bleiben, man rutscht hier so verdammt schnell, und ich habe mein Abschleppseil bei den Tanners vergessen.«

Bei den Tanners? Hatte er etwa die alte Tanner-Farm gemeint oder gab es noch andere Leute, die ebenso hießen? Mir erschien ein solcher Zufall völlig unwahrscheinlich, und ich versuchte, seine Aussage zu analysieren. Entweder war dies nur so dahingesagt gewesen, oder er hatte tatsächlich die Wahrheit gesagt. Aber wozu brauchte er in diesem zerfallenen Gebäude ein Abschleppseil? Ich überlegte einen Moment, bevor sich meine Verdächtigungen erhärteten.

»Verflucht«, stieß ich aus und schlug auf das Lenkrad. Ich konnte mir denken, dass das Seil für ihn selbst bestimmt war. Damals, als ich ihm das erste Mal begegnet war, war er auf dem Weg in die Stadt gewesen, zu einer Anhörung, für die wahrscheinlich Fender die Verantwortung trug. Ich konnte mir gut vorstellen, dass Teasle langsam die Schnauze voll von all dem hatte und den Gedanken hegte, sich selbst zu richten, nachdem er aus Fairbanks wieder einmal als Verlierer heimgekehrt war. Er sah vielleicht keinen Sinn mehr darin, gegen all dies zu kämpfen und ständig auf der Verliererseite zu stehen. War Teasle nun doch schon tot? Ich beruhigte mich wieder, denn allem Anschein nach hatte er diesen Schritt noch nicht gewagt. Die Begegnung damals im Schnee bestätigte diese Vermutung. Aber selbst wenn er es danach vollzogen hätte, würde ich definitiv zu spät dort eintreffen, um ihn davon abzubringen. Oder irrte ich mich? Das Wörtchen »vielleicht« übte in diesem Kontext mehr Macht auf mich aus, als ich vermutet hätte.

Je näher ich nach Fairbanks kam, wodurch zwangsläufig der Meilenabstand nach Crimson sank, desto mehr spürte ich ein seltsames inneres Gefühl, das mir zu verstehen gab, dass nicht ich wichtig war, sondern die Gemeinschaft. Mir kam es so vor, als wäre ich völlig unbewusst fest in einem Kollektiv integriert und konnte mir nicht erklären, weshalb dieses Gefühl erst jetzt wieder so stark wurde. Es fühlte sich an, als wäre ich erneut in den Einflussradius der Chlysten vorgedrungen und müsste mich ihnen nun wieder beugen. Es fiel mir nicht schwer.

Endlich erreichte ich das Schild, auf dem »Fairbanks« zu lesen war. Dahinter stand eine Zahl, die man akzeptieren konnte: 47! Nur noch siebenundvierzig Meilen! Ich stellte das Radio an, um mich etwas abzulenken. Es dauerte einige Minuten, bis ich einen Sender fand, auf dem ein Lied zu hören war, welches mich tatsächlich auf andere Gedanken brachte. Der Song war »Benson Arizona« von John Yager. Ich konnte mich gut an John Carpenters Film »Dark Star« erinnern, bei dem das Lied zum Soundtrack gehörte. Welche Ironie, wenn man den Filmtitel etwas genauer unter die Lupe nahm, was die Wortwahl in Bezug auf meinen Namen anging. Nach diesen ganzen Ereignissen war ich tatsächlich der Star dieser kranken Geschehnisse. Ich sang laut mit, während ich mich Fairbanks weiterhin näherte. Eine leichte Melancholie überkam mich, da ich wusste, dass einer dieser alleingelassenen Astronauten im Film eine mysteriöse Reise mit den sogenannten Phönix-Asteroiden antrat und für immer mit ihnen im Weltraum verschwand. Gerne hätte ich jetzt seinen Platz eingenommen!

Als ich schließlich Fairbanks erreichte, war es bereits sechs Uhr morgens, aber immer noch stockfinstere Nacht. Ich war froh über diese Tatsache. Die Dunkelheit war wie ein Schleier, der mich unsichtbar werden ließ und mich ungehindert auf die Interstate 3 führte. Es war kein Mensch unterwegs, natürlich, es war ja auch der erste Weihnachtsfeiertag. Noch nicht einmal ein Cop war zu entdecken, und so raste ich über sämtliche roten Ampeln. Wenn ich ehrlich war, wollte ich das schon immer einmal machen, ohne dass ich mich in einem polizeilichen Einsatz befand. Es war berauschend, das Gesetz zu übertreten!

Auf meinem Weg zur Yukon Street überkamen mich erneut Gefühle wie ein Déjà-vu, und sie erinnerten mich an meine erste Begegnung mit dieser Straße, die mein Leben vollständig verändert hatte. Nichts war mehr so wie am Anfang. Ebenso war mein Gemüt mit einem Hauch von Freude behangen, weil ich mich den Dunkelroten verdammt nahe fühlte. Die Sicherheit, die sie mir gaben, war unbeschreiblich, und ich nahm an, dass sie nicht wussten, welchen Rückhalt sie mir gaben, auch wenn ich David, trotz meines guten Willens, nicht ausstehen konnte. Ebenso war die Liebe zu Elsa stark, selbst wenn wir bisher nicht viel voneinander hatten. Doch ich war bereit, dies zu ändern, uns die Möglichkeit zu geben, einander zu respektieren, uns zu verstehen und letztendlich mir meinen Stachel namens Cynthia ziehen zu lassen. Ich fühlte mich frei mit diesem Gedanken, und der direkte Weg in das Tor der unermesslichen Freiheit war dunkelrot!

Ich folgte der verschneiten Straße immer weiter, erreichte schließlich die Yukon Street, durchquerte New Rock und passierte die Schranke der letzten Grenze, wobei ich immer einen Blick in den Rückspiegel warf, um zu sehen, ob mich jemand verfolgte. Doch ich war der einzige Reisende, dessen Schicksal nicht mehr von ihm selbst bestimmt wurde.

Die Zeit schritt schnell voran, immer weiter in den Tag hinein, doch vom Sonnenlicht fehlte jegliche Spur. Die Dunkelheit hatte hier das Sagen. Langsam bemerkte ich, wie der Treibstoff zur Neige ging, doch ich hoffte, dass er mich wenigstens noch ans gewünschte Ziel bringen würde: Mitten ins Zentrum von Crimson.

Meine Geschwindigkeit näherte sich der Hundert-Meilen-Grenze, und das bei diesen Straßenverhältnissen, doch ich war nicht aufzuhalten und es schien, als hielten die Chlysten eine schützende Hand über mich. Welch göttlicher Segen!

Endlich erreichte ich Crimson. Ich bemerkte erst einige Zeit später, dass ich an meinem Bungalow vorbeiraste – nicht eher, als der alte Brunnen des Marktplatzes bereits in Sichtweite vor mir auftauchte, inmitten einer düsteren Nacht, umgeben vom Nebel meiner eigenen Vergangenheit, der immer dichter zu werden schien.

Als ich ausstieg, bot sich mir derselbe Anblick wie eh und je, wenn ich in diese Siedlung fuhr: Nichts rührte sich. Sie glich einer Stadt, die den Toten geweiht war, und trotz meiner inneren Einstellung, den Dunkelroten hörig zu sein, überkam mich eine geisterhafte Stimmung.

Mit Mühe wandte ich meine Blicke von diesen alten und stumm dastehenden Häusern der Amish ab und widmete mich der Leiche. Mit äußerster Präzision und doch mit rasender Eile wickelte ich den Toten wieder in die Tücher ein, hob ihn mit einiger Mühe an, und legte den leblosen Körper nahe des Brunnens ab. Schweißperlen bildeten sich auf meiner Stirn, und diese Szenerie erinnerte mich an den Film »Das Blutgericht der reitenden Leichen«, in dem die Frauen des Dorfes jede Nacht ein Opfer darbringen mussten, um die verstorbenen und vom Teufel verfluchten Tempelritter zu besänftigen. Mich schüttelte es.

Ich schloss die Luke an der Ladefläche meines kleinen Trucks und sicherte sie mit dem Bolzen, als ich plötzlich aus einiger Entfernung etwas wahrnahm, was mir äußerst bekannt vorkam. Vor einigen Tagen war etwas Ähnliches geschehen: Fackellichter aus der Ferne! Ich schärfte meinen Blick, rieb meine Augen mit den Fingern, und erkannte, dass es sich wohl um einige Dutzend Chlysten handeln musste. Sie bewegten sich schnell auf die Siedlung zu.

Ich spielte mit dem Gedanken, rasch in meinen Bungalow zurückzukehren, meinen dunkelroten Kapuzenmantel anzuziehen, und mich ihnen sofort anzuschließen, doch seltsamerweise durchbrach ein weiterer Gedanke diesen Plan: Sam Teasle! Diese Überlegung war dermaßen stark, dass ich sogleich mein Vorhaben wieder verwarf, mich schnell in den Wagen setzte und rückwärts fuhr. Die Chlysten würden bestimmt das Opfer finden, und ich konnte es kaum fassen, wie perfekt das Timing passte. Selbstverständlich hätte dies nur ein Zufall sein können, doch was hatte Bileam vor Kurzem darüber gesagt? Bei den Chlysten gab es keine Zufälle!

Mit einem letzten Blick auf das Zentrum der Siedlung ließ ich den Wagen mit einem gekonnten Manöver kehrtmachen und raste in Richtung Nordosten, direkt hinaus in die Wildnis, der Tanner-Farm entgegen. Es war so, als würde Sam mich rufen.

In meinem Rückspiegel sah ich noch einige Minuten lang den Schein der Fackeln, während mich die Wehmut packte. Ich wusste, dass ich im Grunde dorthin gehörte, doch ein kleiner Funken von einem Feuer, das eigentlich schon lange ausgegangen war, trieb mich dazu, einen anderen Weg zu gehen. Ich wollte Sam noch einmal begegnen, bevor ich mich dann endgültig von diesem Leben als Jake Dark verabschieden würde. Ich war mir sicher, dass ich Sam auf der Tanner-Farm antreffen würde.

Plötzlich trat ich stark in die Bremsen. Meine Scheinwerfer leuchteten etwas an, das mich abrupt aus meinen Gedanken riss. Genau konnte ich es nicht erkennen, denn dafür war das Objekt zu weit entfernt, doch die Umrisse waren zu eindeutig, um daran zu zweifeln. Erneut rieb ich meine Augen, beugte mich ein wenig nach vorn und war mir nicht sicher, ob es sich soeben bewegt hatte. Ich sah mich ein paar Mal um, erkundete die Landschaft und war mir sicher, dass dies der Weg zur verlassen Farm war. Wieder glitten meine Blicke nach vorn. Das grelle Licht des Wagens zeigte etwas, das den Beschreibungen von Angehörigen der Opfer verdammt nahe kam: Eine menschenähnliche Gestalt, an der ich zwei Schwingen zu erkennen glaubte. Ich konnte kaum glauben, was ich dort sah. Ich brauchte Gewissheit! Langsam drückte ich aufs Gaspedal, näherte mich diesem Geschöpf und fühlte, wie sich in mir etwas veränderte. Ich spürte, wie ich einer Schuld näherkam, der ich mir nicht bewusst war, ja, die ich noch nie empfunden hatte. Ich stoppte den Wagen.

»Was tust du da eigentlich, Jake?«, fragte ich mich. Mir wurde nun schlagartig bewusst, was für ein Sünder ich war. »Du bist ein Mörder«, sagte ich. »Ein Mörder, und ein Verräter Gottes!«

Ich schloss die Augen. Mein Inneres schien an dieser Tatsache zu zerbrechen. Diese Schuld, welche ich mir aufgeladen hatte, konnte durch nichts je wieder abgetragen werden. Die Reue, die nun folgte, ließ mir die Tränen nur so fließen, und meine Gedanken richteten sich an Gott, obgleich ich mir sicher war, dass er mich verstoßen hatte. Mein Weg führte mich nun in die Hölle!

Die Gewissheit, wie lange ich hier gestanden hatte, blieb mir verwehrt, doch es schien so, als wären meine Gedanken etwas freier, als wäre ich aus einer bedrückenden Trunkenheit erwacht und ein wenig nüchterner. Meine Hände zitterten, und auch mein gesamter Körper schien dieser psychischen Belastung kaum noch standzuhalten. Selbst mein Blick in den Spiegel bestätigte die Tatsache, dass mein Gesicht deutlich gekennzeichnet war: Es war schmutzig, meine Bartstoppeln wurden immer länger, und die rot unterlaufenen Augen wurden durch die prägnant erkennbaren Tränensäcke bestens geschmückt. Ich sah aus wie ausgebrannt, und so fühlte ich mich auch.

Als ich endlich aus meinem Selbstmitleid erwachte, dachte ich sofort wieder an die Gestalt vor mir. Ich schien sie doch tatsächlich kurz vergessen zu haben, doch ein weiterer Blick ließ mich nur einen aufgetürmten Schneehaufen erkennen, der sich durch den eisigen Wind an einem alten und knorrigen Baum aufgetürmt hatte. Ich war mir sicher, dass mein psychischer Zustand der Grund für dieses eingebildete Trugbild war. Aber ich hätte schwören können …

Ich fuhr weiter mit dem Bestreben, endlich die Tanner-Farm zu erreichen, was mir dann nach einigen Meilen auch gelang.

Einige Minuten später befand ich mich direkt vor der morschen Eingangstür des verfallenen Gebäudes, und Erinnerungen an die Begegnung mit den beiden KGB-Agenten kamen hoch. Kurz schüttelte es mich. Ich hörte für einen Moment das Geräusch der Projektile, welche mir damals um die Ohren geflogen waren. Zu jener Zeit hatte ich gedacht, dass mein letztes Stündchen geschlagen hätte. Die Frage, wo sich Dimitrij jetzt aufhielt und wann er wohl herausfinden würde, dass ich der Mörder seiner Frau war, belastete mich. Ich atmete schwer aus.

Die Tür knarrte, als ich eintrat. Sofort erkannte ich die Umgebung wieder, es schien so, als ob ich mir seit meinem letzten Eindringen in die von Würmern zerfressene Holzhütte alles eingeprägt hatte. Der Staub rieselte immer noch von der Decke herab, und nicht weit von mir entfernt erkannte ich die morsche Treppe, die nach oben führte. Zum Teufel auch, ich spürte jetzt mehr Angst als vor ein paar Wochen.

Die Stufen zu erklimmen war eine innere Qual. Jetzt fehlte nur noch ein großes, hölzernes Kreuz, und der Weg zum eigenen Tod wäre perfekt gewesen.

Meine Blicke tasteten sich an den Stufen entlang, konnten aber diesmal keine Sohlenabdrucke erkennen. Der Staub war womöglich nachträglich entfernt worden.

Oben angelangt bot sich mir derselbe Anblick wie beim letzten Mal, und selbst die Türen waren in der exakt gleichen Position. Die Stille, diese Atmosphäre und selbst mein innerer Drang, so schnell wie nur möglich diese Bruchbude zu verlassen, waren unverändert. Ich war kurz davor, meinem Verlangen nachzugeben, doch ein Geräusch hielt mich davon ab: Das Klicken des Abzugshahns einer Waffe hinter meinem Ohr.

»Ganz ruhig, mein Freund. Hände hinter den Rücken und keine falsche Bewegung, sonst machst du Bekanntschaft mit einem meiner sechs Freunde hier, die alle schneller laufen können als du.«

Es war Teasles Stimme, auch wenn sie sich etwas geschwächt anhörte, so als wäre er außer Atem.

»Schon gut, Sam, ich bin es! Jake!«

Ein harter Schlag auf den Hinterkopf ließ mich zu Boden fallen. Kurz konnte ich noch hinter mich blicken und Sam erkennen, bevor ich schließlich bewusstlos wurde. So ein Mist!


Als ich langsam meine Augen wieder öffnete, befand ich mich in einem Raum, der allem Anschein nach ebenfalls Teil der Tanner-Farm war. Die Einrichtung erinnerte stark daran, dass alles dem Zerfall sehr nahe stand. Ich erkannte Mister Teasle, der etwas auf einem kleinen Gaskocher in einem Topf zum Kochen brachte, vermutlich Tee, dem Geruch nach zu urteilen.

Mein Hinterkopf schmerzte und als ich ihn mir reiben wollte, bemerkte ich verdammt schnell, dass meine Hände hinter dem Rücken gefesselt waren. Es fühlte sich an, als wäre die Quelle dieser unangenehmen Einschränkung ein dickes Seil.

»Na, wieder munter?«, grinste Sam, während er in seinem heiß gemachten Tee rührte. »Der Schmerz lässt schnell nach, glaub mir, ich spreche aus Erfahrung.«

»Weshalb bin ich gefesselt? Vertrauen Sie mir nicht?«

»Ehrlich gesagt, Jake, vertraue ich niemandem mehr. Diese Zeiten sind ein für alle Mal vorbei, also sieh dich nicht als etwas Besonderes an. Ich hätte jeden gefesselt, der mir hier über den Weg gelaufen wäre.«

»Aber die KGB-Agenten haben Sie laufen lassen!«

»Oh«, gab er von sich, wobei er kurz nach oben sah, so als würde er in seiner Erinnerung schwelgen. »Ja, du hast recht, Jake, aber das waren auch andere Umstände. Die beiden zählen nicht.«

Ich richtete mich auf und lehnte mich sitzend an die Wand hinter mir.

»Also hatte ich doch recht«, sagte ich und sah zu Boden.

»Recht? Womit?«

»Ich habe es mir gleich gedacht, dass Sie es sind, der hier haust.«

»Haust? Jake, deine Wortwahl lässt wirklich zu wünschen übrig, ich finde es hier äußerst komfortabel. Ich habe hier meine Ruhe, es gibt keine Post, kein nerviges Telefon, eine hübsche Holzverkleidung; ich bin doch fein raus, nicht wahr?«

»So kann man es auch sehen«, erwiderte ich abwertend.

»Aber ich kann dich beruhigen, Jake, ich wusste ebenfalls, dass du dich hier aufgehalten hast, und ebenso habe ich dein ernüchterndes Gespräch mit diesen russischen Affen hier oben belauscht. Ich war gleich nebenan, und ich muss dich loben, du hast dich wirklich gut geschlagen.«

»Danke«, antwortete ich, wobei ich ihm zu verstehen gab, dass ich seinen Sarkasmus deutlich verstanden hatte. »Dennoch machen Sie diese Umstände zu einem Verdächtigen, Teasle. Während wir hier oben waren, hätten Sie mit Leichtigkeit hinunterschleichen und die Leiche, die wir im Wagen von diesen Russen fanden, dort unten platzieren können.«

Teasle sah mich an, als wollte er mir sagen, dass diese Theorie eine der lächerlichsten war, die er je vernommen hatte. Dass er recht behielt, wusste ich wohl am besten. Dennoch war es mir wichtig, dies auszusprechen, denn vielleicht konnte ich damit den Verdacht von mir ablenken. Ich nahm stark an, dass, wenn Teasle gewusst hätte, dass ich der Mörder war, seine »sechs Freunde« vermutlich schneller bei mir gewesen wären, als ich es für möglich gehalten hätte.

»Und was passiert jetzt?«

»Was jetzt geschieht, hängt allein von dir ab. Ich habe den Eindruck, dass deine Laufbahn ebenso beendet ist wie meine oder die von Brauner. Somit bist du nun ein Zivilist. Das bedeutet, dass ich dir Fragen stellen kann, ohne dass du an deinen Eid als Polizist gebunden bist. Ich verlange, dass du mir aus diesem Grund keine Lügen erzählst, verstanden? Und glaub mir, wenn ich dir sage, dass ich den Unterschied zwischen Wahrheit und Lüge bestens kenne. Also verarsch mich nicht, Jake!«

Teasle war einer der Männer, die man nicht belügen konnte. Das war mir selbst damals nicht gelungen, als ich ihn zum ersten Mal auf der Interstate begegnet war und er mir gehörig auf den Sack ging. Ich konnte nur hoffen, dass er mich nicht zu intensiv über die Chlysten ausfragen würde.

»Ich hätte aber auch so einige Fragen. Zum Beispiel wie Sie auf diese verfluchte Idee kamen, mir einen Mord anzuhängen.«

Teasle wirkte überrascht und er nickte.

»Ich wäre beinahe in einem Gefängnis gelandet, Sie Bastard.«

»Parker hat wohl gesungen, nicht wahr?«

»Nun ja, er ist jemand, der einem Hilfe anbietet, einen nicht fesselt und einem nicht die Rübe einschlägt«, antwortete ich zornig.

Teasle grinste leicht. »Es war seine Idee, Jake, ich war nur der ausführende Produzent, wie es so schön in Filmen heißt.«

»Aber Sie wollten doch untertauchen, nicht Parker.«

»Das stimmt allerdings, dennoch hatte ich, ehrlich gesagt, keine Ahnung, wie ich das anstellen sollte. Parker hatte die zündende Idee. Außerdem, denk doch einmal scharf über die Frage nach, wo du jetzt lieber wärst: In einem Staatsgefängnis, behütet von Wachleuten oder hier, in all dieser Scheiße?«

Ich gab zu, die Antwort fiel mir etwas schwer, wobei mir der Drang zu den Chlysten sie etwas erleichterte. Dennoch verstand ich sein Handeln. Ich wusste ja schon von Parker, dass er mich »retten« wollte.

»Ich habe Ihren Hinweis erhalten, samt dem Hämatit.«

Teasle nickte. »Ja, der Blutstein. Leider spielt dieser Umstand keine Rolle mehr, die Sache verlief anders, als ich geplant hatte, nun ja, einen Versuch war es wert. Haben Sie es noch jemand anderem gezeigt?«

»Nur Mister Dohan.«

»Martin«, sagte er nachdenklich und lächelte. »Ein guter Junge, dieser Martin. Wie geht es ihm?«

»Nun, ich habe ihn schon eine Weile aus den Augen verloren, doch damals lief er herum wie ein verschrecktes Eichhörnchen. Wie soll es auch jemandem gehen, der absolut nichts von solchen Verschwörungen und Leichen hält und trotzdem dauernd damit konfrontiert wird. Ich habe versucht, ihn etwas zu schonen, dennoch war ich froh, ihn auf meiner Seite zu haben. Nur dieses Arschloch namens Fender schüchterte ihn immer wieder ein.«

»Dem verpass ich auch noch eine Kugel«, flüsterte Teasle.

»Aber lassen Sie mich den Abzug betätigen«, konterte ich, wobei ich zu erkennen glaubte, dass ihm meine Aussage sympathisch vorkam, denn als er mich überrascht ansah, blitzten förmlich seine Augen.

»Wo haben Sie diese Blutsteine gefunden?«, führte ich die Konversation fort. »Ich meine, das Zeug wächst ja nicht auf den Bäumen, obwohl man das annehmen könnte, so oft wie es mir in letzter Zeit in die Hände gefallen ist.«

Teasle lächelte wieder. Er griff in seine Jackentasche und holte dort einige solcher Kristalle hervor. »Doch, du hast schon recht, Jake. Wenn man so will, gibt es sie hier zuhauf.«

»Lassen Sie mich raten, Teasle: Es stammt aus einer dieser Minen, nicht wahr?«

Sam nickte, und ich erkannte in seinem Gesichtsausdruck eine Art von Melancholie, so als würde er diese Tatsache mit etwas verbinden.

»Ja, die Minen«, wiederholte er leise. Dann schwieg er.

Ich konnte mir nicht sofort einen Reim darauf machen, weshalb Teasle plötzlich so seltsam still wurde. Meine jetzige Situation war auch nicht gerade die, welche man als gemütlich bezeichnen konnte und für eine konzentrierte Überlegung kaum förderlich, jedoch schien mein Gehirn in letzter Sekunde doch noch etwas Brauchbares hervorgebracht zu haben, was Teasle dazu ermutigte, zorniger zu werden. Nun ja, besser als gar keine Reaktion!

»Dort haben Sie Brauner zum letzten Mal gesehen, richtig?«

»Halt deine Klappe, Jake. Du hast doch von nichts eine Ahnung. Ich hätte dich erschießen sollen, als ich die Gelegenheit hatte!«

»Ich gehe davon aus, Sie sprechen von unserer Begegnung im Schnee, als meine Männer die weibliche Leiche entdeckt haben, oder irre ich mich?«

»Deine Männer«, wiederholte er abwertend und gab mir zu verstehen, dass es sich nach seiner Meinung um seine Leute handelte.

»Und weshalb taten Sie es dann nicht? Wieso gaben Sie mir meine Waffe zurück und haben mich nicht einbuchten lassen, so wie es von Ihnen und Parker teuflisch geplant worden war?«

»Glaub mir, Jake, das habe ich versucht. Doch selbst die versteckten Hinweise, die ich unserem Herrn Oberstaatsanwalt zukommen ließ, bewegten den Mann nicht dazu, sie gegen dich zu verwerten und dir den Prozess zu machen. Nein, Fender nutzte jede Gelegenheit, diese Beweise wieder verschwinden zu lassen, als wäre er auf deiner Seite, Jake. Doch das war schwer nachzuvollziehen, obwohl ich es am Anfang angenommen hatte. Aber es gab keinen einzigen Beweis dafür, dass du mit ihm unter einer Decke stecktest. Selbst als ich mich nachts in seinem Büro umgesehen habe, konnte ich keinerlei Hinweise für die Existenz solch einer Verbindung erkennen. Es scheint mir, dass du eine besondere Rolle in deren Welt spielst. Doch wenn ich mir jetzt dein Gesicht so ansehe, nehme ich an, dass du ebenso keinen blassen Schimmer davon hast, welche das sein sollte.«

»Aber Sam …, ich darf Sie doch Sam nennen?«

»Nein!«, fuhr mich Teasle an, und ich stockte einen Moment. Ich bemerkte, wie mein Adrenalinspiegel in Richtung einer Bergspitze kletterte, konnte mich aber noch im letzten Augenblick beruhigen und führte meinen Gedanken zu Ende.

»Sie scheinen für die ebenso etwas Besonderes zu sein.«

»Wie kommst du darauf, Jake?«

»Nun, das Erste was dafür spricht, ist die Tatsache, dass Sie noch am Leben sind. Es mag sein, dass Sie es denen nicht allzu leicht gemacht und alles perfekt durchgeplant haben, doch ich glaube keineswegs daran, dass man das als die wahren Gründe bezeichnen kann. Sie wissen ebenso gut wie ich, dass es nahezu unmöglich ist, den Chlysten zu entfliehen. Korrigieren Sie mich, falls ich mich irren sollte. Und an einen Zufall glaube ich nicht.«

Teasle wurde plötzlich hellhörig, als er das Wort »Chlysten« aus meinem Mund vernahm. Außerdem schien er an meiner Theorie interessiert zu sein, auf die ich erst vor einigen Augenblicken gekommen war.

»Und zweitens?«, drängte er.

»Zweitens gab es ein Ereignis, welches mich zu dieser Erkenntnis regelrecht hingeführt hat, eine Art von Wegweiser.«

»Rede, Jake!«

»Gern, nur ohne meine Fesseln könnte ich mich deutlich besser konzentrieren.«

Sam überlegte einen Moment, bevor er sich endlich entschloss, mich aus dieser Misere zu befreien. Nach kurzem Zögern näherte er sich meinem Gesicht. »Mach keinen Scheiß!«, flüsterte er in einem drohenden Ton und sah mich dabei mit seinen stechenden Augen an.

Ich nickte leicht, während er mir die festen Seile durchtrennte. Auch wenn ich es aus dieser Position nicht sehen konnte, mit was er das bewerkstelligte, war es für mich dennoch leicht zu erahnen, da mir mein Instinkt wieder einmal einen klaren Hinweis gab: Es handelte sich um einen scharfen Hämatit-Kristall. Ein leichter Schauer überkam mich, da mich dieser Blutstein an meine eigenen Untaten erinnerte, als ich dem Priester die blasphemischen Initialen in die Haut geschnitten hatte.

Endlich befreit, rieb ich mir erleichtert meine Handgelenke und wartete, bis Teasle wieder hinter dem kleinen Feuer Platz nahm. Er schenkte sich einen heißen Tee ein, wobei er mich nicht auch nur eine Sekunde aus den Augen ließ, als wäre ich ein Raubtier, das man auf Distanz halten musste. Vielleicht hatte er recht. Meine Vergangenheit sprach deutlich dafür. Ebenso bemerkte ich, dass sein Holster, in dem seine sicherlich geladene Waffe steckte, geöffnet war.

»Sprechen wir doch zuerst über die Leiche, die Sie uns untergejubelt haben.«

»Vergiss es, Jake. Du bist dran, zu erzählen.«

»Also gut, Teasle, doch nehmen Sie es mir nicht übel, dass diese Begebenheit unsere Unterhaltung in ein gewisses Vertrauensdilemma führen wird. Spielen wir denn nicht mehr im selben Team?«

Es herrschte eine kurze »Feuerpause«. Ich nannte es deshalb so, weil ich vermutete, dass das nun folgende Gespräch eher einem Wortgefecht als einer ruhigen Konversation gleichen würde. Dafür lagen unsere Nerven zu blank.

Doch völlig unerwartet schien er doch noch aus dem Nähkästchen zu plaudern. Ehrlich gesagt, hatte ich nicht mehr damit gerechnet.

»Der Tote war ein Mitglied der Amish-Gemeinde, den Parker und ich schon eine ganze Weile beschattet hatten«, fing Sam plötzlich an, und ich muss zugeben, dass ich immer noch absolut überrascht war. Außerdem lag die Vermutung nahe, dass er damit zu kämpfen hatte, mir seine Geschichte zu offenbaren. Dennoch war ich ihm dankbar dafür, dass er diese Entscheidung getroffen hatte, obwohl ich mich im selben Moment zu fragen begann, weshalb plötzlich Sam diesen Sinneswandel hatte. Lag es vielleicht an seinem schlechten Gewissen, das ihn quälte, oder eher an den finsteren Gedanken an die Hämatit-Mine? Ich konnte mir keinen rechten Reim darauf machen, doch mein Verlangen nach einer Antwort war groß. Es hätte ja auch ein Trick sein können.

»Parker dachte, wir nehmen uns einen der Amish vor, und lassen uns überraschen, welches Ergebnis unsere Observierung bringen würde. Die Spur führte uns weit in die Wildnis hinaus und wir folgten ihm unauffällig. Doch an jenem Abend ging etwas schief. Als wir uns zu nahe an ihn heranwagten, überfielen uns plötzlich einige Gestalten, deren Identität im Dunkel blieb. Sie trugen allesamt rote Kapuzenmäntel. Wir hatten keine Ahnung, woher sie so schlagartig kamen. Mit Mühe konnten wir uns befreien. Ich musste von meiner Waffe Gebrauch machen, und wir lieferten uns ein Feuergefecht, wobei ich glaubte, viele von denen erwischt zu haben, doch ich wurde eines Besseren belehrt. Es war einfach zu dunkel da draußen im Reservat. Bis auf unseren Amish fanden wir niemanden dort liegen.«

»Im Reservat? Sie meinen das Yukon Reservat? Aber ist das nicht alles Sperrgebiet?«

»Du sagst es. Die Russen haben damals, nachdem dieser Massenmord vor zwölf Jahren stattgefunden hat, eine Zone in Anspruch genommen, die laut den Behörden rechtlich einwandfrei war. Die Russen behaupteten zu jener Zeit, dass der Mörder ein Landsmann von ihnen sei und sie aus diesem Grunde alleine für die Ermittlungen zuständig wären.«

»Ein Russe soll das gewesen sein?« Ich dachte kurz nach, und sofort fiel mir Rasputin ein, dessen Herkunftsland Russland war. Doch ich konnte mir ebenso sicher sein, dass dieser Wandermönch unter der Erde lag, oder besser gesagt in einem verschwundenen Sarg. Jedenfalls vermittelte mir der Bericht definitiv keine schönen Gedanken, und ein unangenehmer Schauer lief über meinen Rücken. Meine Fantasie spielte mir Streiche, die dem Ganzen erneut einen üblen Beigeschmack gaben. Dieser geisterhafte Mönch, dessen Herkunft so mysteriös war wie die Identität seiner Vorfahren, würde mich noch selbst ins Grab bringen.

»So behaupteten die jedenfalls. Wie dem auch sei, unternommen haben sie rein gar nichts, und ihre Tatenlosigkeit ähnelte der damaligen Ermittlungsarbeit vom FBI. Doch inzwischen konnte ich auch feststellen, warum dies alles so abgelaufen war.«

»Fenders Büro?«, fragte ich.

Teasle nickte. »Jedes dieser Schreiben, das damit zu tun hatte, sei es der Einsatz der Staatspolizei oder die Absperrung des Reservats durch die Sowjets, ist von Fender höchstpersönlich abgesegnet worden. Zuerst konnte ich kaum glauben, was ich vorfand, doch schnell wurde mir bewusst, dass ich auf den Fund des Jahrhunderts gestoßen war. Hinter all dem steckte Fender. Leider kann ich bis heute nicht die genauen Hintergründe verstehen, doch ich bleibe an er Sache dran. Kein Mensch wird mich mehr daran hindern, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Doch genug davon, du sprachst von einem zweiten Hinweis?«

»Eben diese Leiche, Teasle. Dass Sie die meisten Leute mit Ihrer Taktik überzeugen konnten, steht natürlich außer Frage, doch einer wurde misstrauisch und ging der Sache nach.«

»Wenn du dich meinst, Jake, das ist in der Tat der Hinweis schlechthin«, erwiderte er ironisch und schüttelte den Kopf.

»Falsch, Sam. Es handelt sich um jemanden, der überhaupt nicht begeistert davon war, dass Sie nicht mehr unter den Lebenden weilten.«

Er horchte auf. »Von wem sprichst du?«

»Bileam!«

»Wer?«

»Bileam, oder wenn Sie es besser verstehen: Brauner!«

Teasle schwieg. Er machte ein Gesicht, als wäre ihm soeben einer dieser Trucks darüber gefahren, die des Nachts über die Interstate rasten. Mir kam es so vor, als ob er zwar wusste, dass Brauner nicht tot ist, aber keinen blassen Schimmer davon hatte, zu wem er mutiert war.

»Was sagst du da, Jake?«, gab er fassunglos von sich, obwohl er sichergehen konnte, dass sich meine Aussage keinesfalls wie aus der Luft gegriffen anhörte.

»Bileam. So nennt er sich jedenfalls zurzeit und ist eine der ganz großen Nummern bei den Chlysten. Ich frage mich, warum Sie mir damals im ›Angel’s Bell‹ weismachen wollten, dass er einem Ritualmord zum Opfer fiel. Was versuchten Sie damals zu verheimlichen? Dass Brauner übergelaufen war?«

»Brauner! Mein Gott, Steve, was haben Sie nur mit dir angestellt?«, fragte er sich, und ich sah ihm eine tiefgreifende Trauer an, die selbst mich beinahe dazu bewegte, Mitleid zu empfinden.

Doch nach einigen Augenblicken des Schweigens sah mir Sam wieder in die Augen. »Ja, Jake, dies war in der Tat meine Absicht. Ich hätte es einfach nicht mit ansehen können, wenn sich diese Aasgeier darauf gestürzt und ich und meine Leute in einem schlechten Licht dagestanden hätten. Aber es ging dabei nicht nur um mich, sondern eher um meine Leute und vor allem um Steve. Ich kannte ihn schon seit meiner Kindheit, er war wie ein Teil meiner Familie, doch als ich sah, wie sich diese Finsternis um ihn sammelte, ging ich fest davon aus, dass ich ebenfalls daran eingehen würde. Er war wie ein Bruder für mich, und half mir damals über eine schwere Zeit hinweg.«

»Und damit man nicht Jagd auf ihn machte, ließen Sie ihn für tot erklären und erhofften sich, die Sache wäre erledigt?«

»Ich gebe zu, dass es äußerst töricht von mir war, das in Betracht zu ziehen, denn es handelte sich keineswegs um das letzte Mal, dass ich ihm begegnete.«

»Natürlich nicht. Brauner legte nun erst richtig los, nachdem er sich wieder seiner wahren Familie angeschlossen hatte und auf Rechnung der Chlysten arbeitete. Somit war Steve der Sohn eines Amish, nicht wahr?«

»Ja, Jake. Als er das Alter erreicht hatte, um sich schließlich zu entscheiden, welchen Weg er gehen würde, die Zeit bis zur sogenannten Übersprengtaufe, entschied er sich für die Welt der Englischen und entschloss sich, mit mir zusammen auf die Polizeischule zu gehen. Er war ein ausgezeichneter Schüler, und wir beide strebten danach, einen hohen Posten als Officer zu erreichen, wenn möglich als County-Sheriffs, wobei ich aber später die leitende Stelle in New Rock bekam. Steve jedoch störte das nicht allzu sehr. Er hielt stets Ausschau nach einem anderen freien Amt als Gesetzeshüter. Er bekam auch einige Angebote, doch er konnte sich nie von seiner wahren Vergangenheit lösen und wollte New Rock nicht verlassen. Der Drang nach seiner Familie war allgegenwärtig. Hier konnte er zumindest in unserer Welt bleiben, und dabei nah bei seiner Familie sein.«

»So wie Sie, nicht wahr?«

»Auf was spielst du an?«

»Darauf, wie Sie über uns ›Nicht-Amishen‹ sprechen: die Englischen. Bezeichnen denn nicht die Amish alle Menschen so, die sich nicht ihrer Überzeugung anschließen? Ebenso sprachen Sie von dieser seltsam benannten Taufe als Jugendliche, deren Bezeichnung ich noch nie vernommen habe und die ein gewisses Know-how voraussetzt. Auch Ihre Aussage, dass er sich zusammen mit Ihnen der Polizeischule angeschlossen hat. Für mich klingt das so, als hätten Sie sich ebenfalls für diese Welt hier entschieden, Mister Teasle, oder sollte ich besser Mister Tanner sagen?«

Ich bemerkte, wie Sams Hände zu zittern begannen, als hätte ich seine Vergangenheit erneut zum Leben erweckt, auch wenn sie noch so weit zurücklag.

»Dieses Versteck hier mag bestimmt einer der Orte sein, an denen man kaum jemanden vermutet, dennoch behaupte ich, dass es kein Zufall ist, dass Sie sich hier verkriechen, wobei ich, wenn ich mir das hier so ansehe, Ihnen recht geben muss, wenn Sie behaupten, hier zu wohnen. Sie kennen diesen Ort nur zu gut, nicht wahr, Tanner?«

»Sei still, Jake!«, rief er wütend, doch ich dachte nicht im Traum daran, aufzuhören. Ich wollte endlich die Wahrheit erfahren!

»Sie kennen sich hervorragend aus, was die Welt der Amish angeht – ihre Bräuche, ihre Glaubensbekenntnisse und Sie wissen alles über ihre Rituale. Ebenso scheint dieses Gebäude ein Teil ihres Lebens gewesen zu sein, da Sie wohl jeden Schlupfwinkel davon kennen. Nicht umsonst konnten Sie mein Gespräch mit diesem Abschaum vom KGB mithören, ohne dabei entdeckt zu werden. Ihr Vater war wohl auch einer der Amish, jedoch lernten Sie ihn erst wirklich kennen, als eines dieser ›Race of Unholy‹ im vollen Gange war, oder irre ich mich? Aber ich glaube, Sie dachten keineswegs daran, Ihrem Vater die Genugtuung zu geben, seine Taten gutzuheißen. Genauso gehe ich davon aus, dass Ihre Mutter und Ihre restliche Familie eine gegensätzliche Meinung vertraten.«

»Lass es endlich ruhen, Jake!«, rief er und sprang auf.

»Nein, Sam, ich denke nicht daran. Ich könnte mir auch gut vorstellen, dass Ihr Vater eines Nachts nach Hause kam, seine Hände vom Morden gezeichnet, zornig auf sein eigenes Fleisch und Blut, sodass er nicht mehr entscheiden konnte, wer nun wirklich seine Feinde waren.«

Sam kam plötzlich auf mich zu und versetzte mir einen dermaßen kräftigen Faustschlag ins Gesicht, dass Blut floss. Eine Wunde klaffte an meinem linken Wangenknochen.

»Schweig!«, schrie er, und ich erkannte in seiner Stimme den stummen Schrei eines Kindes, das mit ansehen musste, wie der fürsorgliche Vater sich in ein Monster verwandelt hatte.

Als er sah, wie ich vor mich hin blutete, glaubte ich in seinem Gesicht eine Art von Reue zu erkennen, als wäre er sich seiner Tat jetzt erst bewusst, und er beruhigte sich etwas: Er atmete ein paar Mal tief durch. Eine lang anhaltende Stille trat ein.


»Es war um die gleiche Jahreszeit wie jetzt «, fing er plötzlich an. »Ich konnte in jener Nacht nicht schlafen, ich hörte meine Mutter bis weit nach Mitternacht weinen, nachdem mein Vater wieder einmal in der Dunkelheit fortgegangen war. Er sprach immer davon, dass er ausziehe, um den Teufel zu bezwingen, doch meine Mutter wollte diese Art von Ausrede nicht mehr akzeptieren, da sie ihn auch anders kannte. Immer wieder versuchte sie, ihn zu überzeugen, dass sein Weg nicht Gottes Wille war, doch er wollte nicht hören. ›Die Zeit ist reif‹, hat er immer wieder gesagt. ›Der Messias kommt erneut auf die Welt, und ich muss den rechten Weg für ihn finden.‹«

Sam schwieg einen Moment, während ich versuchte, die Blutung meiner Wunde mit einem Taschentuch zu stoppen.

»In jener Nacht kehrte dann Vater heim, so wie er es immer getan hatte. Er war noch so stark im Blutrausch, dass er dutzende Male auf meine Mutter einstach, nachdem sie ihn erneut beschimpft hatte. Ich habe alles mit angesehen, und noch heute erwache ich aus meinen Träumen, die mich immer und immer wieder alles von Neuem erleben lassen. Ich sehe sie heute noch in ihrer Blutlache liegen, wenn ich meine Augen schließe. Ich höre sie immer noch wimmern, selbst wenn ich meine Ohren zuhalte. Sie lag einfach nur da, und ich konnte ihr nicht helfen, während sie an ihren Verletzungen elendig zugrunde ging und letztendlich verblutete.

Als ich bemerkte, wie mein Vater zu meiner Schwester ins Zimmer ging, und er einige Minuten später mit dem blutigen Messer sich auch meiner Tür näherte, bin ich schließlich voller Angst durch das offene Fenster geflohen. Ich rannte in die Nacht hinein, durch den kalten Schnee, voller Sorge, dass mich mein Erzeuger verfolgen würde. Ich weiß noch genau, dass ich keine Schuhe trug. Seltsam, nicht? Ich erinnere mich kaum noch an Details, doch an meine fehlenden Schuhe entsinne ich mich noch ganz genau.

Ich lief noch stundenlang durch die tödliche Kälte, meine Füße färbten sich bläulich, so erfroren waren sie, und wie durch ein Wunder fand ich das Elternhaus von Steve in Downfall. Sie nahmen mich auf und bereiteten mir einen ruhigen Schlafplatz. In dieser Nacht fühlte ich nichts mehr in mir, was man menschliche Gefühle nennen könnte. Meine Emotionen waren abgestorben. Einige Monate lang brachte ich kein einziges Wort hervor. Dieses blanke Entsetzen von jener kalten und grauenhaften Nacht hatte mich noch jahrelang in einem eisernen Griff.

Erst viel später erfuhr ich, dass mein Vater sich noch in der gleichen Nacht selbst gerichtet hatte, wodurch mir schließlich bewusst wurde, dass ich als Einziger von meiner Familie übrig geblieben war. Als ich sie damals verlor, war ich erst vier Jahre alt.«

»Dann sind Sie also der Junge, der damals auf mysteriöse Weise verschwand, als bei der Tanner-Farm dieses bestialische Verbrechen stattgefunden hat?«

»Ja, Jake. Die Brauners wussten selbstverständlich über die Morde Bescheid, was mir leider erst viel später klar wurde. Dennoch beschützten sie mich vor den Behörden und vor einigen Reportern, die damals hier umherschwirrten. Natürlich gebe ich zu, dass zu jener Zeit die Paparazzi kaum in dem Ausmaß vorzufinden waren, wie es in der heutigen Welt üblich ist. Diese Fluten von Medien gab es vor vielen Jahren noch nicht, ebenso wenig die schriftlichen Meldepflichten, was für mein Untertauchen bei den Brauners äußerst dienlich war. So schirmten sie mich völlig ab, und allmählich wuchs Gras über die Sache.

Einige Jahre später änderte ich schließlich meinen Namen auf ›Teasle‹ und erhoffte mir dadurch, meine Vergangenheit endlich auf sich beruhen lassen zu können. Wie man sich doch irren kann. Ich bin nichts weiter als ein naiver, alter Narr!«

»Ich verstehe, Sam. Und obwohl Sie wussten, dass die Chlysten diese bestialischen Morde verübt haben, in die Steve verwickelt war, schwiegen Sie wie ein Grab gegenüber den Behörden. Sie schützten ihn, um seinen Namen rein zu halten.«

»Ich liebte ihn wie einen Bruder, Jake!«, erwiderte er voller Hingabe. »Ich weiß selbst, dass seine Taten nicht ungestraft bleiben dürfen, und wenn er das Zeitliche segnen muss, dann soll es so sein, doch wenn dies geschehen sollte, so wird er auf meine Weise sterben und nicht auf eure!«

»Also tauchten Sie unter, um mich loszuwerden, damit ich Ihnen nicht ins Handwerk pfusche, und um Brauner einer gerechten Strafe zuzuführen. Ein gewagtes Spiel, was Sie da treiben, wenn ich daran denke, dass Sie ebenso nur eine Marionette einer weiteren Sekte sind, Tanner!«

»Was redest du da für einen Stuss, Jake? Ich arbeite für mich allein. Lediglich Parker half mir bei meinen Aktivitäten.«

»Ach ja, Parker. Und was ist auf dem Marktplatz geschehen, auf dem das Weihnachtsevent von Fairbanks stattgefunden hat und Sie sich entschieden haben, Ihre Maskerade fallen zu lassen? Ich glaube kaum, dass dort nur Sie und Parker zugegen waren. Dort befanden sich weitaus mehr als nur dieser Einäugige.«

»Das ist lediglich eine geheime Miliz, die mir zur Hand geht. Außerdem ist er ein guter Freund, der genauso über diese Sache denkt. Ich vertraue ihm.«

»Ein toller Freund ist das, der Ihnen verschweigt, dass er einem Bund angehört, dessen Organisation ebenso verdeckt arbeitet wie die Chlysten, und deren Vorgehensweise sich kaum von der der anderen Seite unterscheidet. Ich wäre vorsichtig bei der Benennung der eigenen Freunde.«

»Was versuchst du hier eigentlich? Willst du einen Keil zwischen mich und Parker treiben?«

»Dieser Keil, wie Sie es so vortrefflich nennen, ist bereits vorhanden, nur ist er getarnt, sodass Sie ihn nicht erkennen können. Dennoch hat dieser Pflock, der im Herzen Ihrer sogenannten Freundschaft steckt, einen Namen.«

»Und wie lautet er?«

»Die Freimaurer!«

»Wie bitte? Willst du etwa behaupten, dass Parker einer dieser Freimaurer ist? Das ist doch lächerlich. Außerdem würde diese Tatsache auch nichts ändern.«

»Das ist nicht lächerlich, und die ganze Sache geht noch einen Schritt weiter: Parker ist der Führer einer dieser Logen, die sich die blauen Johannisfreimaurer nennen. Sie alle tragen ein Symbol auf ihrer Haut, welches sie am Fußgelenk verstecken. Das Zeichen eines Winkelmaßes und eines Zirkels, welches mit dem großen Buchstaben G verziert ist.«

»Ich wurde also nur benutzt? Jake, wenn du mich hier auf den Arm nehmen willst, schwör ich dir …«

»Was? Glauben Sie im Ernst, mich kann noch etwas erschüttern? Ich sage Ihnen das alles, weil ich wissen will, auf welcher Seite Sie stehen. Und was würden Sie sagen, wenn ich Ihnen erzählen würde, dass Parker auf eigene Rechnung tätig ist und dass Sie ihm eigentlich nur gerade recht kamen, um seine Sache voranzutreiben?«

»Du warst dort?«

»Und ob. Ich befand mich in einer Loge nahe Slate Creek, und dort habe ich so einiges in Erfahrung bringen können.«

»Warum bist du dort gewesen?«

»Völlig belanglos, Sheriff. Doch an jenem Ort erhielt ich das Wissen, dass sich die Freimaurer im Krieg mit den Chlysten befinden und alles daran setzen, diesen auch zu gewinnen.«

»Das ist doch gut, Jake!«

»Aber zu welchem Preis? Wir sind ihre unwichtigen Schachfiguren, ihre Bauern, welche man opfern kann, da es mehr als genug von uns gibt. Ich sage Ihnen, Sam, ich habe keine Lust mehr, deren Spiel zu spielen.«

»Ich weiß nicht so recht, Jake. Vielleicht ist deren Sache nicht ganz koscher, dennoch bin ich der Meinung, dass sie auf der richtigen Seite stehen, auch wenn ich langsam meine Zweifel daran habe.«

»Ich muss Ihnen noch etwas mitteilen. Ehrlich gesagt, wollte ich das gar nicht, ich dachte, ich könnte Sie davon verschonen, aber nun glaube ich, es ist von äußerster Wichtigkeit, dass Sie davon erfahren.«

Sam runzelte die Stirn. Ich erkannte in seinen Augen, dass er sich auf das Schlimmste vorbereitete. Gut für ihn, denn nun setzte ich auf ein anderes Pferd, welches, wie ich glaubte, das bessere war.

»Parker hat Bischof Duncon getötet!«

»Wie bitte? Parker ist ein Mörder? Niemals! Aber selbst wenn, weshalb haben wir ihn dann auf dem Marktplatz in Fairbanks gerettet? Es war seine Idee, Jake, warum sollte er diese Rettungsaktion betreiben, wenn er ihn danach selbst ermordet? Das hätte er auch den Chlysten überlassen können. Das ergibt keinen Sinn.«

»Und ob das einen Sinn ergibt. Es ist wie ein Puzzle, dessen Teile Stück für Stück zusammengefügt werden. Denken Sie einmal an all die Opfer, die die Dunkelroten auf dem Gewissen haben. Glauben Sie ernsthaft, dass diese willkürlich ausgewählt wurden? Nein, Sam, diese Opfer sind allesamt handverlesen. Ausgesuchte, die der Sache dienen. Sagte ich nicht eben, dass es sich hier um einen gnadenlosen Sektenkrieg handelt? Nun, die Chlysten töten ausschließlich Freimaurer.«

»Nein, Emma war kein Freimaurer, da sie eine Frau war. Ich weiß nicht viel darüber, dennoch bin ich mir nahezu sicher, dass Frauen diesem Bund nicht beitreten dürfen.«

»Die Ausnahme bestätigt die Regel, Sam. Sie störte nur deren Pläne. Mit ihr konnten sie mich nicht kontrollieren. Wie dem auch sei, Parker tötete Duncon, da er nicht genau wusste, ob der Bischof dichthalten würde. Er war sich sicher, dass die Chlysten nicht eher Ruhe geben würden, bis dieser lächerliche Bischof im Grab wäre. Und erst nach dieser Rettungsaktion wurde ihm bewusst, dass, wenn Duncon erst einmal erneut in der Gewalt der dunkelroten Armee wäre, Sie ihn dazu bringen würden, auszupacken, den Standort ihrer Loge zu verraten, und dadurch einen herben Gegenschlag zu erhalten. Nein, das konnte er sich nicht erlauben, also ließ er ihn verbluten. Er wurde anscheinend schwer verletzt, nachdem man ihn in der Midnight Church erneut überfallen hatte.«

»Dann war also alles umsonst«, seufzte Sam traurig.

»Nicht ganz. Wir wissen jetzt, dass wir den Freimaurern nicht mehr trauen können.«

»Aber wem sollen wir sonst vertrauen, Jake? Die Liste unserer Anhänger ist kurz.«

»Mir, Sam. Ich will Ihnen helfen!«

Teasle überlegte einen Moment, und ich ließ ihm Zeit, über alles in Ruhe nachzudenken. Bald würde es mir gelingen, ihn auf meine Seite zu ziehen. Es schien so, als ob meine Macht wuchs!

»Sie haben mich noch nicht ganz überzeugt, Jake.«, konterte er. »Ihre Anschuldigungen sind verdammt schwerwiegend, und ich möchte nicht sofort den Leichtgläubigen spielen. Die Zeit wird es zeigen, in Ordnung?«

»Das ist nur fair, Sam.«

In der nächsten halben Stunde sprachen wir kein Wort miteinander. Jeder war in seine eigenen Gedanken vertieft. Die Geräuschkulisse verstärkte die in Spannung gehüllte Atmosphäre ungemein: Das leise Prasseln des Feuers, der eisige Wind, den man leicht durch die morschen Balken vernahm, und das kaum hörbare Schlürfen von Sam, der seinen Tee trank. Ich kam mir vor wie in einem düsteren Western, in dem die beiden Helden die Ruhe vor dem Höllensturm abwarteten.

Gedanken an Elsa überkamen mich plötzlich. Mein Wunsch, sie endlich wiederzusehen, stieg ins Unermessliche. Natürlich hatte ich ab und an Zweifel, ob ich mich nicht in etwas verrannte, doch ich legte diese Unsicherheit rasch wieder ab wie eine schlechte Angewohnheit. Dieses Mal war ich mir meiner Gefühle sicher, und nichts konnte mich in dieser Hinsicht zurückhalten.

»Hatten Sie wenigstens Erfolg?«

»Du meinst wegen Brauner? Negativ!«

»Haben Sie denn nicht versucht, ihn in Crimson zu schnappen?«

»Ja, das habe ich oft probiert, doch das Einzige was ich vorgefunden habe, waren zwei Russen, die mir ständig an den Fersen hingen. Das ging sogar so weit, dass sie auf mich geschossen haben.«

»Zwei Russen, sagen Sie? Woher wollen Sie wissen, dass es sich dabei um Russen gehandelt hat?«

»Nun, ein amerikanischer Polizist schreit nicht andauend seinen Kollegen mit ›Idiot‹ an.«

Ich sah ihn verdutzt an, da ich nicht wusste, was das damit zu tun hatte. Wenn es in all den Jahren als Detective nach mir gegangen wäre, hätte ich dauernd meine Kollegen mit »Volltrottel« angesprochen.

»Nun, die benutzten dasselbe seltsame Wort, welches Arnold Schwarzenegger seinem Kollegen James Belushi in ›Red Heat‹ ständig an den Kopf geworfen hat und was so viel wie Idiot bedeutete.«

»Verstehe«, antwortete ich kopfschüttelnd. Doch ich wusste nun, was er mir damit sagen wollte. Sogleich dachte ich an Dimitrij Saizew und Igor Babrow, und ich konnte mir nicht helfen, doch ich hegte eine Vermutung, die der ganzen Sache einen völlig anderen Hintergrund verlieh.

»Es handelt sich aber schon um die gleichen Typen, welche mich hier vernommen haben, oder?«

»Ja, Jake. Ich frage mich, wen die hier wirklich suchen.«

»Außer der Begegnung hier habe ich die beiden Tunichtgute noch einmal in New Rock angetroffen. Sie erzählten mir von einer alten Legende, die anscheinend der Grund für all diese Morde hier sein soll. Die glauben doch tatsächlich, dass hier ein Geist umhergeht.«

»Ein Geist? Was meinen die damit.«

»Verzeihen Sie, wenn ich jetzt passe, doch um Ihnen das alles zu erklären, fehlt mir die Kraft. Im Groben ging es um einen Mönch, der damals vor dem Ersten Weltkrieg am russischen Zarenhof so einiges getrieben hat. Sein Name war Rasputin. Sagt er Ihnen etwas?«

»Gehört habe ich schon einmal davon, doch was hat dieser Mönch mit den Morden hier zu tun?«

»Laut diesen KGB-Agenten soll er immer noch unter uns weilen, was meines Erachtens völliger Quatsch ist. Jeder weiß von seiner Ermordung. Doch etwas stört mich an dieser Sache.«

Teasle horchte auf.

»Es mag sein, dass sie vom KGB sind, aber ich glaube nicht daran, dass sie sich im Auftrag der Regierung hier herumtreiben.«

»Was macht dich da so sicher, Jake? Es sprechen doch einige Tatsachen dafür. Erstens ihre Ausweise, die ich ihnen vor geraumer Zeit entwendet habe, und zweitens ist nicht weit von hier ein russischer Stützpunkt, am Anfang der Sperrzone.«

»Was? Die haben einen Stützpunkt in der Sperrzone? Und die Ausweise haben Sie auch von denen?«

»Nun ja, mein Untertauchen sollte auch etwas Nützliches gebracht haben. Ich bin ja nicht untätig im Wald spazieren gegangen und habe Pilze gesammelt.«

Sam übergab mir die gestohlenen Dienstausweise. Als ich sie mir ansah, erkannte ich die beiden sofort an den Passfotos. Auch die Namen stimmten überein. Ebenso schienen ihre Dienstausweise echt zu sein. Das speziell eingearbeitete Zeichen, das für hohe Regierungsbeamte üblich war, konnte man deutlich erkennen.

Ich trug jahrelang selbst solch eine Plakette. Doch plötzlich fiel mir etwas auf.

»Das habe ich mir doch gleich gedacht«, flüsterte ich.

»Hast du was entdeckt?«

»Ja, sehen Sie, Sam. Das Datum der Ablauffrist dieser Ausweise scheint uns der Realität ein Stück näher zu bringen.«

»Auf was willst du hinaus?«

»Sehen Sie, die beiden Dokumente sind schon seit über zwei Jahren abgelaufen.«

»Tatsächlich!«, rief Sam aus, nachdem er die Zahlen verglichen hatte.

»Somit sind die nicht vom KGB?«

»Besser formuliert: Das sind Ex-KGB-Leute! Aus irgendwelchen Gründen entlassen oder sie haben selbst diesem Verein den Rücken gekehrt, um eigene Interessen zu verfolgen.

Wie oft hört man von solchen abtrünnigen Ex-Regierungsleuten, die sich im Nachhinein ihren eigenen Geschäften widmen und dabei die alten Kontakte ausnutzen. Das ist sicherlich keine Seltenheit beim KGB. Selbst beim CIA soll das schon vorgekommen sein.

Ich habe mir gleich gedacht, dass sie nicht von der Regierung geschickt worden sind. Möglicherweise verfolgen sie ähnliche Ziele, wie Sie es tun.«

»Sie meinen, die Chlysten zu bekämpfen?«

»Das denke ich auch, und ich habe da auch eine Vermutung.«

»Klär mich auf, Jake!«

»Es gibt zwei Möglichkeiten: Die Chlysten haben sich in der Welt keinen wirklich guten Namen gemacht, und sie haben mehr Feinde als ihnen lieb ist. Diese beiden Russen waren entweder selbst in einer Sekte, wie zum Beispiel in diesem südamerikanischen Totenkult, oder aber sie haben etwas mit Kamtschatka zu tun.«

»Was zum Teufel …«, sagte Sam, als plötzlich ein Schatten direkt zwischen Tür und Angel stand. Mein Herz blieb beinahe stehen, und Sam erging es wohl kaum anders.

Ich erkannte einen langen Mantel, der bis zum Boden reichte, und ahnte, dass dieser Jemand eine Waffe auf uns gerichtet hielt. Zum Teufel auch, wenn es nicht der Leibhaftige war, wer sonst?

»Sprich nur weiter, Jake«, sagte der Schatten mit einem russischen Akzent, dass es einem die Zehennägel hochtrieb. Es war Saizew!

»Verflucht«, zischte ich.

»Ja, Jake. Du sprichst wahre Worte, du verfluchter Mörder!«

Ich schloss die Augen. Das war in der Tat ein von Flüchen behafteter Augenblick. Scheinbar hatte er herausgefunden, wer seine Frau ermordet hat. Fragte sich nur, wie? Ich vermutete, dass er sich die Leiche seiner Frau angeeignet und einige Untersuchungen angestellt hatte. Vielleicht aber hatte auch jemand geplaudert, eventuell ein Racheakt der Dunkelroten, um mich für meine Illoyalität zu bestrafen, oder um meine innere Stärke zu testen.

Doch ich machte mir mehr Sorgen um Sam als um mich. Nicht, dass ich diese Situation als gefährlich empfand – dafür war mein Glaube an die Chlysten zu stark, mir konnte gar nichts passieren. Mir ging es eher darum, ob diese Situation die Gesinnung von Sam Tanner ins Negative verwandeln und mich einige Schritte bei dem Versuch zurückwerfen würde, ihn auf meine Seite zu ziehen.

»Sind Sie ein Überlebender vom Massaker in Kamtschatka?«

»Nicht ganz, Mister Polizist. Mein Vater starb damals bei den Gräueltaten ihrer Anhängerschaft.«

»Von was redet der Penner?«, fragte mich Sam, wobei ich in seiner Stimme einen seltsamen Unterton heraushörte, als wolle er mir damit sagen, dass ich mich gefälligst verteidigen solle. Ein kurzer und durchdringender Blick zu ihm ließ mich erkennen, dass er eingeschüchtert diese Forderung aufgab.

»Und jetzt wollen Sie Rache nehmen? An mir? Ich bin doch überhaupt nicht dabei gewesen, Saizew.«

»Wen kümmert das schon? Es ist doch wie bei den Deutschen, oder nicht? Einmal Nazi, immer Nazi. Unsere beiden Länder bestrafen dieses Land doch noch immer. Wir nehmen Rache an denen, die eigentlich mit der Sache nichts mehr zu tun haben, oder irre ich mich? Nicht umsonst haben wir das Land geteilt. Strafe muss sein, Jake.«

»Woher wollen Sie wissen, dass ich Ihre Frau getötet habe? Wo sind Ihre Beweise, Saizew?«

»Sie brauchen sich nicht anzustrengen, Mister Dark, aus dieser Sache kommen Sie nicht mehr heraus, dieses Mal nicht. Aber wenn Sie es so genau wissen wollen: Ich habe einen Hinweis erhalten, der Beweis genug ist, dass Sie meine geliebte Frau, die ein Kind erwartete, kaltblütig ermordet haben, Sie verdammtes Schwein!«

»Wenn hier einer Ihre Frau auf dem Gewissen hat, dann niemand anderes als Sie selbst.«

»Keinen Ton mehr, Dark, oder ich drücke sofort ab.«

»Tun Sie sich keinen Zwang an, Saizew. Auf den einen oder anderen Mord kommt es doch nicht mehr an.«

»Halten Sie endlich Ihr verdammtes Maul, Sie Hurensohn. Sie werden jetzt sterben, und ich verspreche Ihnen, es wird ein langsamer Tod sein. Ich schieße Ihnen erst in die Kniescheiben, dann in Ihre Handgelenke, und bevor ich Ihnen einen Kopfschuss verpasse, ziele ich mitten auf Ihre Eier!«

»Bevor Sie anfangen, Ihre Wut an mir auszulassen, möchte ich Ihnen noch etwas sagen, so von Mörder zu Mörder.«

»Ich bin kein Mörder, Sie Bastard«, schrie er, und ich bemerkte, dass er kurz davor war, mir das Licht auszupusten.

»Wer hat denn seine eigene Frau auf mich gehetzt? Sie waren das. Ihr selbstsüchtiger Plan, sie ein doppeltes Spiel spielen zu lassen, ging wohl schief, nicht wahr?«

Teasle sah mich verständnislos an. Ich klärte ihn auf. »Er heiratete eine Frau von den hier lebenden Amish, vermutlich kannte er sie durch seine Stationierung im Reservat, oder liege ich falsch?« Dabei sah ich Saizew in die Augen und bemerkte, wie sie allmählich feucht wurden. Die Gefühle schienen ihn zu übermannen. Ich nahm mir vor, dies schamlos auszunutzen. Vielleicht hatte ich dann eine Chance, diesen Quälgeist endlich loszuwerden.

»Ich könnte mir sogar gut vorstellen, dass er sich absichtlich hierher hat versetzen lassen, um den Chlysten nachzustellen, die seinen Vater ermordet haben, und er roch die Möglichkeit, Rache zu nehmen, und wie mir scheint zu jedem erdenklichen Preis. Er ging sogar so weit, dass er seine eigene Frau ins Schlachtfeld schickte; und er hat sie behandelt wie den letzten Dreck!«

»Das ist nicht wahr!«, schrie Dimitrij. »Ich habe Sie geliebt wie keine andere zuvor!«

»Ach wirklich? Und weshalb haben Sie sie dann damals über Funk so angeschrien, dass sie beinahe losgeflennt hätte? Das nennen Sie Liebe? Das ist der pure Hass, eine Art von totaler Ausnutzung. Eines möchte ich Sie wirklich noch fragen, bevor ich meinem Schöpfer entgegentrete: War denn das ungeborene Kind auch wirklich von Ihnen?«

Während ich diesen Satz von mir gab, beobachtete ich ihn genauestens und konzentrierte mich voll und ganz auf jegliche Bewegung von ihm, vor allem seine Mundwinkel ließ ich nicht aus den Augen. Dimitrij floss soeben eine Träne über die Wange. Sie glitzerte förmlich durch den Feuerschein im Zimmer. Plötzlich bemerkte ich eine Regung und alles schien wie in Zeitlupe abzulaufen. Ich erkannte, wie er mit dem Finger den Hahn seiner Pistole anzog. Sofort griff ich nach Sams Waffe, der direkt neben mir stand und dessen Holster immer noch geöffnet war. Mit rasender Geschwindigkeit zog ich sie heraus, während ich Saizews geschockten Blick aus den Augenwinkeln wahrnahm.

Ich zielte auf ihn und drückte ab, bevor er auch nur einen einzigen Schuss abfeuern konnte. Der Donnerschlag, der folgte, ließ Sam in die Knie gehen, bevor er sich zu Boden warf.

Der erste Schuss, der den Russen traf, ließ ihn einen Meter zurücktaumeln. Sein Gesichtsausdruck zeigte, dass er völlig überrascht war. Er konnte es einfach nicht glauben, dass ich ihn zuerst getroffen hatte.

Er griff mit seiner freien Hand an die Brust. Sein Blut quoll aus der Eintrittswunde über seine Finger. Wieder erhob er seine Waffe, doch ich fackelte nicht lange. Erneut schoss ich und traf ihn zum zweiten Mal in die Brust. Saizew sackte auf die Knie. Doch das war noch nicht das Ende. Ich wollte diese Sache nun ein für alle Mal erledigt haben. Zwei weitere Projektile drangen in seinen Körper ein und er brach kraftlos zusammen, wobei ich sofort seine fallengelassene Waffe mit den Füßen zu Teasle kickte.

Als ich niederkniete, um sicherzugehen, dass er tot war, hörte ich ihn noch leicht atmen und leise etwas flüstern, das sich anhörte, als wäre es ein Gebet. Ich ließ ihn nicht zu Ende sprechen, eine weitere Kugel bohrte sich in seinen Kopf. Endlich schwieg er.

»Es ist vorbei«, sagte ich zu Sam, der sich in einer Ecke verkrochen hatte und allem Anschein nach nicht fassen konnte, wie ich die Sache beendet hatte.

Ich widmete mich noch einmal der Leiche und zog ihr den rechten Stiefel aus, damit ich an das Fußgelenk herankam.

»Sehen Sie, Sam? So wie ich es vermutet habe.«

Als sich Sam langsam näherte, zeigte ich ihm das gut erkennbare Zeichen.

»Freimaurer?«, fragte er mich.

Ich nickte.

»Einer von Parkers Leuten?«

»Nicht unbedingt, ich glaube sogar, dass man das ausschließen kann. Eventuell ein Mitglied einer andere Loge in Russland, die dennoch dasselbe Ziel verfolgt. Sehen Sie, Sam? Mir können Sie vertrauen, ich habe Ihnen eben das Leben gerettet. Er hätte uns beide getötet!«

»Nein, Jake, du hast ihn kaltblütig umgebracht. Ich verstehe das nicht. Es scheint mir so, als ob du mir etwas verschweigst.«

Ein extrem lautes Geräusch ließ uns förmlich zu Boden gehen: Die Ostwand des Raumes wurde in Stücke gerissen, Splitter und Holzlatten flogen nur so durch das Zimmer.

»Ihr amerikanischen Bastarde«, hörte ich eine Stimme in einer Lautstärke, dass man hätte meinen können, sie stamme von einer Diesellokomotive. Während ich immer noch unten am Boden lag und halb benommen durch den Aufprall war, erkannte ich Igor Babrow, der einen kurzen Blick auf den toten Dimitrij richtete und sich Teasle schnappte, der ebenso von dieser Aktion völlig überrascht wurde. Ein blutiger Faustkampf entbrannte.

Teasles Schläge klangen dumpf in Babrows Magengegend, wobei Sam auch so einiges einstecken musste.

»Ihr habt meinen Freund getötet!«, schrie Babrow. »Ich werde euch alle Knochen brechen und den Rest den Hunden vorwerfen!«

»Beruhigen Sie sich, Mann!«, rief Teasle laut, während die beiden gegen einen alten Holzstuhl krachten, der unter ihnen nachgab. Doch nicht nur dieses morsche Teil zersplitterte, sondern auch die Dielen. Der Boden brach ein, und die zwei Körper fielen ein Stockwerk tiefer!

Der Aufschlag, der daraufhin folgte, wurde kräftig von einem Schrei begleitet, dem eine verdächtige Stille folgte. Sofort rannte ich die Treppen hinab, immer noch die Waffe von Teasle in der Hand, in der noch eine Patrone war. Ich ahnte das Schlimmste.

Unten angelangt, sah ich aus sicherer Entfernung die Einbruchstelle, unter der Teasle lag. Babrow stand direkt über ihm und zielte mit seiner russischen Makarow auf Sams Kopf. »Jetzt wirst du sterben!«, fauchte der Russe.

Ich zielte mit meiner Waffe direkt auf ihn und schwor mir, ihn mit einer tödlichen Ladung Blei zu versorgen.

Teasle indes lag schwer atmend unter ihm und ich glaubte zu erkennen, dass er die Augen schloss – womöglich um mit seinem Schöpfer ins Reine zu kommen. »Keine Sorge«, dachte ich. »Noch nicht.«

Mit einem präzisen Schuss traf meine letzte Kugel Babrow direkt in den Kopf. Dieser Riesenkerl, dessen Masse der eines Zwergwales glich, fiel zusammen wie ein Kartenhaus. Erneut trat Stille ein.

Sam hatte sich mittlerweile aufgerafft, und richtete, kurz nachdem er Igor in Augenschein genommen hatte, seinen Blick zu mir.

»Du hast mir das Leben gerettet, Jake. Dafür möchte ich dir danken, auch wenn es mir noch so schwerfällt. Ebenso muss ich mich für mein Misstrauen entschuldigen …«

»Schon gut, Teasle, es ist okay. Diese Situation ist nun mal auch nicht alltäglich, und ich verzeihe Ihnen.«

»Du kannst mich Sam nennen, Jake. Ich glaube, ich kann dich als einen guten Freund einstufen. Außerdem stehe ich in deiner Schuld, du hast etwas gut bei mir.«

Ich nickte. Endlich hatte ich ihn so weit, dass er mir Vertrauen schenkte. Das machte die Sache deutlich einfacher, wenn es darum ging, die Freimaurer zu stürzen. Deshalb stieß ich im Stillen ein Stoßgebet aus, da es – so betrachtet – ein glücklicher Zufall war, dass die beiden Russen aufgetaucht waren. Doch ich bemerkte, wie ich diesen Gedanken schnell wieder aus meinem Gedächtnis verbannte. Zufälle kannten die Chlysten nicht, alles war von Gott gewollt. »Preiset den Herrn Zebaoth, denn er ist der wahre Gott!«, flüsterte ich.

»Was hast du gesagt?«, fragte Sam, der allem Anschein nach nur ein paar Wortfetzen verstanden hatte.

»Wir sollten sie begraben. Wir können die beiden ja schlecht hier liegen lassen. Wer weiß, vielleicht werden sie gesucht. Sag mal, ist eigentlich dieser Stützpunkt im Reservat von den Russen besetzt?«

»Nicht ständig, nur in den Sommermonaten. Im Winter ist das ganze Gebiet lediglich durch einen hohen Stacheldrahtzaun abgesperrt und der Stützpunkt verschlossen. Ab und zu kreist ein Helikopter darüber, und ich glaube, dass er das Gebäude mit Infrarotkameras überwacht. Aber es ist verdammt schwer, da heranzukommen, Jake. Überall stehen Schilder, die auf Minen hinweisen.«

»Hast du dich schon einmal dort hingewagt?«

»Nicht überirdisch, Jake«, grinste Sam hämisch. Ich runzelte die Stirn.

»Es scheint so, dass der Akademieschüler doch noch nicht alles weiß«, fügte er an. Ich hob die Augenbrauen. Ihm schien es wohl schon wieder gut zu gehen, seinen Sarkasmus hatte er anscheinend noch nicht verloren.

»Du meinst, das unterirdische System hier reicht bis zu den Hämatit-Minen?«

»Ja«, antwortete er kurz und bündig.

»Kann es sein, dass du des Öfteren schon in meinem Bungalow warst?«

»Ja«, lautete erneut seine knappe Antwort.

»Die Patronen«, raunt ich und knirschte mit den Zähnen. »Das war wirklich ein Schock.«

»Und dennoch hat es dich nicht dazu bewegt, zu gehen. Ich muss schon sagen, du bist ein harter Brocken. Ich weiß nicht, wie ich reagierte hätte, wenn ich wüsste, dass ein Killer mich bei den Eiern hat. Wieso hast du diesen Ort nicht verlassen?«

»Ich kann dir deine Frage nicht beantworten. Irgendetwas hielt mich zurück, und im Nachhinein bin ich sogar froh darüber, dass das alles geschehen ist.«

»Bis auf die Leichen, Jake. Das hätte nicht passieren dürfen, dieser Preis ist bei Weitem zu hoch.«

»Apropos Leichen, es wird Zeit, dass wir sie loswerden.«

Teasle nickte, dennoch legte er seine Stirn in Falten. »Da werden wir aber mächtig Schwierigkeiten bekommen.«

»Weshalb?«

Sam ging nach draußen, und ich folgte ihm stirnrunzelnd. Vor dem Haus stapfte er ein paar Mal mit dem Fuß auf den Boden.

»Die Erde ist durchgefroren, und die Leichen nur unter der Schneedecke zu begraben, ist keine besonders gute Idee.«

Er hatte wohl recht. Daran hatte ich nicht gedacht. Eine Lösung musste her. Doch plötzlich hatte ich einen Einfall. Ich sah mich um und ließ mir viel Zeit dabei. Ich hoffte, Sam würde meine Reaktion nicht wahrnehmen. Doch er war schlauer als ich dachte, denn er sah sogar meinen nächsten Schritt voraus.

»Nein, Jake«, sagte er mit einem Hauch von Traurigkeit, obgleich ich mir sicher war, dass er es ebenso als die beste Lösung empfand.

»Es ist das Beste, Sam. Wir hätten zum einen diesen toten Unrat hier los, und zum anderen du deine Vergangenheit. Irgendwann muss jeder einmal loslassen können, verstehst du das? Glaub mir, es ist das Beste für uns alle. Außerdem könnten wir dadurch noch eine weitere Fliege mit einer Klappe schlagen.«

»Auf was willst du hinaus?«

»Nun, falls hier jemand diese Leichen findet, könnte man sie für uns halten. Du könntest dein Auftreten im Pioneer Park wiedergutmachen, und ich wäre endgültig aus den Akten verschwunden.«

Sam dachte angestrengt nach. Ich nahm mir vor, ihn dieses Mal nicht zu beeinflussen, obgleich mein Schweigen ebenso eine Art von Einflussnahme war. Ich ließ ihm damit den Glauben, es sei seine Entscheidung, doch wenn er je anders geurteilt hätte, wäre es meine Pflicht gewesen, es doch so auszuführen. Unauffälliges Führen war schließlich meine Spezialität!

»Nun gut«, gab er schließlich von sich. »Es ist wohl das Vernünftigste. Und um die Sache zu beschleunigen, werde ich einen Funkspruch abgeben.« Ich sah ihn fragend an. »Nur für den Fall«, sprach er weiter.

»Du hast ein Funkgerät im Haus?«

»Natürlich, ich möchte doch schließlich wissen, was da draußen passiert. Es ist meine einzige Verbindung in die Zivilisation. Martin wird schon richtig reagieren.«

Wir standen noch eine ganze Weile in dieser kalten Finsternis und richteten unsere versteinerten Blicke auf die Tanner-Farm, die nun bald Geschichte sein würde.

»Legen wir los, Jake, sonst stehen wir die ganze Nacht vor diesem alten, vergammelten Haus«, sagte Sam, während er durch den Schnee wieder ins Gebäude ging. Ich folgte ihm.

Mitten auf dem Dachboden stand ein altes Funkgerät auf einem Tisch und dahinter zwei große Lkw-Batterien, die es mit dem nötigen Strom versorgten. Davor stand ein Holzstuhl, der auch schon mal bessere Zeiten gesehen hatte.

»Leg los, Jake.«

Mit gemischten Gefühlen setzte ich mich und umklammerte das Mikrofon des Funkgerätes. Ich stellte den Kanal ein, auf dem mich Martin empfangen konnte, und drehte die Lautstärke recht hoch. Ebenso versuchte ich meine Stimme so klingen zu lassen, als wäre ich außer Atem und verwundet.

»Martin, bitte kommen, hören Sie mich?« Ich schaute zu Sam, und er nickte. »Hallo, Rebecca, ist jemand von euch im Department? Ich brauche dringend Hilfe. Bitte kommen!«

Es dauerte eine ganze Weile, bis sich endlich jemand meldete.

»Hier ist Rebecca, ich kann Sie empfangen, Mister Dark. Wie ist Ihre augenblickliche Position?«

»Wir sind hier in der alten Tanner-Farm. Teasle und ich sind schwer verletzt, es scheint so, dass uns jemand hier raus gefolgt ist. Bitte schicken Sie Verstärkung, es eilt sehr.«

»Verstanden, Sheriff. Ich gebe gleich den Funkspruch raus.«

»Danke, over and out.«

Ich schaltete das Gerät ab und lehnte mich zurück. Sam klopfte mir auf die Schulter.

»Das war gut, Jake. Das werden die schlucken, auch wenn ich den Eindruck habe, dass die nicht unsere Leute hier rausschicken werden, sondern die Polizei von Fairbanks.«

»Das kann nur von Vorteil sein, denen schenken sie mehr Glauben als den führerlosen Helden unserer Polizeiwache.«

Teasle gab einen kurzen Lacher von sich, obwohl ich den Eindruck hatte, dass ihm zur Zeit nicht danach zumute war.

Sofort richtete ich mich auf, und wir schritten zu Tat. Wir sammelten sämtliche losen Bretter, gossen alle Öllampen über die Planken und machten einen großen Haufen in der Mitte des Farmhauses, der aus Hölzern, alten Papieren, alten Laken und vergammelten Vorhängen bestand. Darunter platzierten wir die Gasflasche und stellten sie auf die höchste Flamme ein. Die reinigenden Feuer der Chlysten konnten beginnen!

Den Leichen setzten wir noch unsere Hüte auf, zogen ihnen die schweren Mäntel aus und steckten ihre russischen Waffen ein. Kaum ausgeführt, schoss bereits eine Stichflamme bis zum Dach, woraufhin wir aus dem feurigen Inferno verschwanden.


In einiger Entfernung standen wir noch eine ganze Zeit lang und sahen dem Großfeuer zu, wie dessen Flammen meterhoch in die Nacht hineinschlugen.

Ein kurzer Blick zu Sam ließ mich erkennen, dass es ihm schwerfiel, sein Heim brennen zu sehen, doch ich war mir sicher, dass seine Situation danach besser für ihn werden würde. Nun gab es keine materiellen Erinnerungen mehr an seine frühe Kindheit, und vielleicht vernichtete das Feuer auch den schlechten Teil davon. Vielleicht …

»Sam?«

»Ja?«

»Hast du die Namen auf die Bilder in meinem Büro geschrieben?«

»Ja.«

»Weshalb?«

»Ich dachte, es könnte ein Hinweis sein, den man irgendwann einmal brauchen könnte.«

»Aber wozu diesen Aufwand? Hätte ein Zettel nicht genügt?«

»So etwas verliert man oder es wird von anderen gefunden. Im Gedächtnis ist es oft plötzlich verloren, und da ich wusste, dass die Dunkelroten in dem Bungalow ein und aus gehen, fand ich es eine gute Idee. An diesem Ort würden sie solche Hinweise niemals vermuten.«

»Verstehe, und ja.«

»Und ja?«, fragte Sam, wobei er mich verständnislos ansah.

»Ja, es war eine gute Idee.«

Sam atmete erleichtert durch, während ich starr auf die brennende Tanner-Farm blickte.

»Sag mal, Sam, wer ist Elsa Below?«

»Nun, das ist einfach. Sie ist meine leibliche Nichte. David Brauner ist mein Halbbruder!«