DRITTER TAG
Der dritte Engel blies seine Posaune. Da fiel ein großer Stern vom Himmel; er loderte wie eine Fackel und fiel auf ein Drittel der Flüsse und auf die Quellen.
Offenbarung Kapitel 8 Vers 10
Der nächste Tag begann wie auf einer Achterbahn, deren Loopings einem den Magen umdrehten, und man nur noch das Gefühl verspürte, das morgendliche Frühstück auskotzen zu wollen. Ehrlich gesagt, war ich völlig orientierungslos und hegte plötzlich einen gewissen Respekt vor Langzeitalkoholikern.
Die letzte Nacht hatte ich im Wagen verbracht, denn nachdem ich am grünen und verschneiten Ortschild von Crimson vorbeigeschlittert war und mir der Wagen nach einigen hundert Metern einen Strich durch die Rechnung gemacht hatte, hatte ich es mir in meinem alten Chevy gemütlich gemacht; ohne jegliche Heizung. Doch mir war eingefallen, dass sich hinten im Kofferraum noch eine Decke befand, die ich vor Ewigkeiten einmal hineingelegt hatte. Wenigstens ein kleiner Trost. Ich hätte mir vorstellen können, dass ich ohne dieses verdammte Ding wohl zu Eis erstarrt wäre, und sie hätten aus mir einen weiteren mysteriösen Fall machen können. Die Schlagzeile sah ich schon vor mir: Ex-Detective stirbt vor Gefühlskälte! Gezeichnet: Cynthia!
Meine Augen wurden von einer Helligkeit geblendet, deren Ursprung weniger die Sonne war, sondern eher der hell reflektierende Schnee. Es dauerte eine ganze Weile, bis sich meine Augen an dieses grelle Licht gewöhnt hatten. Durch die Fenster das Chevy sah ich ein paar Häuser in nicht allzu weiter Ferne. Es handelte sich dabei um die typischen Fachwerkhäuser, welche man aus dem Europa des späten Mittelalters kannte und die die Zeit und all diese sinnlosen Kriege überdauert hatten.
Ich fragte mich, ob hier überhaupt jemand lebte. Möglicherweise waren schon alle tot, und meine Aufgabe bestand lediglich darin, den Kohleofen anzuwerfen, um die übrigen Leichen zu verfeuern.
Hier bewegte
sich rein gar nichts. Der Feldweg, auf dem ich mich befand, war
beträchtlich mit Schnee bedeckt, und die beiden Häuser vor mir
sahen aus wie zwei Zeugen bei einem Mordfall, dessen Vorgeschichte
ebenso fraglich war wie deren Aussagen.
Was hatte Sheriff Teasle doch gleich gesagt? Zweihundert Familien? Schätzungsweise müsste es sich hier also um die tausend Einwohner handeln, nach der hohen Nachwuchsrate der Amish zu urteilen. Sie waren wohl kaum in diesen zwei Häusern untergebracht.
Ich drehte den Zündschlüssel, um den Feldweg noch weiter entlang zu rutschen. Als Fahren konnte man dies hier kaum bezeichnen, doch der Wagen streikte immer noch. Verfluchte Scheiße! Vermutlich hatte es die Lichtmaschine verspult. Kein Wunder, bei dieser Wetterlage. Ich hatte keine Ahnung, ob es hier eine Werkstatt gab. Vermutlich nicht!
Ich suchte nach meiner Jacke, und erst Augenblicke später kam ich zu der Erkenntnis, dass ich sie bereits trug. Unkonzentrierter ging es kaum noch!
Trotz meiner Verwirrtheit fiel mir blitzartig wieder dieses Schriftstück ein, das mir Teasle hatte zukommen lassen, und griff in meine Jackentasche.
Als ich den Zettel vor meine Augen hielt, schüttelte ich ungläubig den Kopf, denn an solche Botschaften konnte ich mich nur noch vage erinnern und verband damit alte Erinnerungen an meine Schulzeit. Aber als Erwachsener empfand ich dies als äußerst kindisch.
Beim Auffalten des Papiers fiel mir auf, dass etwas herausrieselte. Immer dieser Schmutz in den Taschen!
Doch als es
auf meiner Hose teils liegen blieb, schoss mir sofort ein Gedanke
in den Kopf: Die vorherige Nacht an der Schranke!
Dieser seltsame Sand glich den kleinen Scherben, die ich neben meinem Wagen gefunden hatte. Das konnte doch kein Zufall sein! Schnell griff ich neben mich auf den Beifahrersitz, doch wie verdutzt war ich, als ich das rote Tuch nicht mehr fand. Ich war mir aber hundertprozentig sicher, dass ich es gestern Nacht dort abgelegt hatte. Ich blickte mich um, durchkämmte das Auto, sah in meine Taschen, durchsuchte mein Handschuhfach, aber das Stück Stoff blieb verschwunden. Und am Schlimmsten von allem war: Mein Colt war ebenso nicht mehr auffindbar!
Ein Gefühl von Panik ergriff mich, und ich bildete mir fast schon ein, dass ich mir die ganze Geschichte nur zusammengesponnen hatte.
Ein dumpfer Schlag unterbrach meine Verwirrtheit. Ich zuckte zusammen. Diese ständigen überraschenden Momente würden mir hier bald die letzten Nerven rauben.
An meinem Fenster klebte ein großer weißer Fleck, der mir die Sicht versperrte. Rumms. Erneut knallte es, und ein weiterer Schneeball schlug gegen meine Scheibe. Okay, Dienstbeginn!
Als ich aus meinem Wagen ausstieg, sah ich zwei Kinder, deren Kleidung mich sofort an den finsteren Gesellen von gestern Abend im »Angel’s Bell« erinnerte. Allerdings hatte der Junge seinen Hut nicht so tief ins Gesicht gezogen, und das Mädchen trug eine dieser für Frauen bestimmte Kopfbedeckungen, die denen von altertümlichen Dienstmägden ähnelten. Es handelte sich definitiv um Amish-Kinder.
»Guten Morgen!«, rief ich ihnen entgegen. »Ihr habt nicht zufällig meinen Wagen geplündert?«
Mit einem letzten Wurf eines Schneeballs, der mich am Bein traf, beendeten die beiden die einseitige Unterhaltung, rannten lachend die Straße in Richtung der Häuser entlang und verschwanden schnell im dichten Dunst.
Das hatte Parker also mit »wortkarg« gemeint, wobei er sich damit wirklich freundlich ausgedrückt hatte.
Der Tiefnebel schien sich langsam ein wenig aufzulösen, denn meine Augen nahmen einige weitere Häuser wahr. Ich erkannte nun ebenso solche Bauten hinter mir und stellte fest, dass ich wohl mitten in Crimson stand. Unglaublich, ich war tatsächlich angekommen!
Im Kofferraum fand ich unter all den Reisetaschen eine Sonnenbrille, deren abgetönte Gläser kaum nötig gewesen wären: Der Staub auf der Brille reichte völlig aus.
Ich stieg erneut in meinen Wagen und stieß wieder auf Teasles Papierfetzen, den ich schon wieder aus den Augen verloren hatte. Doch bevor ich ihn vollständig öffnen konnte, wurde ich erneut abgelenkt. Ein helles Licht blendete mich im Rückspiegel. Ich wartete einen Augenblick ab, bis ich erkannte, dass es sich um einen Wagen handelte, der den Feldweg entlang fuhr und direkt auf mich zukam.
Doch diesmal ließ ich mich nicht davon abbringen, Teasles Botschaft zu lesen. Beim langsamen Auffalten des Zettels fiel stetig dieser rötliche Staub hinab, welchen ich in meinem Brillentuch auffing. Fein und glitzerartig, wie der in einer Sanduhr, rieselte er auf mein Tuch und färbte es dunkelrot.
Auf dem Zettel stand ein Name, dessen Buchstaben den Anschein vermittelten, dass sie schnell und ohne Zeit zu verlieren aufgemalt worden waren. Schon sah ich den Wagen direkt hinter mir. Er wurde langsamer und hielt neben meinem Chevy an. Der Name auf dem gefalteten Brief lautete Elsa Below.
»Sind Sie Mister Dark?«, hörte ich dumpf und leise eine Frauenstimme rufen. Schnell ließ ich das Stück Papier im Handschuhfach verschwinden, und kurbelte ebenso mein Fenster hinunter, wie es die Frau im anderen Wagen getan hatte.
»Ja, richtig. Jake Dark mein Name.«
»Freut mich, Sie kennenzulernen. Ich heiße Emma Garner, ich bin hier für das Büro des Sheriffs zugeteilt. Fahren Sie mir hinterher? Ich zeige Ihnen, wo es sich befindet. Dort kann ich Ihnen alles genauer erklären.«
Sie lächelte mir freundlich zu und setzte ihren Kleinwagen vor mich. Ich war wie in einem Traumzustand und konnte nicht klar denken. Dass diese Emma eine Frau von höchstens fünfundzwanzig Jahren war, hatte ich nicht erwartet. Alleine ihr Name schien mir doch eher von einer der älteren Generation zu sein. So kann man sich täuschen.
Als sie losfuhr, spritzte mir einiges an Schnee auf die Windschutzscheibe und versperrte mir nun vollständig die Sicht.
»Oh Mann«, rief ich aus und schlug auf mein Lenkrad. »Der Wagen!«
Als ich ausstieg, um ihr mitzuteilen, dass
meine Kiste nicht anspringen würde, dachte ich mir, wie peinlich
das auf sie wirken musste. Genau heute trat ich meinen Dienst an,
und das Erste, was passieren sollte, war, dass meine Sekretärin zu
meinem persönlichen
Abschleppdienst degradiert wurde. Großartig!
Emma aber war tatkräftiger, als sie aussah. Kurzerhand schloss sie ein Überbrückungskabel an meine Batterie und wir schafften es schließlich, dass mein Chevy doch noch ansprang.
»So etwas passiert hier eben«, sagte sie lächelnd, während sie mir zuzwinkerte und in ihren Wagen einstieg.
Doch als ich in meinen Chevy einsteigen wollte, fiel mir plötzlich etwas Ungewöhnliches auf: Mitten im Schnee, kaum sichtbar, direkt unter meiner Fahrertür, erkannte ich einen dunkelroten Fleck. Ich ging in die Hocke, um ihn besser erkennen zu können.
»Ist alles in Ordnung?«, rief Emma aus ihrem Wagen.
»Alles bestens«, antwortete ich. »Ich bin gleich so weit.«
Der Fleck schien eben erst abgetropft zu sein, da er den umliegenden Schnee immer noch leicht einfärbte. Ich sah auf meinen Wagen und erkannte einen weiteren roten Fleck, der von der Unterseite meiner Tür hinablief. Es sah aus wie ...
»Was ist mit Ihnen?«, hörte ich Emma fragen.
»Nichts, alles bestens«, lenkte ich ab und stieg in meinen Wagen – in der Hoffnung, dass sie nichts von alledem mitbekommen hatte.
Emma fuhr voraus und auf der darauffolgenden kurzen Fahrt gingen mir so einige Gedanken durch den Kopf. Aber was mich am meisten beschäftigte, war der Fleck auf der Tür. Ich war mir sicher, dass es sich um Blut gehandelt hatte, da ich schon häufiger in der Gerichtsmedizin zugegen war, wenn es darum ging, Körperflüssigkeiten von Opfern und Tätern zu untersuchen. Es könnte sich möglicherweise um das Blut des unbekannten Diebes handeln, der mir mein Tuch und die Waffe entwendet hatte. Zum Teufel auch, wie konnte so etwas nur passieren?
»Sie sehen, Mister Dark, es ist so, wie ich es Ihnen vorhin beschrieben habe: Ein netter kleiner Bungalow«, sagte Emma Garner voller Freude, nachdem wir mein neues »Home Sweet Home« betreten hatten. Es vermittelte genau den Eindruck, wie ich es mir in meinen Träumen nur vorstellen konnte, auch wenn es Bestandteil von Albträumen war!
Nun ja, möglicherweise neige ich zu Übertreibungen. Dennoch war und blieb es ein kleiner Bungalow inmitten einer gottverlassenen Eislandschaft.
Während ich zum Fenster trat und meinen Kummer in mich hineinfraß, anstatt ihn laut von mir zu schreien, hörte ich, wie Emma an irgendetwas herumhantierte.
»Die Heizung ist ein wenig eingerostet«, hörte ich sie sagen, und aus ihrer Stimme war deutlich eine körperliche Anstrengung herauszuhören.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte ich, während ich mich zu ihr wandte. Ich sah, wie sie auf allen vieren an einem Drehrad kurbelte, wohl um die Gasleitung zu öffnen.
»Nein, es geht schon. Die Heizung war nun mal
ein halbes Jahr nicht mehr in Betrieb, und die Kälte lässt so
manches erstarren.« Dabei sah sie
zu mir und grinste ein wenig hinterhältig.
»Sie sollten außerdem wissen, dass es sich hier um die einzige Gasleitung nach New Rock handelt, ebenso wie die Stromleitungen in Ihrem Bungalow.«
»Wie bitte? Und die Siedlungen?«, fragte ich verdutzt.
Emma schüttelte mit dem Kopf.
»Damals, als Fairbanks vor einigen Jahren die Siedlungen als steuerpflichtige Gemeinden anerkannt hatte, errichteten sie diesen Bungalow als Sitz für die Polizei und installierten Heizung, Strom und ebenso eine Telefonleitung in dieses Haus. Die Amish selbst besitzen so etwas nicht. Sie nutzen weder Kernkraft noch fossile Brennstoffe, da sie den technischen Fortschritt aufs Schärfste kritisieren. Nur ein Anschluss an das Wasserwerk von Fairbanks ist in den Siedlungen vorhanden.«
Ich schüttelte den Kopf. Mir fehlten einfach die Worte. Das war wirklich ein seltsames Völkchen.
»Ich nehme an, dass die Amish auch keinerlei motorisierte Fahrzeuge besitzen?«
Emma stand auf, als die Flamme des großen Gasofens brannte. Sie rieb sich die Hände, um den Staub abzuschlagen, der unter der Heizung sein Unwesen trieb.
»Automobile lehnen sie ab, ebenso wie moderne Kleidung und große Kirchen. Ihre gemeinsamen Gebete halten sie in ihren Häusern ab. Und auch ansonsten werden Sie kaum jemanden zu Gesicht bekommen. Sie sehen, Sie werden hier wenig zu tun haben, Sheriff. Schaffen Sie sich ein Hobby an!«
Ein Hobby? Mein letztes Hobby hat mich vor die Tür gesetzt. Ich hatte die Schnauze voll von solchen Freizeitbeschäftigungen.
»Hinter dieser Tür befindet sich Ihr privater Bereich. Lassen Sie sich Zeit und begutachten Sie alles in Ruhe. Ich habe ein wenig Schriftkram und dergleichen zu erledigen. Wenn Sie aber etwas brauchen, lassen Sie es mich wissen.«
Sie zeigte auf die Holztür, deren Schlüssel noch steckte und die quietschte, als ich eintrat.
»Nett eingerichtet!«, rief ich zu Emma, während ich meinen einzigen Wohnraum betrachtete. Der Stil der Möbel war Eiche rustikal und machte aus dem Zimmer ein dunkles Verlies, dessen einziges Fenster nach Osten mit einem Klappladen verschlossen war.
»Ein halbes Jahr, sagen Sie?«
»Ja, so in etwa«, rief Emma.
»Dafür ist es aber ziemlich sauber, wenn ich das einmal erwähnen darf.«
»Finden Sie? Vielen Dank!«
Ich setzte mich auf das Doppelbett und bemerkte, dass es wohl sehr bequem zu sein schien.
»Ich habe zu danken. Ich wusste nicht, dass das Ihr Werk war«, schmunzelte ich und sah die Vielzahl von kleinen Ölgemälden, die rundum im Zimmer aufgehängt waren. Selbst über der kleinen Badtür hing eines dieser von der Dunkelheit des Zimmers überschatteten Kunstwerke. Es zeigte einen Wald, der von einem seltsamen und fahlen Mondschein erhellt wurde. Ebenso deuteten die anderen Bilder auf einen depressiv eingestellten Maler hin, dessen Einfallsreichtum bei Beerdigungen äußerst wünschenswert gewesen wäre.
»Gibt es hier in der Nähe eine Werkstatt?«, fragte ich und dachte dabei an meinen Chevy, der draußen neben Brauners ehemaligem, zugeschneitem Dienstwagen geparkt stand.
Die Antwort, die ich zu bekommen erhofft hatte, blieb aus, und ich horchte aufmerksam.
»Emma? Haben Sie mich verstanden?«
Nichts. Kein Geräusch war zu vernehmen.
Mit schnellen
Schritten lief ich durch die Tür in das Sheriffbüro, am
Schreibtisch vorbei, den abgeschlossenen Waffenschrank hinter mir lassend, direkt zur
Eingangstür, die zu meiner Verwunderung einen Spalt offen
stand. Emma war nicht zu sehen. Da
das Büro sonst keine anderen Ausgänge aufwies und die Tür zur
Diensttoilette offen stand, musste sie sich wohl draußen aufhalten.
Erst schaute ich durch das große Fenster, doch bis auf meine beiden
Fahrzeuge, die direkt davor standen, war nichts zu sehen. Oder etwa
doch? Etwas weiter entfernt erkannte ich im hellen Dunst
schemenhaft eine menschliche Gestalt. Aber dass es sich dabei um
Emma handelte, war zu bezweifeln.
Ich schärfte meinen Blick, jedoch verschwammen die Umrisse vor meinen Augen. Seltsam, dachte ich mir. Steht einfach ohne jegliche Regung da. Doch plötzlich sah ich die Silhouette eines weiteren Menschen, der direkt auf den ersten Schatten zulief. Ich war mir nicht sicher, aber dieser jemand hielt etwas in den Händen: Eine Kiste oder eine kleine Truhe, die möglicherweise mit einem Tuch abgedeckt worden war.
Das konzentrierte Starren in dem hellen Schnee tat mir allmählich in den Augen weh und ich wandte mich ab.
Als ich hinaustrat, blies mir der Wind um die Ohren, und von Emma fehlte jede Spur. Ich blickte erneut in die Richtung, in der ich die zwei Gestalten vom Fenster aus gesehen hatte, doch ich konnte niemanden mehr entdecken. Der kalte Wind ließ mir die Tränen in die Augen steigen, was mein Unterfangen deutlich erschwerte. Doch plötzlich kam Emma um die Ecke.
»Mister Dark? Suchen Sie etwas?«, fragte sie.
Sie trug eine kleine Handtasche um ihre Schulter. Ich schüttelte
den Kopf und bemerkte, dass ihr Lippenstift ein wenig verschmiert
war. Es fiel mir deshalb auf, weil das einfach nicht zu ihrer
gepflegten Art passte.
»Ich muss zu meinem Wagen, meine Sachen holen.«
»Lassen Sie mich gehen, ich mache das für Sie, Mister Dark.«
»Nein, bitte. Ich möchte das selbst erledigen.«
»Wie Sie wollen«, sagte sie in einem etwas verbitterten Ton, als müsste ich mich dafür entschuldigen, dass ich mich nicht wie ein König verhielt.
Als sie die Tür hinter mir schloss, entschied ich mich, diese merkwürdige Diskussion auf sich beruhen zu lassen, zu meinem Wagen zu gehen und meine Sachen zu holen. Doch ich kam nicht dazu, denn auf halben Weg blieb ich starr stehen, als hätte ein lähmendes Gift meine Motorik abgeschaltet. Emmas Wagen stand etwas hinter meinem Chevy! Sonderbar. Wohin war Emma gegangen, um ihre Handtasche zu holen?
Sofort kehrte ich um und ging Emmas Fußspuren im Schnee nach. Sie waren leicht zu finden, da sie auch beim Zurückgehen im Schnee deutliche Fußabdrücke hinterlassen hatte.
Die Spur führte an die fensterlose Seitenwand meines Bungalows und endete ungefähr auf halber Strecke. Drei Meter entfernt stand ein alter knorriger Baum, dessen Rinde teilweise abgeblättert war. Sonst befand sich hier nichts. Selbst die Häuser der Siedlung, welche sich ohnehin auf der anderen Seite befanden, standen zu weit entfernt. Und etwa gar anzunehmen, man hätte ihr die Handtasche von einem der Häuser aus zugeworfen, war völlig abwegig.
Ich stutzte. Was hatte Emma hier verloren? Frische Luft schnappen? Ihre letzten Fußstapfen vermittelten den Eindruck, dass sie absolut bewegungslos verharrt haben musste. Vor allem dachte ich über den Faktor Zeit nach. Natürlich konnte ich mir nicht exakt sicher sein, wie lange sie da gestanden hatte, jedoch hatte sie sich vermutlich schon vor meiner Frage nach der Werkstatt entfernt. Daraufhin waren meine nachdenklichen Blicke auf die Gemälde und natürlich meine Beobachtung der zwei Gestalten am Fenster gefolgt. Ich vermutete, dass bis dahin mindestens acht bis zehn Minuten verstrichen waren. Eine lange Zeit, um bei minus achtzehn Grad Celsius still dazustehen, wobei ich sie außerdem ohne ihre Jacke angetroffen hatte.
Vermutlich übertrieb ich maßlos. Ich schmunzelte und schüttelte den Kopf.
»Schaut an, was ich treibe«, sagte ich leise. »Ich jage harmlosen Sekretärinnen hinterher.«
Als ich mich wieder zum Haus begab, hörte ich hinter mir ein Knacken. Es war deutlich zu vernehmen, und es handelte sich definitiv nicht um den Schnee. Schnell machte ich kehrt und mir fiel ein heruntergebrochener Ast auf, der am Boden lag. Ich runzelte die Stirn und starrte nun das erste Mal zur Baumkrone. Oben erkannte ich die Abbruchstelle, die sich ziemlich nah an der Spitze des Baumes befand. Aber was deutlich auffiel war die Dicke des Astes. Bestimmt konnte er einen Durchmesser von zehn Zentimetern vorweisen.
Bei näherer Betrachtung war klar zu erkennen, dass jener Ast weder angesägt noch so verdorrt aussah, dass er hätte von selbst herunterbrechen können. Auch die Schneemenge schien mir deutlich zu gering, um einen solchen Bruch zu begünstigen. Er war abgebrochen worden! Ich beschloss, ihn in den Dienstwagen zu legen und ihn später einmal genauer zu betrachten. Meine Gedanken fingen endlich wieder an aufzutauen.
»Sie waren aber ganz schön lange da draußen«, bemerkte Miss Garner, als ich eintrat. Sie schenkte mir keinen Blick, sondern tippte etwas auf ihrer Schreibmaschine, wobei sie etwas von einem Schreiben nach Fairbanks murmelte, das meinen Dienstantritt bestätigen sollte.
Ich nahm hinter meinem Schreibtisch Platz und schaute sie eine ganze Weile an. Ihren Lippenstift hatte sie wohl nachgezogen, woraus ich schließen konnte, dass sie darüber Bescheid gewusst hatte, ihn verwischt zu haben. Es war ihr somit klar, dass ich es hatte bemerken können. Was verbarg sie?
»Was ich Sie noch fragen wollte ...«,
stammelte ich, beschloss aber, die Frage noch zurückzustellen. Ich
fand es plötzlich ziemlich unhöflich, schon am ersten Tag über den
Tod von Sheriff Brauner zu reden. Laut Teasle hatte Emma Angst,
diesen Ort wieder zu betreten, obgleich ich nur zu gern gewusst
hätte, wo genau man Brauner gefunden hatte. Aber dies könnte ich
noch Teasle fragen. Mein Plan bestand darin, ihn morgen einmal
anzurufen, um ihn in mein Büro einzuladen, auch wenn er vorgab,
dass ihn keine zehn Pferde nach Crimson bringen würden. Ich war mir
sicher, dass ich ihn dennoch dazu würde bewegen können.
»Ja?«, antwortete Emma, während sie immer noch tippte.
»Wenn Sie hier fertig sind, können Sie für heute Schluss machen. Heute werde ich Sie nicht mehr brauchen. Ich habe noch allerhand zu tun und bin mir sicher, dass Sie das alles langweilen wird.«
Sie sah zu mir. Diesen Blick hatte ich erwartet. Er glich dem meiner Frau, wenn ihr irgendetwas gegen den Strich gegangen war. Aber ich gestehe: Es war mir völlig gleichgültig. Ich wollte für den Rest meines ersten Tages für mich sein, mich einrichten und meine erste Dienstfahrt absolvieren. Da konnte ich einfach keine Zaungäste brauchen.
»Nun, wenn meine Dienste nicht mehr benötigt werden, dann gehe ich. Ich habe auch noch ein paar Dinge zu erledigen. Ich lege Ihnen die Schlüssel des Büros auf Ihren Schreibtisch.«
Ich sah ihr förmlich an, dass ich ihr das Gefühl vermittelt hatte, nicht gebraucht zu werden, obgleich dies keinesfalls meine Absicht gewesen war.
»Neben dem Telefon liegen noch einige Nummern, die Sie eventuell brauchen könnten. Wir sehen uns dann morgen um zehn Uhr. Schlafen Sie wohl«, fügte sie hinzu, bevor sie aus dem Büro trat und die Tür schloss. Ich vernahm noch den anspringenden Motor ihres Wagens und hörte, wie sie wegfuhr, während der Schnee unter ihren Reifen laut seufzte.
Auf meinem Schreibtisch lagen noch einige Briefe, die mir Emma hingelegt hatte, und ich sah mir die Absender an.
Zwei der drei Briefe stammten von der Polizeibehörde in Fairbanks. Vermutlich ein Willkommensschreiben und der erste Gehaltsscheck. Der dritte Brief jedoch trug keinen Absender und ich öffnete ihn, schon aus reiner Neugierde. Ein staubiger Geruch drang mir in die Nase, und ich musste niesen. Das Papier bestand aus einem seltsamen gelblich gefärbten Stoff, der mich ein klein wenig an einen alten Papyrus erinnerte, obgleich er sich dennoch wie raues Papier anfühlte.
Der Brief selbst war in einer fremden und recht ungewöhnlichen Schrift geschrieben. Ich vermutete Russisch, da die Buchstaben nicht der lateinischen Variante entsprachen. Es konnte sich meiner Meinung nach nur um das kyrillische Alphabet handeln. Ich fragte mich, was dieser Brief bei mir zu suchen hatte? Oder hatte ihn Emma irrtümlich bei mir liegen lassen? Vielleicht war er an sie gerichtet. Aber aus Russland? Ohne jegliche Briefmarke? Hatte sie russische Verwandte, und sie selbst war ebenso Russin? Obwohl ihr Nachname nicht danach klang. Oder war sie verheiratet?
Von Alaska aus gesehen war die Sowjetunion nicht allzu weit entfernt. Ich stand auf und sah mir die Weltkarte an, die an der Wand hinter meinem Schreibtisch angebracht war.
Die Meerenge zwischen Alaska und dem russischen Kamtschatka maß an der schmalsten Stelle der Beringstraße gerade einmal fünfzig Meilen. Nicht unbedingt eine Weltreise, würde ich sagen. Ein seetüchtiges Boot konnte möglicherweise die Strecke zurücklegen.
Nach einer kurzen Überlegung legte ich den Brief auf ihren kleinen Tisch neben der Schreibmaschine und widmete mich wieder meinen Angelegenheiten.
Das Thermometer pendelte sich auf minus neunzehn Grad ein und die Uhr verriet mir, dass es an der Zeit war, eine kleine Rundreise durch Crimson zu machen, bevor die Nacht hereinbrechen würde.
Meine beigefarbene Polizeiuniform passte wie angegossen und der schwarz-weiß lackierte Dienstwagen entsprach meinen Erwartungen: Ein 78er Chevrolet Caprice mit einem leistungsstarken V8-Motor und hundertfünfundsechzig PS unter der Haube. Wenn jetzt noch die Heizung funktionierte, wäre ich sogar bereit gewesen, darin zu wohnen.
Die aufgezogenen Schneeketten sorgten dafür, dass der Wagen auf der Straße blieb.
Ich fuhr ein
ganzes Stück, bis die ersten Häuser der Siedlung zu sehen waren. Da
es nur eine einzige befestigte Straße gab, konnte ich mich nicht
verfahren und schlängelte mich durch das abgeschiedene
Crimson. Ein Haus ähnelte dem anderen. Vielleicht nicht unbedingt
in der Form, aber in der Bauweise. Alte, mit grauen Steinen erbaute Fachwerkhäuser, deren
dunkle Holzbalken wirre Netze an die Außenwände zauberten. Einige
Häuser wiesen im unteren Teil große, hölzerne Scheunentore auf, die
mit schweren Riegeln verschlossen gehalten wurden. Der Zahn der
Zeit hatte schon einiges an den Häusern abgenagt und man sah ihnen
an, dass sie schon mehrere Hundert Jahre hier standen: Ranken und
Risse hatten es sich an ihnen bequem gemacht.
Ich habe die Häuser nicht gezählt, aber zweihundert waren es bestimmt. So hatte Sheriff Teasle also recht gehabt, als er die zweihundert Familien erwähnte.
Dort wo die Straße einen Bogen machte und wieder in Richtung meines Bungalows führte, bemerkte ich, dass sich keiner von diesen gottesfürchtigen Leuten auf der Straße aufhielt. Ich kam mir vor wie in einer alten verlassenen Geisterstadt und ich beschloss, den Wagen anzuhalten und auszusteigen. Als ich den Motor abgestellt hatte und neben meinem Fahrzeug stand, hörte ich förmlich die Stille.
Es war
geisterhaft. Nichts rührte sich, die Häuser standen stumm da und
ihre Fenster starrten mich wie finstere Augen an. Mir war bewusst,
dass ich hier gut zu sehen war und ich stellte mir vor, wie mich
die Bewohner beobachteten. Einige Schneeflocken fielen vom Himmel
herab und ich blickte nach oben.
»Sheriff!«, hörte ich es plötzlich laut hinter mir. Dieses »Sheriff« hörte sich an wie der Ruf, den ich in New Rock gehört hatte, als ich aus dem »Angel’s Bell« herausgetreten war. Oder bildete ich mir dies nur ein?
»Sheriff Dark?«
Sofort drehte ich mich um.
»Das sind Sie doch, oder?«
Etwas entfernt von meinem Wagen stand ein in einen schwarzen Mantel gekleideter Mann, dessen Aussehen ihn deutlich als einen Amish auswies. Sein ergrauter Kinnbart ließ mich erkennen, dass er wohl der älteren Generation angehören musste.
»Kenne ich Sie?«, fragte ich blinzelnd, da die Schneeflocken meine Sicht beeinträchtigten.
»Ich glaube nicht, aber mir wurde berichtet, dass wir einen neuen Sheriff bekommen, obgleich ich sagen muss, dass wir keinen benötigen, was aber nicht bedeuten soll, Sie seien nicht willkommen.«
Sofort fiel mir sein seltsamer Dialekt auf, wobei ich wusste, dass die Amish eine ungewöhnliche Sprache zur Konversation benutzten. Ich glaube man nannte es Pennsylvania Dutch. Eine Art Mischung aus Hochdeutsch und einem schweizerischen Dialekt. Ich nickte und versuchte, freundlich zu lächeln. Immerhin war ich ein Repräsentant der Staatsmacht, oder wollte zumindest wie ein solcher auf ihn wirken. Als ich ihm die Hand reichte, bemerkte ich, wie kalt sie war. Ich schloss daraus, dass er sich schon eine Weile hier draußen aufgehalten haben musste.
»Entschuldigung, ich vergaß mich vorzustellen. Ich bin David Peachey, der gewählte Bischof dieser Siedlung.«
Ein Bischof? Ich vermutete, er meinte wohl, dass er in Crimson so etwas wie ein Bürgermeister und Ansprechpartner war, wenn es um wichtige Angelegenheiten die Siedlung betreffend ging.
»Es freut mich, Sie kennenzulernen. Wer ich bin, wissen Sie ja bereits. Ich dachte mir, ich schaue mir einmal die Siedlung an, in der ich für Recht und Ordnung Sorge trage.«
Ich muss zugeben, meine Provokation mit dieser Aussage war vollste Absicht, da ich seine Reaktion sehen wollte.
Er schüttelte den Kopf.
»Glauben Sie mir, dies wird nicht nötig sein. Hier geschieht nichts, was gegen unsere Gesetze verstoßen würde.«
»Äußerst interessant! Hm, ich hörte andere Dinge. Zum Beispiel über den Mord, der an meinem Vorgänger verübt wurde.«
Ich merkte schon, wie unsere Konversation ins Negative umschwenkte. Weshalb dem so war, konnte ich mit zwei Argumenten beantworten: Erstens konnte ich die Amish mit ihrem übertrieben christlichen Getue irgendwie nicht leiden. Ich vertrat eher die Meinung, dass sie sich vor der Welt verdrücken wollten und sich im Schutz des Glaubens sicher fühlten. Und zweitens ging mir der Mord an einem Sheriff an die Nieren.
Peacheys Gesicht verhärtete sich, und er schien äußerst verärgert.
»Glauben Sie etwa, wir haben auch nur im Geringsten etwas damit zu tun? Ich kann Ihnen nur eines versichern: Wir möchten alles andere als Aufmerksamkeit. Es reicht uns schon, wenn uns die Regierung ins Handwerk pfuscht und zudem brauchen wir keinen Aufpasser. Wir nehmen uns schon selbst in Acht!«
Damit wandte er sich missmutig ab und ging davon.
»Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag!«, fügte er noch hinzu und verschwand in einem der Häuser.
Ich atmete erst einmal tief durch. Da hatte ich mich ja gleich so richtig in die Nesseln gesetzt. Kein Wunder, bei diesen seltsamen Leuten.
Als ich mich noch einmal umsah, glaubte ich jemanden hinter einem der dunklen Fenster zu sehen. Vielleicht spielten mir aber auch nur meine Sinne einen Streich.
Als der Motor meines Wagens wieder lief und ich mich auf dem Weg zum Bungalow befand, waren meine Gedanken in Detroit und ich sehnte mich nach meiner Heimatstadt.
Draußen war es bereits dunkel und ich saß erneut an meinem Schreibtisch. Das Ticken der Kuckucksuhr drang an mein Ohr und raubte mir den letzten Nerv. Ein kleines Kofferradio, welches ich mir von Detroit mitgebracht hatte, übertönte schließlich jenes nervenaufreibende Geräusch, und ich konnte mich ein wenig entspannen.
Vor mir lag der heruntergebrochene Ast, den
ich heute Mittag hinter dem Haus gefunden hatte. Ich inspizierte
ihn genau. An der Bruchstelle selbst konnte ich nichts Auffälliges
erkennen, aber ein Teil der Rinde
sah aus, als wäre sie abgewetzt worden. Ich überlegte. Es wäre
möglich, dass ein Fuß den Ast hatte abbrechen lassen. Dies
bedeutete aber, dass sich jemand auf dem Baum aufgehalten haben
musste. Vielleicht eines der Kinder? Fraglich!
Als ich den Ast wendete, erkannte ich, dass auf einem der Briefe, die sich noch immer auf meinem Schreibtisch befanden, rötlicher Staub lag. Meine Lupe gab Aufschluss: derselbe Staub wie in Sheriff Teasles zusammengefaltetem Stück Papier. Als ich den Ast schüttelte, fiel noch mehr von dieser roten Substanz herab. Was zum Teufel war das nur? Was spielte dieses seltsame dunkelrote Zeug für eine Rolle? Und warum stolperte ich andauernd darüber?
In meinen Gedanken ging ich eine Vielzahl von Möglichkeiten durch, wobei ich zugeben musste, dass allesamt mehr Hirngespinsten glichen als polizeilicher Ermittlungsarbeit.
Ein schrilles Klingeln ließ mich derart
zusammenfahren, dass ich den Eindruck hatte, mein Puls habe die
Schallmauer durchbrochen. Panisch schaute ich mich um, und mein
Blick wanderte sogleich zum Waffenschrank, in dem sich zwei
großkalibrige Gewehre und eine Browning befanden. Doch dann stellte
ich fest, dass das Klingeln vom Telefon auf Emma Garners
Arbeitstisch kam.
»Jake Dark, Sheriffbüro Crimson?«, meldete ich mich, doch es gab keine Antwort.
»Hallo?«, fragte ich erneut und horchte aufmerksam. Ein leises Atmen war zu hören und verriet mir, dass jemand in der Leitung war. Plötzlich wurde aufgelegt.
Kaum ging ich zu meinem Schreibtisch, als es erneut klingelte. Ich zögerte. Keine Ahnung weshalb, aber ich wartete, bis das Klingeln von selbst aufhörte. Im Radio lief eine ruhige Ballade, welche die Situation ein wenig geheimnisvoll erscheinen ließ.
Etwas verwirrt beschloss ich, zu Bett zu gehen und den Tag auf sich beruhen zu lassen. Mit der Absicht, morgen Sheriff Teasle anzurufen, schlief ich glücklicherweise ein.
Es war eben Mitternacht durch, als das Klingeln des Telefons in meinen Traum vordrang und mich weckte. Ich erschrak und ein kalter Schauer lief meinen Rücken hinunter. Ich eilte in das dunkle Büro, und das Klingeln des Apparates drang mir dabei bis in die Seele.
Langsam griff ich zum Hörer und hielt ihn an mein Ohr. Ich beschloss, mich dieses Mal nicht zu melden, sondern abzuwarten.
»Mister Dark?«, sagte eine männliche Stimme, deren Aufregung deutlich zu spüren war.
»Ja? Wer spricht dort?«
»Das spielt zum jetzigen Zeitpunkt keine Rolle. Wichtig ist, dass unser Kontakt geheim bleibt, sonst sind Sie und ich bald tot oder etwas viel, viel Schlimmeres!«
Ich schluckte. Meine Gedanken waren teilweise noch etwas vernebelt, da mir der Schlaf noch in den Knochen saß.
Wer war dieser Typ? Nach Teasle klang er nicht, ebenso wenig nach Parker aus dem »Angel’s Bell«. Die Amish konnte ich ebenso ausschließen, da sie kein Telefon besaßen.
»In Ordnung«, bestätigte ich. »Was wollen Sie von mir?«
Kurzzeitig herrschte Stille, und ich wartete ab. Plötzlich aber durchfuhr mich ein Schrecken: Ein Licht strahlte durch das große Fenster herein und erhellte für Bruchteile einer Sekunde mein Büro.
Was war das? Ich wurde hellwach. Mit weit aufgerissenen Augen starrte ich durch das Fenster, den Hörer fest umklammernd, ohne dass ich auch nur das Geringste entdecken konnte. Das Licht ähnelte einem Fackelschein, nur weitaus heller und durchdringender.
»Fahren Sie morgen früh zum Flughafen nach Fairbanks«, ertönte die Stimme aus dem Telefon und unterbrach meine ungewollte Observierung.
»Sie treffen mich im Restaurant neben dem Chart-in. Und seien Sie pünktlich. Um neun Uhr startet mein Flieger. Ich bleibe keine Minute länger hier als unbedingt nötig. Möglicherweise habe ich wichtige Informationen für Sie, die Ihnen das Leben retten können!«
Bevor ich noch etwas darauf sagen konnte, legte er auf. Verdammte Scheiße! Was sollte dieses Versteckspiel? Wie sollte ich ihn ausfindig machen? Die Vermutung lag nahe, dass er mich erkennen würde.
Leise legte ich den Hörer neben das Telefon und wagte kaum zu atmen, damit ich mögliche Geräusche um mich herum besser wahrnehmen konnte.
Zu meinem Entsetzen ließen diese auch nicht lange auf sich warten. Es begann langsam. Erst vernahm ich etwas, das sich anhörte wie ein leichtes Kratzen an einer Tapete, das sich aber schnell in ein starkes Reiben verwandelte.
Ich war mir nicht sicher, aber mir kam es so vor, als ob jemand auf dem Dach auf und ab ging. Ich kombinierte: Meist wurden auf Bungalows Kieselsteine oder Ähnliches verteilt, um die wasserabweisenden Bitumenbahnen vor extremer Sonneneinstrahlung zu schützen. Diese Schritte übertönten selbst die Kuckucksuhr im Büro.
Ein lauter und kraftvoller Schlag gegen die Tür ließ alle weiteren Geräusche blitzartig verstummen. Selbst der Wind schien schwächer zu werden. Eine weitere törichte Einbildung meiner Fantasie.
Mein Herzschlag normalisierte sich nur schleppend und meine Gedanken arbeiteten im Schichtwechsel: Das ungewöhnliche Telefonat und dieser seltsame Besuch auf meinem Dach!
Da ich nicht zuordnen konnte, ob ich mich in
einer lebensbedrohlichen Situation befand oder nicht, versuchte ich
meine Angst unter Kontrolle zu
halten. Ich muss zugeben, ich fühlte dabei kaum etwas, was mich im
gewissen Sinne ein wenig beunruhigte, da ich ein Mensch bin, der
von seinen Emotionen gelenkt wird. Mein ausgeprägter
Überlebenswille ließ mich auf stur schalten. Angst zu haben war der
beste Weg, falsche Entscheidungen zu treffen, und dies konnte und
wollte ich nicht zulassen. Ein klarer Kopf war in dieser Situation
wichtig.
Eine Zeit lang unternahm ich nichts, bevor ich mich langsam zum Waffenschrank schlich und die Pumpgun aus dem Schrank holte. Leise nahm ich die Patronen, die ich eine nach der anderen in den Lauf schob und schließlich durchlud. Mit schussbereiter Waffe schlich ich mich zur Eingangstür und öffnete sie vorsichtig.
Ich hatte alles erwartet und war auf alles vorbereitet, selbst wenn es die besessene Linda Blair aus »Der Exozist« gewesen wäre, doch außer der nächtlichen Kälte erwartete mich nichts und niemand.
»Ist jemand hier!?«, rief ich, doch die Antwort war ein vorbeifliegender Kauz, der seine Nachtschreie von sich gab.
Lange sah ich mich um. Ich dachte mir, wenn sich irgendwer hier aufhielte und ich lange genug warten würde, wäre die Chance größer, diesen Jemand zu erspähen. Niemand konnte sich ewig in einem Versteck aufhalten, nicht bei dieser Kälte. Doch ich irrte mich.
Der leichte Schneefall und der unerbittliche Frost trieben mich wieder nach drinnen. Doch dann fiel mir ein Gegenstand auf, der links neben der Tür im Schnee lag. Ich ging stark davon aus, dass dieses Ding die Ursache für den Schlag gegen die Tür gewesen war.
Ich kniete nieder. »Verflucht noch mal«, sagte ich leise. Vor meinen Füßen lag mein 45er Colt! Ich war mir nun sicher, dass irgendwer hier gewesen war und dieser Jemand war niemand anderes als der nächtliche Dieb.
Aufgeregt nahm ich die Waffe an mich und schloss die Tür. Der Teufel war heute mein Gast!
An meinem Schreibtisch prüfte ich mein wiedererlangtes Schießeisen. Ich stellte fest, dass alle sechs Patronen fehlten und roch an der Trommel. Ein Geruch aus Schwarzpulver und Schwefel reizte meine Nase. Verdammt, verdammt! Mit dieser Waffe war erst vor Kurzem geschossen worden. Das bedeutete ein gewaltiges Problem: Dieser Colt war auf mich registriert!
Mit sorgenvollen Gedanken lehnte ich mich in meinem Schreibtischstuhl zurück, setzte mir meinen Hut mit dem Stern auf und starrte an die Decke. Furchtbar, wie das Leben so spielte: Ich saß inmitten von Alaska, mit langer Unterhose und einem Sheriffhut auf meinen Kopf, in einem leeren Büro, umgeben von höchst seltsamen Menschen, die einen nicht gerade mit einem Lächeln willkommen hießen!
Morgens um sechs rasselte mein Wecker und riss mich aus einem Traum, den ich nur zu gern noch eine Weile genossen hätte: Ein unbekanntes, junges Mädchen war äußerst scharf auf mich und ließ seinen Trieben freien Lauf.
Den Lärm des Weckers schloss ich in meinen Traum mit ein; er verkörperte die Alarmglocken einer Feuerwache! Welch ein Durcheinander!
Auf der Fahrt nach Fairbanks ließ ich mir die Nacht noch einmal durch den Kopf gehen. Doch die Spuren auf meinem Dienstwagen, welche mich heute Morgen überrascht hatten, ließen mir ebenso keine Ruhe! Da hatte sich jemand richtig große Mühe gegeben, in den Schnee, der den Wagen bedeckte, die Worte »Cheese it« zu schreiben. Dieser Ausdruck bedeutete, dass ich abhauen sollte. Als ob ich dies nicht selbst wollte. Ich schlug mit beiden Händen auf das Lenkrad und kam durch diesen Irrwitz beinahe noch ins Schleudern. Doch was mich wirklich beunruhigte war, dass die Schrift nicht mit der Hand in den Schnee gezeichnet, sondern mit Blut in die weiße Pracht getröpfelt worden war!
Dass es sich dabei um Tierblut gehandelt haben musste, war deutlich zu erkennen, da ich neben meinem Wagen eine geköpfte Katze vorgefunden hatte. Grausam!
Hatte ich es hier nur mit Kranken zu tun? Mich schüttelte es und ich stellte das Radio an. Es lief ein Song von Chris Young, »Gettin’ you home«, und ich dachte daran, alles hinzuwerfen und wieder in meine Heimat zurückzukehren und, wenn es sein musste, auch als Penner unter einer Brücke zu leben! Verflucht noch mal!
Als ich durch New Rock fuhr, grüßten mich plötzlich wildfremde Leute, und aus reiner Höflichkeit nickte ich zurück, obwohl ich sie weitaus lieber alle überfahren hätte!
Auf der Interstate 3 fühlte ich mich wieder ein wenig sicherer, und ich dachte daran, dass ich vor zwei Tagen hier zum ersten Mal entlang gefahren war. Es kam mir jetzt schon wie eine halbe Ewigkeit vor.
Durch den immer dichter werdenden Verkehr und die vielen Zufahrtsstraßen erkannte ich, dass ich Fairbanks erreicht hatte und steuerte den Flughafen an.
Kurz vor acht Uhr hielt ich schließlich auf dem Parkareal und stolzierte mit meiner neuen Sheriffuniform durch die Flughafenhalle. Ich hielt Ausschau nach dem Chart-in. Ich fand es schnell, denn hier hatte ich meinen Koffer nach meiner Ankunft abgeholt.
Ich wusste nicht, was mich nun erwarten würde.
Möglicherweise war dies eine
Falle, und man wollte mich einfach nur abmurksen. Aber dann
hätte man mich vermutlich in einen Wald gelockt und nicht mitten in
eine große Menschenansammlung.
Was sollte ich diesem Unbekannten sagen? Vielleicht »Hallo, Sie haben heute Nacht jemanden zu Tode erschreckt und ich bin der Geist dieser Person und will mich an Ihnen rächen«? Ich wusste es beim besten Willen nicht.
Beim Betreten des Flughafenrestaurants wurde
mir ein wenig mulmig in der Magengegend und ich schaute mich
aufmerksam um. Fast jeder Tisch war belegt und ich fragte mich, ob
mich jemand zum Narren halten wollte, als mich plötzlich eine Hand
herwinkte. Dort drüben saß ein Mann in einem zweitklassigen Anzug.
Er hatte vor sich ein halb leeres Glas stehen und vermittelte den
Eindruck, dass er tagelang nicht geschlafen hatte. Kein Wunder,
wenn er nachts ahnungslose Menschen anruft und sie
erschreckt!
»Setzen Sie sich, Mister Dark«, sagte er und deutete auf den freien Stuhl an seinem Tisch.
Mit
gemischten Gefühlen gesellte ich mich zu ihm. Er wirkte ungepflegt
und wusste offenbar nicht, dass die Menschen den Rasierapparat
erfunden hatten. »Schön, dass Sie gekommen sind!«
»Kommen Sie zur Sache«, unterbrach ich ein wenig genervt, da ich bestimmt nicht in aller Herrgottsfrühe aufgestanden war, um am überfüllten und ungemütlichen Flughafen Small Talk mit einem Unbekannten zu halten.
»Beruhigen Sie sich, Mister Dark. Hier sind Sie sicher!«
Ich atmete tief durch.
»Sie fragen sich bestimmt, wie ich dazu komme,
Sie mitten in der Nacht anzurufen, um Ihnen so etwas Seltsames zu
erzählen, nicht wahr?«
»Allerdings! Ich muss zugeben, ich spielte mit dem Gedanken, nicht hier aufzutauchen, oder Sie festzunehmen!«
Er lächelte. »Bleiben Sie ruhig, Mister Dark, und bestellen Sie sich einen Drink. Sie werden ihn brauchen.«
»Im Dienst bleibe ich trocken«, entgegnete ich.
»Privat nicht?«, schmunzelte er und bestellte sich noch einen doppelten Whisky.
Ich wurde ein wenig unruhig und brannte darauf, endlich zu erfahren, was für einen Sinn dieses Treffen hatte.
»Mein Name ist Robert Shankle und ich war neun Jahre lang Deputy in New Rock.«
»Deputy? Also, einer der Männer von Sheriff Teasle?«
Er nickte und sah dabei auf seinen Drink.
»Warum verlassen Sie New Rock und warum zum Teufel erzählen Sie mir das?«
Er sah wieder auf.
»Ich verlasse nicht nur New Rock und Fairbanks, sondern ich verschwinde ganz aus Alaska!«, betonte er mit einem äußerst scharfen Ton.
Meine Bestellung einer Coke unterbrach unsere Unterhaltung, und dies schien ihn ein wenig zu beruhigen. Nachdem der Kellner unseren Tisch verlassen hatte, nahm ich den Gesprächsfaden wieder auf.
»Sie sagten, Sie hätten Informationen für mich, die mein Leben retten könnten. Von was sprechen Sie und warum tun Sie das für mich?«
Er wartete einen Augenblick, während er sich umsah.
»Ich kenne Sie kaum, Mister Dark. Ich wusste nur, dass Sie Steve Brauner ersetzen. Sam hat mir von Ihnen erzählt.«
»Sam?«, fragte ich nach.
Er lachte. »Entschuldigen Sie, ich lache nur zu gern über diesen alten Haudegen. Ich vergaß, dass es gegen seinen Kodex verstoßen würde, seinen Vornamen preiszugeben, es sei denn, man kann sich als seinen Freund bezeichnen.«
»Was sagt er eigentlich zu Ihrer Flucht aus Alaska?«, fragte ich und nahm einen kräftigen Schluck von der Coke.
»Sheriff Teasle ist tot!«, antwortete er ernst.
Ich verschluckte mich und hustete heftig.
»Wie bitte?«
»Sie hören schon richtig, Mister Dark. Und dies ist auch einer der Gründe, weshalb ich aus dieser verfluchten Gegend verschwinde!«
Ich hustete immer noch. »Aber ich war doch erst vor zwei Tagen mit ihm im ›Angel’s Bell‹!«
»Das weiß ich, denn ich war ebenfalls dort. Außerdienstlich natürlich, deshalb haben Sie mich nicht gesehen.«
»Warum ist Teasle tot? Wie ist er gestorben?«
Mister Shankle schluckte. »Er ist erschossen worden!«
»Erschossen? Aber wie? Wann und wo soll das passiert sein?«
»An jenem
Abend, kurz bevor Sie nach Crimson aufgebrochen waren, verließ ich
das ›Angel’s Bell‹, um nach Sam zu sehen. Ich sah ihm förmlich
seine Unruhe an, deren Gründe ich nicht näher erläutern will. Ich
folgte ihm, da er schon etwas zu viel getrunken hatte und ich
sichergehen wollte, dass er unbeschadet nach Hause findet. Nun ja,
er wohnte nicht weit, und kurz bevor er in seine Wohnung
hinaufging, fing ich ihn ab.«
Mister Shankle pausierte kurz, als ob er nachdenken würde.
»Seine Wut über Steves Tod saß derart tief, dass er immer noch trauerte und wohl nie darüber hinweggekommen wäre. Ich nehme ihm das nicht übel, dass er mir aus reiner Verzweiflung ins Gesicht geschlagen hat. Ich habe ihm angesehen, dass es ihm hinterher leidtat, aber ich gab dem Alkohol eine Mitschuld. Steve und Sam waren seit ihrer Kindheit Freunde gewesen, verstehen Sie? Er sagte zu mir, dass er den Gerichtstermin in Fairbanks habe sausen lassen, worauf ich ihn laut anschrie. Was glauben Sie, was einem blüht, wenn man einen Gerichtstermin nicht wahrnimmt, vor allem als Polizist?«
»Er hatte einen Gerichtstermin? Deshalb war er auf dem Weg nach Fairbanks? Und er sagte noch, er könne diesen Termin verschieben, als er mich nach New Rock begleitete.«
»Von wegen verschieben. Das sieht ihm ähnlich. Er fühlte sich einfach nicht schuldig, und das gesamte Kollegium stand hinter ihm. Doch was können Deputies schon ausrichten?«
»Um was ging es denn bei diesem Termin?«, fragte ich neugierig.
»Wenn Sie es genau wissen wollen, das FBI hatte eine Ermittlung gegen ihn laufen, welche ihn womöglich den Posten gekostet hätte, inklusive einer unehrenhaften Entlassung. Und das in seinem Alter: Keine Aussicht auf eine angemessene Pension, geschweige denn, dass er noch einen vernünftigen Job hätte bekommen können.«
»Ich gehe davon aus, dass er nicht unter Mordverdacht an Mister Brauner stand?«
»Nur halbwegs, Mister Dark. Nur halbwegs. Sagen wir so, man ließ es darauf beruhen, doch seine Reaktionen gegenüber den ermittelnden FBI-Detectives überschatteten fast schon den Mord an seinem besten Freund.«
»Was ist passiert?«
»Nachdem die Leute dieser Anzugsbehörde, deren Krawatten nach jeder Auseinandersetzung neu positioniert werden müssen, den Fall schnell und unprofessionell abgeschlossen hatten, rastete Sam aus. Er war doch Steves Freund gewesen!«, wiederholte der Deputy erneut.
»Was meinen Sie mit ausrasten, Mister Shankle?«
»Nennen Sie mich, Robert. Wir sind doch schließlich Kollegen.«
»Okay, Robert«, nickte ich ihm zu und wir gaben uns die Hände.
»Teasle schlug einen der leitenden FBI-Ermittler nieder!«
Das war natürlich heftig! Kurz kam mir der Gedanke, dass ich richtig Glück gehabt hatte, mir keine von Teasle einzufangen.
»Jake, glauben Sie mir, wenn ich Ihnen sage, dass ich Sam verstehe! Diese FBI-Fritzen taten nicht das Geringste, um den Fall aufzuklären.«
»Gibt es einen Grund dafür?«
Roberts Nicken verriet mir, dass er eine Vermutung hegte.
»Einer der Gründe war, dass die Leute des FBI keine große Lust verspürten, in dieser Kälte ihre Ermittlungsarbeit fortzuführen, da die Witterung alles enorm erschwert hat. Es begann bereits bei der Spurensicherung: Blut friert schneller und vermischt sich rasend schnell im Schnee, Fingerabdrücke sind kaum sicherzustellen, Patronenhülsen verschwinden in den Schneemassen und so weiter. Ich könnte Ihnen noch eine ganze Reihe von solchen Problemen aufzählen, aber Sie wissen bestimmt genauso viel darüber wie ich. Gerade was den Mord an Teasle angeht, stehen wir vor einem weiteren Rätsel, obgleich ich sagen muss, dass ich allemal aus der Sache raus bin.«
Ich schüttelte fragend den Kopf.
»Der Sheriff von New Rock ist tot, und bis ein neuer seinen Platz einnimmt, schicken sie für den Übergang einen aus Detroit.«
»Detroit?«, horchte ich auf.
»Ja, einen von den FBI-Leuten. Er wurde natürlich sofort auf den Fall angesetzt und unsere Deputies müssen ihn dabei tatkräftig unterstützen, hieß es von der zuständigen Behörde.«
»Wissen Sie denn, wen sie aus Detroit schicken?«
»Ich glaube sein Name war Marc Richmont!«
Ich schloss die Augen, und mir wurde speiübel. Das durfte nicht wahr sein. Diesen Richmont hatte ich gefressen. Wir hatten oft Streitigkeiten, und als ich ihm damals auch noch Mrs. Cole weggeschnappt hatte, konnte ich es in seinen Augen sehen, dass er mich am liebsten über den Haufen geschossen hätte.
»Kennen Sie den?«, fragte Robert.
»Flüchtig«, antwortete ich zähneknirschend.
»Wie dem auch sei, heute um zehn Uhr wird er auf dem Flughafen ankommen und sich direkt nach New Rock begeben.«
»Zehn Uhr schon?«, rief ich aus.
Diesem Richmont wollte ich auf keinen Fall über den Weg laufen, obgleich ich mir sicher war, dass eine Begegnung bald unvermeidlich sein würde.
Robert nickte.
»Er wird wohl sofort nach Aufnahme des Mordfalls die Waffe sehen wollen, die ihm meine nun ehemaligen Kollegen nicht präsentieren können«, sprach er weiter, wobei ich in seiner Stimme eine Art von Hoffnungslosigkeit zu hören glaubte.
»Die Mordwaffe? Hat man sie nicht gefunden?«
Robert schüttelte den Kopf und nahm seine Geschichte wieder auf.
»Nachdem ich Sam ein wenig beruhigt hatte, und er in seine Wohnung hinaufging, lief ich noch ein paar Schritte auf und ab, um sicherzugehen, dass dieses alte Rhinozeros keine Dummheiten mehr anstellt. Ich wartete, bis das Licht in seiner Wohnung erloschen war und lief danach wieder zu meinem Wagen, der noch vor dem ›Angel’s Bell‹ stand. Dann sah ich ihn!«
Bei seinem
letzten Satz sah ich ihm förmlich an, dass die Angst ihn
vollständig unter Kontrolle hatte. Sein Gesicht wurde weiß wie eine
frisch gestrichene Wand. Er zitterte, als er seinen Whisky auf Ex
trank, und in seinen Augen stand die blanke
Furcht.
»Wen sahen Sie, Robert? Den Mörder von Teasle?«
»Ich weiß es nicht, ob er oder es der Mörder war. Ich weiß nur, dass ich diesen Anblick seit vielen Jahren nicht mehr gesehen habe. Es ist schrecklich!«
Robert Shankle zitterte am ganzen Körper.
»Beruhigen Sie sich, Robert. Eines nach dem anderen. Erzählen Sie mir von der Mordwaffe. Möglicherweise gibt mir das Aufschluss über die Tat.«
»Teasle wurde hingerichtet!«
»Sie meinen, es war ein Mord aus Rache?«
»Nein, nicht aus Rache. Da sollte wohl eher ein Exempel statuiert werden. Er mischte sich zu sehr in Angelegenheiten ein, von denen er besser nichts hätte wissen sollen.«
»Was meinen Sie?«
»Hier werden alle beobachtet. Alles was ich Ihnen hier erzähle, kann ich nur tun, weil ich dieses Land in einer halben Stunde verlassen werde. Sonst wäre ich der Nächste auf der Liste!«
»Glauben Sie etwa, das FBI hat damit etwas zu tun?«
»Nein, Jake, so etwas traue ich selbst dieser Anzugsbehörde nicht zu. Es war niemand anderes als der, dessen Mantel die Farbe Dunkelrot hat!«
»Von wem zum Teufel sprechen Sie?«
»Jake, wenn man jemanden ermordet, ist das eine furchtbare Sache, aber jemandem sechs 10-mm-Patronen ins Gesicht zu schießen, grenzt an eine teuflische Grausamkeit!«
Ein dumpfes Gefühl machte sich in mir breit.
»Sechs Patronen, sagen Sie?«
»Eine ganze
Trommel, ja. Solche Patronen findet man nur in 45er Colts. Aber wie
gesagt, die Waffe haben wir nicht gefunden!«
Shit! Mir war nun völlig klar, wo sich diese Waffe befand: Bei mir auf dem Schreibtisch, und sie war voll von meinen Fingerabdrücken. Damit war ich plötzlich der Hauptverdächtige in einem Mordfall. Alles deutete darauf hin: Ich war am Abend von mehreren Dutzend Menschen mit Teasle gesehen worden, und eine auf mich registrierte Waffe, deren Patronen in seiner Leiche steckten, war die Tatwaffe. Da wollte mich jemand fertigmachen!
Am besten sollte ich gleich Alaska verlassen, oder besser noch den ganzen Planeten!
»Sagen Sie, Robert, hat man die Hülsen gefunden?«
»Dummerweise nicht. Der Mörder hat sie verschwinden lassen, somit ist es weitaus schwieriger herauszufinden, mit welcher Waffe geschossen wurde.«
Erleichtert atmete ich auf. In gewissem Sinne war ich froh, aber dennoch war ich mir genauso sicher, dass der Mörder mich nun völlig unter Kontrolle hatte. Ein kleiner Hinweis von ihm und ich landete auf dem Stuhl, dessen Stromkosten bei jeder Sitzung enorm in die Höhe stiegen, oder ich fand mich als Seifenhalter in einer Dusche voller Schwarzer wieder, die nur darauf warteten, ein neues Schnitzel durchzuklopfen!
Das wäre ein gefundenes Fressen für Mister Richmont!
»Aber das ist nicht der Hauptgrund meiner Flucht«, fuhr Robert fort.
»Ist es der Kerl mit dem dunkelroten Mantel?«, fragte ich nach, als mir plötzlich wieder dieses Stück Stoff einfiel, welches ich unter meinem Wagen an der Schranke gefunden hatte.
Robert nickte und rieb sich mit beiden Händen über sein Gesicht.
»Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche.«
»Hatte Sam sich denn viele Feinde gemacht?«
»Nein, soweit
ich weiß nicht. Ich weiß nur, dass er sich in Angelegenheiten
eingemischt hat, über deren Größe er sich anscheinend nicht bewusst
war. Immer wieder habe ich ihn darauf hingewiesen, aber er konnte
seine Ermittlungen stets gut von uns fernhalten. Der Einzige, der
etwas davon mitbekam, war ich.«
»Und dieser Parker? Weiß er von Teasles privaten Nachforschungen?«
»Hmm, ich
denke, ein wenig schon. Oft saß Sam am Tre-
sen und sprach mit ihm. Wer weiß, über welche Themen sie
diskutierten. Aber das ist nun völlig gleichgültig. Ich bin hier,
um Sie zu warnen. Verschwinden Sie, so lange es noch geht!«
»Sie waren
nicht zufällig heute Nacht an meinem Dienstwagen?«
»Nein, wieso?«
»Ein Scherzkeks hatte mir einen Hinweis gegeben, dass ich verschwinden solle.«
Robert Shankle riss die Augen auf.
»Jake, nehmen Sie das nicht auf die leichte Schulter. Sehen Sie denn nicht, was hier vor sich geht? Hier tötet jemand Cops!«
»Sie denken, Brauner wurde ebenso getötet, weil er seine Nase in gewisse Dinge gesteckt hat?«
»Ich vermute es stark«, antwortete Robert.
»Sam und Steve hatten vor einigen Monaten einen Verdacht. Fragen Sie mich bitte nicht, welchen. Sie murmelten etwas von den Amish und der Siedlung Downfall. Gehen Sie auf gar keinen Fall nach Downfall. Ein Cop wird dort nicht gebraucht.«
»Waren Sie schon einmal dort?«
»Ja, einmal. Da war ich noch ein Kind. Ich bin in New Rock aufgewachsen. Damals war es noch kleiner und von den Siedlungen hat man kaum etwas gehört. Bis auf einmal ...«
»Auf was spielen Sie an? Ich erinnere mich daran, das Teasle etwas erwähnt hat, die wollten dort keine erneute Story. Hat das damit etwas zu tun?«
Robert schwieg und sah auf die Uhr.
»Eine Viertelstunde haben Sie noch. Nun erzählen Sie schon«, drängte ich ihn.
»Damals, als Kind, war es eine außerordentliche Mutprobe, zu den Siedlungen zu gehen. Während die im Winter kaum zu erreichen waren, konnten wir wenigstens im Sommer die Straße von Crimson aus nach Downfall mit unseren Fahrrädern befahren. Nun ja, wir waren nicht lange genug dort, um etwas Wichtiges zu erspähen, aber der eine Anblick hat uns gereicht.«
»Was haben Sie entdeckt?«
»Vielleicht enttäusche ich Sie damit, aber wir sahen nur alte Holzhütten, und dahinter einen großen Friedhof, auf dem sie ihre Toten beerdigt haben, bis auf den heutigen Tag, so sagt man es zumindest. Wie dem auch sei, in der Mitte dieses Friedhofes stand ein gewaltiges Kreuz, dessen Anblick mich in die Flucht geschlagen hat.«
»Warum?«
»Ich kann es Ihnen nicht näher erläutern, dazu fehlen mir die Details der Erinnerung. Ich weiß nur noch, dass das Kruzifix irgendwie ganz anders war, als die Kreuze, wie ich sie kannte.«
»Aber was hat das mit dieser nicht gewollten Schlagzeile zu tun, von der Teasle erzählt hat?«
»Vor ungefähr zwölf Jahren gab es hier einen Serienmörder!«
Ich atmete schwer aus. Das Ganze war wirklich
harter Tobak, und Roberts Blick zur Uhr trieb mich dazu, noch so
viel wie möglich zu erfahren.
»Es besteht ebenso die Vermutung, dass es sich um eine Gruppe von Serienmördern gehandelt hat!«
»Ich möchte Ihnen wirklich nicht zu nahetreten, Robert, aber Serienmörder sind Einzelgänger. Ich kenne keinen einzigen Fall, bei dem das nicht so ist. Außer Charles Manson vielleicht, obgleich er selbst nie einen Mord begangen hat, sondern nur der Kopf der kranken Bande gewesen ist.«
»Sie haben vielleicht recht, Jake, aber weder Ihre Ansicht noch meine ist beweisbar, da diese Taten nie aufgeklärt worden sind. Man ließ es auf sich beruhen. Selbst die Zeitungen in Fairbanks durften nicht darüber berichten. Aber Sie können sich ebenso denken, dass solch eine Story nicht ganz zu ersticken war. Ein paar kleine Zeitungen in der Gegend berichteten darüber. Auch die damalige Zeitung in New Rock, die Daily Sensation.«
»Damalig? Heißt das, dass es sie nicht mehr gibt?«
»Kurz darauf hatte Fairbanks sie schließen lassen!«
»Wie viele Morde gab es?«
»Zu dieser Zeit war ich noch nicht Deputy, und es könnte sein, dass ich mich täusche, aber wenn ich mich recht erinnere, sind elf Menschen gestorben!«
»Gab es Hinweise auf Verbindungen der Opfer?«, wollte ich wissen.
»Soviel ich weiß nicht. Das Einzige was sie verband war, dass sie alle aus New Rock stammten. Aber ich glaube sogar, dass es ebenso einen aus Fairbanks erwischt hatte.«
»Handelte es sich bei den Opfern um Männer und Frauen?«
»Jetzt, da Sie es erwähnen, Jake: Es waren auch Frauen dabei, aber ich glaube nur eine.«
Ich atmete tief durch und versuchte, meine Beunruhigung im Zaum zu halten.
»Sheriff Teasle übernahm damals den Fall, konnte ihn aber nie aufklären. Nur eins konnte er mit Gewissheit sagen: Die Spur führte ihn jedes Mal zu den Siedlungen der Amish.«
Ich lehnte mich zurück. Dass die Amish Mörder oder gar Serienkiller sein sollten, konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Gut, Opfer hatten die Amish wohl keine zu verzeichnen, aber möglicherweise wollte ihnen jemand ans Leder und hatte eine falsche Spur gelegt. Ich verstand nur den Grund dafür nicht. Allmählich konnte ich mir ein Bild von dieser Gegend machen, und ich verstand die abweisenden Reaktionen von Sam Teasle. Armes Schwein!
Robert trank seinen letzten Drink und gab mir zu verstehen, dass er nun aufbrechen müsse. Mit etwas Geschick konnte ich ihn dazu überreden, noch einen Augenblick zu bleiben: Ich gab ihm das Schriftstück von Teasle.
»Elsa Below«, las er, während er seine Stirn in tiefe Falten legte. Er schüttelte den Kopf.
»Sagt mir leider nichts.«
»Erkennen Sie wenigstens die Schrift?« fragte ich.
Nach einer kurzen Überlegung lächelte er.
»Das ist die Schrift von Sam!«
Ich nickte.
»Sie haben recht, und da Sie es nun bestätigt haben, hege ich keinen Zweifel mehr daran. Er hat es mir am Abend vor seinem Tod gegeben.«
»Hat er es Ihnen wortlos übergeben?«
Ich nickte.
»Das ist ja eben das Problem. Ich wollte ihn aus diesem Grund heute kontaktieren, um Aufschluss über diese Nachricht zu bekommen. Ich konnte ja nicht voraussehen, dass das Schicksal mir diesen Plan vereiteln würde.«
»Es tut mir leid, dass ich Ihnen in dieser Hinsicht nicht behilflich sein kann. Der Name auf dem Stück Papier sagt mir nicht das Geringste.«
»Welchen Männern kann ich vertrauen?«, fragte ich und spielte auf die Deputies im New-Rock-Bezirk an.
»Auf jeden einzelnen Mann können Sie zählen, so wahr ich hier vor Ihnen sitze. Unter Teasles Leitung machte die Arbeit doppelt so viel Spaß. Wissen Sie, wir respektierten ihn, so wie er war, und auf ihn konnte man sich verlassen.«
»Ich frage Sie ungern, aber wo fand man Brauner genau?«
»Diese Frage könnte Ihnen nur Teasle beantworten. Er sprach darüber nie ein Wort.«
Kopfnickend stellte ich aus reiner Höflichkeit meine Fragerei ein. »Es ist neun Uhr. Ich möchte nicht, dass Sie wegen mir den Flieger verpassen.«
»Keine Sorge«, antwortete er lächelnd. »Ich fliege selbst.«
Mein fragender Blick motivierte ihn zu einer ausführlichen Antwort.
»An meinem zwölften Geburtstag bekam ich von meinem Vater einen Flug mit einem Doppeldecker geschenkt, der mich so faszinierte, dass ich meinen Flugschein schon mit einundzwanzig erwarb. Es gibt nichts Schöneres, als weit oben am Himmel zu sein. Einfach alles hinter sich zu lassen, all diese weltlichen Probleme vergessen zu können. Ein wunderbares Gefühl, sage ich Ihnen.«
Roberts Blicke schienen vernebelt und ich sah ihm an, dass er sich in seinen Gedanken bereits in der Luft befand.
»Dann haben Sie bestimmt noch ein Weilchen Zeit, da ich noch einige Fragen habe, die unbedingt der Aufklärung bedürfen.«
Er schaute wieder ernster drein.
»Ich muss Sie leider enttäuschen, Jake. Aber auf dem Nebenrollfeld bekommt man nur einmal am Tag die Starterlaubnis. Nehmen Sie es mir also nicht übel, wenn ich nun aufbreche.«
Er stand auf und ich folgte seinem Beispiel, während er mir erneut die Hand reichte.
»Eine Frage noch«, ergänzte ich. »Wo befindet sich die Leiche von Teasle jetzt?«
»Sie ist beim Bestatter von New Rock. Doch bevor sie jemand begutachten kann, bedarf es der Freigabe.«
Ich zog die Augenbrauen hoch. »Lassen Sie mich raten: Die Freigabe erfolgt durch Mister Richmont?«
»Sie haben es erfasst!«
Robert nahm seinen kleinen Koffer und lief in Richtung Check-in. Doch bevor er hinter einer Wand verschwand, sah er sich noch einmal zu mir um.
»Passen Sie auf sich auf und trauen Sie niemandem!«
Er verschwand
allmählich in der Menschenmenge, und das Letzte, was ich von ihm
sah, war eine kleine fliegende Cessna, weit oben am Himmel,
die weltlichen Probleme hinter sich lassend.