ZWEITER TAG

Der zweite Engel blies seine Posaune. Da wurde etwas,
das einem großen brennenden Berg glich, ins Meer geworfen.
Ein Drittel des Meeres wurde zu Blut.

Offenbarung Kapitel 8 Vers 8

Während die Nacht das eiskalte Land vollständig umfing, versuchte ich die Rücklichter des Sheriffs nicht aus den Augen zu verlieren, was sich als ziemlich schwierig erwies, da der Schneefall enorm zugenommen hatte. Es kam mir so vor, als ob ich in eine andere Welt vorgedrungen war, seit ich die Interstate verlassen hatte. Die Straße wurde holpriger, die Kälte klirrender, und meine Gedanken, die auf der Fahrt von Fairbanks zu dieser Yukon Street zuweilen mit einigen warmen Erinnerungen aufgefrischt wurden, verwandelten sich langsam, aber sicher in eisige Zukunftsprophezeiungen.

Eine ganze Weile schon hatte ich auf der Strecke keine Häuser oder andere Anzeichen von Zivilisation mehr gesehen. Ich fragte mich, wohin mich der Sheriff führen würde. Auf dieser schneebedeckten Straße, deren Kurven ebenso zahlreich waren wie ihre Schlaglöcher, empfand ich es schon als Herausforderung, den Radioknopf zu betätigen. Doch es gelang mir schließlich. Wie erstaunt war ich, als ich plötzlich Musik aus den Lautsprechern vernahm, die in meiner Fahrertür integriert waren. Ich hatte fest daran geglaubt, dass ich hier nirgends Empfang haben würde.

Nun, ich musste zugeben, dass es eine meiner wenigen Spezialitäten war, fest an Dinge zu glauben, die sich negativ auf mich auswirkten. Murphys Gesetz war seit meiner Scheidung ein fester Bestandteil meines Lebens.

Allerdings konnte ich nur wenige Sender empfangen; entweder war das Rauschen so enorm, dass ich kein Wort verstand, oder es war eine dieser typischen Radiostationen, in denen sich die Moderatoren gerne selbst reden hören. So blieb mir wohl nichts anderes übrig, als diesen Countrymusic-Sender einzustellen, den Sheriff Teasle wohl ebenso hörte.

Während ich mir eine Zigarette ansteckte, schüttelte ich den Kopf und konnte es kaum fassen, welche weiteren, verrückten Zufälle mir das Leben noch zuspielte. Der Song, der gerade im Radio lief, war »Detroit City« von Johnny Cash.

Das Dunkle schien allgegenwärtig, und wenn es nicht so ernst gewesen wäre, hätte ich lauthals losgelacht.

Doch wo es Schatten gibt, existiert auch Licht, und so führte die Fahrt nach weiteren zwanzig Meilen auf diesem von Löchern verseuchten Straßenimitat an einem zugeschneiten Ortsschild vorbei, das mir mit seinen weißen Buchstaben »New Rock« ankündigte – obwohl ich es erraten musste, da ich effektiv nur »w Ro« erkannte. Aber was sollte es sonst sein?

Jetzt verstand ich auch die Aussage des Sheriffs, als er gemeint hatte, ich werde auf dieser Straße vergeblich nach Verkehrsschildern suchen. Völlig klar! Selbst wenn es welche gäbe, wären diese ohnehin mit Schnee verdeckt gewesen. Ich schüttelte den Kopf, während ich immer angestrengter auf die verschwommenen Lichter des vor mir herfahrenden Dienstwagens der Interstate Police starrte, was mir durch meine laufenden Scheibenwischer erschwert wurde.

Teasle gab mir mit Handwinken zu verstehen, dass ich ihm wohl folgen sollte, nachdem wir die Kleinstadt New Rock nach einer weiteren halben Meile erreicht und die Hauptverkehrsstraße verlassen hatten.

Ich fragte mich, warum er nun einen anderen Weg einschlug. Die Siedlung lag wohl noch einige Meilen nördlich von hier, und meist führten doch die Hauptstraßen durch Ortschaften hindurch.

Endlich! Inmitten eines Landes, das aus Einsamkeit, Schnee und Kälte bestand, erreichten wir die Kleinstadt. Während ich weiter hinter dem Sheriff herfuhr, ließ ich meinen Blick schweifen. Ich sah Straßenbeleuchtungen, Häuser, in denen Lichter brannten, und ich genoss es, an einer roten Ampel zu warten, obwohl diese absolut unnütz war: Es stand niemand an dieser Kreuzung, mit Ausnahme unserer beiden Fahrzeuge.

Ich musste noch zweimal abbiegen, bevor Sheriff Teasle vor einem Haus anhielt, dessen große Fenster und das gut beleuchtete Schild »Angel’s Bell« über dem Eingang mir verrieten, dass es sich um eine Kneipe handelte, deren Qualität dem »Walker« ähneln musste.

Wollte mich der Sheriff zu einem Drink einladen oder mir noch einmal ans Herz legen, dass ich wieder zurückfahren sollte? Eine Frage, die ich wirklich nicht hätte beantworten können. Womöglich betrachtete er dies auch als Henkersdrink, wobei er der Henker war. Na ja, meinen Pessimismus hätte ich ausnahmsweise einmal beiseitelegen können.

Ich parkte meinen Wagen neben seinem, stieg aus und atmete die Stadtluft ein, bemerkte aber rasch, dass diese Luft hier nicht viel von »Stadt« an sich hatte. Dennoch genoss ich es.

»Dark, ich lade Sie auf einen Drink ein, etwas Wärme tut Ihnen bestimmt gut«, lächelte der Sheriff, und es war eindeutig wieder sein eigenartiger Sarkasmus zu spüren.

»Schon gut, Teasle, ich kann gut für meine Drinks selbst bezahlen. Wie wäre es, wenn ich Sie einlade?«

Er ging auf mein Angebot ein und wir betraten die Kneipe, obwohl ich es doch als äußerst überraschend empfand, dass Teasle sich ohne Umschweife einladen ließ. Das Innenleben des »Angel’s Bell« wartete mit der typischen Einrichtung auf. Es wurde Billard gespielt, Pfeile wurden auf eine Dartscheibe geworfen, einige einarmige Banditen leerten die Geldbörsen weniger Spielsüchtiger, und der übergewichtige Wirt, dessen Bartheke aus braunem Eichenholz bestand, rieb stetig mit einem Tuch auf deren blank lackierter Oberfläche. Ich lenkte meinen Blick ungewollt auf sein Glasauge, welches dabei starr ins Leere schaute.

Als wir die Kneipe betraten, starrten mich alle an, als wäre ich ein Aussätziger. Ich war ein Fremder in einer Kleinstadt mit knapp viertausend Einwohnern, wie es die Legende meiner Landkarte verriet. Hier kannte jeder jeden. Gerade in solch einer Bar, in der sich vermutlich nur Stammgäste aufhielten, fiel jemand wie ich sofort auf.

Als Teasle und ich uns auf die Barhocker setzten, legte sich die Neugier der Gäste, und sie gaben sich wieder ihren eigenen Angelegenheiten hin. Vermutlich lag dies am Sheriff, der über die Hälfte von ihnen persönlich kannte; dies verriet sofort sein permanentes Kopfnicken, während er sich in der Kneipe umsah.

»Was trinken Sie, Sheriff?«, fragte ich.

»Im Dienst genau genommen nichts, andererseits ist mein Dienst für heute beendet und ich genehmige mir daher einen Gin Tonic.«

»Einen Gin Tonic und eine Coke bitte«, rief ich zum Wirt, da die doch recht laute Musik und die nicht überhörbaren Gespräche der Gäste schwer zu übertönen waren.

»Eine Coke?«, fragte mich der Sheriff, völlig von meiner Bestellung überrascht.

Ich nickte. »Ich habe mir schon viel zu häufig die Birne weichgesoffen. Glauben Sie mir, es ist besser so.«

Während uns der Wirt unsere Bestellung über seine sauber polierte Theke schob, hörte ich, wie sich jemand an der Jukebox am anderen Ende des Lokals zu schaffen machte. Die Klänge, die daraufhin folgten, kamen mir vor wie die Sirenen eines bevorstehenden Fliegerangriffs, der nun unvermittelt über mich hereinbrechen würde. Ich traute meinen Ohren kaum, als das Lied ertönte, das das unmittelbare Ende meiner Karriere begleitet hatte: »All my Ex’s live in Texas«!

Sheriff Teasle bekam offensichtlich den Farbwechsel in meinem Gesicht mit, denn er starrte mich an wie jemand, der in einen Wald schaut und ein beunruhigendes Geräusch vernimmt: nicht ängstlich, nein, eher bereit, dagegen etwas zu tun.

»Ein Whisky hier für meinen Kollegen«, rief er zum Wirt und drängte zur Eile. Augenblicke später spürte ich die brennende Wirkung des Alkohols im Hals und eine gewisse Erleichterung durchfuhr meinen Körper. Mist. Es schüttelte mich am ganzen Leib.

»Ich dachte, Sie haben einen Anfall, nach Ihrem Gesichtsausdruck zu urteilen. Was ist denn geschehen? Ich glaubte doch tatsächlich, Sie treten mir vor meiner Nase weg.«

»Schon gut, Sheriff. Ich danke Ihnen, doch dieses verdammte Lied bringt mich aus der Fassung.«

»Das Lied aus der Jukebox? Ich vermutete eher, Sie hätten hier einen Geist gesehen.«

»Es schossen mir nur eben unschöne Erinnerungen durch den Kopf, deren ich mich nur zu gern entledigen würde.«

»Wem sagen Sie das«, sagte der Sheriff tonlos und kippte seinen Gin Tonic auf Ex hinunter.

Ich stutzte. »Jetzt sagen Sie nur nicht, dass Ihre Frau Sie ebenfalls verlassen hat?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein, Mister Dark. Ich bin nicht verheiratet. Es hatte wohl nie so sein sollen.«

Teasle bestellte sich noch einen und sah zu mir herüber. »Also hat Ihre Gemahlin Sie verlassen und der Song erinnert Sie an Ihre Frau?«

»Nein, Sheriff. Es ist eher so, dass er eine ungewollte Verbindung mit all dem Mist herstellt, der mich im letzten halben Jahr heimgesucht hat.«

»Na, dann schießen Sie mal los!«, sagte der Sheriff neugierig.

Doch ich winkte ab. »Ein anderes Mal vielleicht. Ich bin einfach nicht in der Stimmung dazu.«

»Kann ich verstehen. Jetzt, nachdem Sie sich zur letzten Grenze aufgemacht haben.«

»Wie meinen Sie das denn schon wieder?«

»Ist nur so eine Redensart mit doppelter Bedeutung.«

Er sah mich an, lächelte hinterhältig und nickte dabei.

»Nun ja, Alaska wird von der Bevölkerung als die letzte Grenze bezeichnet, und meiner Meinung nach ist New Rock die rote Linie.«

Ich nahm einen großen Schluck Coke und nickte.

»Ich verstehe, Teasle. Und Sie sind sozusagen der letzte Wächter.«

»Damit haben Sie gar nicht so unrecht. Ich leite die hiesige Polizeistation und habe ein Dutzend Männer unter meinem Befehl. Wenn es irgendwo brennt, sind wir zur Stelle.«

»Ist denn die Verbrechensrate hier so verdammt hoch? Oder welchen Grund gab es, dass Sie vorher auf dem Highway nervös geworden sind, als ich meinen Ausweis zücken wollte?«

Er hob die Augenbrauen, so als hätte ich ihn ein weiteres Mal überrascht. »Das haben Sie bemerkt?«

»Und ob. Das war ziemlich offensichtlich. Sie müssen wissen, ich war bei der Mordkommission.«

»Ein waschechter Detective, was?«, sagte er sarkastisch und schlug mir auf die Schulter. »Na, dann kann uns ja nichts mehr passieren. Ich fühle mich gleich viel sicherer.«

Dieser Teasle konnte einem ganz gehörig auf die Nerven gehen. Ich war froh, dass ich ihm meine Geschichte bislang vorenthalten konnte.

»Gerade hier kann man nie wissen. Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste«, sagte er nach einem kurzen Schweigen.

»Wie meinen Sie das? Also geschieht hier doch häufiger etwas?«

Teasle starrte auf die Flaschen in der Regalwand hinter der Theke.

»Das nicht gerade«, gab er leise von sich, und ich sah ihm an, dass er plötzlich in seinen Gedanken gefangen war, als ob ich ihn mit dieser Frage an einem wunden Punkt getroffen hätte. Ich entschloss mich daher, nicht weiter nachzuhaken.

Einen kurzen Moment später, hörte ich ihn tief einatmen.

»Wissen Sie überhaupt, um welche Siedlungen es sich handelt, in denen Sie Ihren Dienst antreten werden?«, fragte er mich.

»Wieso Siedlungen? Ich dachte, ich gehe nach Crimson?«

»Ich glaube es nicht«, sagte er kopfschüttelnd. »Da hat man Sie ja richtig ins offene Messer laufen lassen.«

Mein fragender Blick brachte Teasle dazu, noch einen Gin zu bestellen.

»Laut meinem Versetzungsschreiben, werde ich in Crimson stationiert sein, einem Sheriffposten am Rande der Stadt, und direkt dahinter soll sich eine Wohnung befinden. Unterstützt werde ich von einer gewissen Emma Garner, die mir als Sekretärin zur Hand gehen soll.«

Teasle nickte. »Ich weiß. Steve war dort stationiert. Emma wohnt hier in New Rock und arbeitet nur unter der Woche im Büro des Sheriffs in Crimson. Bevor es dunkel wird, ist ihr Dienst beendet und am Wochenende sind Sie ebenso auf sich allein gestellt.«

»Also dann, klären Sie mich auf! Wieso erwähnten Sie Siedlungen?«

Der Sheriff schwieg einen Moment, während er allem Anschein nach überlegte.

»Steves Arbeit hier, als einer meiner Deputies, war hervorragend, und ich vertraute ihm die Leitung aller meiner Mitarbeiter an. Dennoch sehnte er sich schon lange nach einem eigenen Sheriffstuhl und versuchte dies in den letzten Jahren immer wieder durch einige schriftliche Gesuche an die Polizeibehörde in Fairbanks durchzusetzen. Natürlich verstand ich ihn, obgleich ich ihn gern weiterhin an meiner Seite gesehen hätte.

Doch er war überqualifiziert, und ich wäre natürlich der Letzte gewesen, der das lang ersehnte Schreiben von Fairbanks nicht unterschrieben hätte. Diese Bastarde.«

Ich stutzte und wartete darauf, dass Teasle weiterredete.

»Ausgerechnet damals wurde der Posten in Crimson besetzt, nachdem man dort jahrelang ohne Polizei ausgekommen war.«

Ich sah den Sheriff von der Seite an. Sein Blick ähnelte dem, mit dem er mich am Nachmittag auf der Interstate so geheimnisvoll angestarrt hatte: als wüsste er über vieles Bescheid, fand aber niemanden, mit dem er dieses Wissen teilen konnte.

»Wann starb Sheriff Brauner?«, hörte ich mich fragen, obwohl ich es als äußerst unhöflich empfand. Doch ich konnte nicht anders, denn diese Frage brannte mir förmlich auf der Zunge.

»Gestorben ist gut«, sagte Teasle. »Abgeschlachtet trifft es wohl eher!«

»Wie bitte? Er wurde ermordet?«

Meine Stimme war deutlich zu laut. Ich merkte, dass mich einige Gäste im Lokal seltsam anstarrten und den Kopf schüttelten.

Ich drosselte also meine Lautstärke und versuchte nun etwas leiser zu sprechen.

»Ist das Ihr Ernst?«

»Glauben Sie, was Sie wollen. Der Fall ist laut den Behörden abgeschlossen.«

»Wurden denn keine ausgiebigen Untersuchungen angeordnet?«

Teasle nickte. »Und ob. Es waren sogar Leute vom FBI vor Ort. Doch nach zwei Tagen zogen sie wieder ab.«

»Wurde die Leiche denn nicht von einem Gerichtsmediziner obduziert?«

»Das ging damals alles viel zu schnell. Kaum hatte ich die Leiche meines Freundes entdeckt, wurde sie sogleich abtransportiert. Ich kam nicht mehr dazu, eigene Nachforschungen anzustellen. Ich war wohl zu rasch mit dem Anruf in Fairbanks.«

»Ich frage Sie ungern, aber was meinen Sie mit ›abgeschlachtet‹?«

Der Sheriff sah sich kurz um, bevor er leise weitersprach. »Er wurde enthauptet und an den Füßen aufgehängt.«

Teasles Gesichtsausdruck wurde hart. Er schien seine Umgebung kaum noch wahrzunehmen. Mir kam es vor, als ob er sich selbst diese Geschichte erzählen würde und mir dabei kaum Beachtung schenkte.

»Aber das war nicht einmal das Schlimmste«, redete er weiter. »Als ich am Tatort eintraf, bot sich mir ein schauriger Anblick.«

Ich horchte auf, wobei ich regungslos auf meine Coke starrte.

»In seinem Körper steckten einige Schläuche und lange Nadeln in Händen und Füßen.«

Mein Magen drehte sich um und ich empfand ein mulmiges Gefühl. Ich musste mich zusammenreißen, damit ich nicht über die Theke spuckte. In meiner gesamten Laufbahn war ich zwar mit einigen Morden konfrontiert worden, doch von solchen grotesken Fällen war ich bislang verschont geblieben.

»Ich kann diesen Anblick nicht mehr vergessen. Er hing dort oben, nackt, mein langjähriger Kollege und Freund, völlig ausgemergelt.«

Teasle rieb sich mit Daumen und Zeigefinger die Nasenwurzel.

»Ausgemergelt, sagen Sie? Wurde er möglicherweise schon mehrere Tage zuvor vermisst?«

Teasle hielt kurz inne und verneinte meine Frage mit einem Kopfschütteln. »Was mich aber am meisten störte war, dass niemand, und ich meine damit auch die Spurensicherung, auch nur einen Tropfen Blut gefunden hat.«

»Dann wurde er womöglich an einem anderen Ort getötet und an den Fundort gebracht«, schlussfolgerte ich.

»Sie haben mich nicht verstanden. Was ich damit sagen will ist, dass sich ebenso kein Blut mehr in seinem Körper befand!«

»Wie bitte?«, fragte ich entsetzt. »Das ist ja abartig!«

Teasle nickte.

»Laut den FBI-Fritzen trat der Tod circa eine Stunde vor meiner Ankunft ein. Er wurde demzufolge an Ort und Stelle geköpft, und durch diese ganzen Schläuche und Nadeln wurde ihm das Blut abgelassen.«

Ich konnte einfach nicht glauben, was mir Sheriff Teasle erzählte. Um ehrlich zu sein, hatte ich gewisse Zweifel, denn wer sollte sich die Mühe machen, solch eine Tat mitten im Nirgendwo zu begehen, fern von jeder großen Presse? Andererseits konnte ich mir auch gut vorstellen, dass irgendein Perversling dabei Spaß empfunden hatte. Ich wollte mir den Tathergang nicht weiter bildlich vorstellen.

Dabei gab mir am meisten zu denken, dass das Opfer der Sheriff selbst gewesen war – ein Mann, der einen gewissen Respekt vermittelte und wohl kaum unbewaffnet seinen Dienst ausgeübt hatte. Ich merkte, dass mir das zu viel wurde.

»Einen Moment«, sagte ich, während ich vom Barhocker aufstand. Ich brauchte eine Erfrischung und ging ohne ein weiteres Wort zur Toilette.

Vor dem Spiegel sah ich mich eine Weile an, bevor ich mir das eiskalte Wasser über das Gesicht und den Nacken rieb. Die Erfrischung tat wirklich gut. Sie bewirkte, dass mein Kopf klarer wurde und ich wieder besser denken konnte.

»Wo bist du da nur hineingeraten?«, fragte ich mich selbst, bevor ich eine Antwort bekam, die weder höflich war noch eine gewisse Etikette besaß. »Ins Scheißhaus«, lallte einer aus einer der verschlossenen Latrinen, die sich hinter mir befanden. Mir wurde übel.

Ich lief wieder durch diese verrauchte Luft und nahm neben dem Sheriff Platz, der immer noch auf seinem Barhocker saß und keine Miene verzog.

Ich bestellte mir noch eine Coke, bevor ich die Unterhaltung fortführte. »Und hat man den Mörder je gefasst?

»Ich sagte Ihnen doch schon, die Behörden sehen das nicht als Mord. Die haben das unter den Tisch fallen lassen.«

»Aber das geht doch nicht. Die ganzen Zeugen, der Tatort, die Leiche ...«

»Ich bin der Einzige, der darüber Bescheid weiß. Ansonsten war niemand da, der ihn vermissen würde, da er weder Frau noch Kinder besaß. Ich sage Ihnen, so schnell habe ich die Spurensicherung noch nie arbeiten sehen. Kaum waren deren Untersuchungen abgeschlossen, wurde die Leiche bereits abgeholt. Die wollten einfach keine erneute Schlagzeile drüben in Fairbanks, nach so langer Zeit. Damals sagten sie mir, ich solle meinen Mund halten, wenn ich meinen Posten behalten will.«

»Welche Schlagzeile? Ist denn so etwas schon einmal vorgekommen?«

Doch Teasle lenkte plötzlich ab, als wollte er nicht darüber sprechen.

»Ich werde Emma morgen Bescheid geben, dass sie ihren Dienst wieder aufnehmen kann. Sie ist bereits seit einem halben Jahr nicht mehr dort gewesen. Ich kann es ihr nicht einmal übel nehmen. Emma wird Ihnen dann alles Weitere erklären. Sie wollten sie ohnehin treffen, nicht wahr?«

»Dort gewesen? Sie meinen damit doch nicht etwa, dass die Tat im Gebäude des Sheriffs stattgefunden hat?«

Teasle starrte mich an und nickte zögerlich.

»Doch, genau das! Und ich sage Ihnen dies nicht, um Ihnen Angst einzujagen, sondern damit Sie auf der Hut sind, wenn Sie in den Siedlungen Ihren Dienst antreten.«

»Sie meinen Crimson, richtig?«

»Crimson und Downfall meine ich damit!«, antwortete Teasle in einem etwas ernsteren Tonfall. »Diese beiden Siedlungen gehören seit einigen Jahren zu Fairbanks und bedürfen nun der Dienste eines Detectives«, fügte er ironisch hinzu, während er sich wieder seinem Drink widmete.

Klasse! Das war ja wirklich großartig. Mir war nun bewusst, dass mein neuer Job nicht gerade der war, den man sich als Traumberuf aussuchen sollte. Doch mir fehlten Informationen, und ich wollte auf Teufel komm raus mehr Aufklärung zu dieser recht ungewöhnlichen Vorgeschichte, da sie mich doch indirekt betraf.

»Wo ist die Leiche begraben worden?«, fragte ich, obgleich ich vermutete, dass ich keine Antwort darauf bekommen würde.

»Sie wurde eingeäschert, aus Angst vor einer Infektion.«

»Wie bitte? Leichengift gibt es nicht.«

»Das nicht, aber Lepra.«

Ich hatte langsam den Eindruck, Teasle wollte mich auf den Arm nehmen. Ich wusste, dass es zwar noch in einigen Regionen der Welt diese Krankheit gab, aber dass sie heutzutage als absolut heilbar galt.

»Sheriff, ich will nicht unhöflich sein, aber ...«

»Aber was?«, unterbrach mich Teasle völlig überrascht und ziemlich lautstark. »Sie wissen wohl alles, hm? Hier draußen ist es ein wenig anders als in der Stadt. Willkommen im Nirgendwo, Mister Detective – oder sollte ich sagen Ex-Detective?«

Teasle betrachtete sein leeres Gin-Tonic-Glas und nahm die Unterhaltung trotz seines Zorns wieder auf. »Crimson besteht aus knapp zweihundert Familien, deren Lebensweise und Glauben die Amish repräsentieren. Downfall ist ihre Nachbarsiedlung. Sie gehören zusammen, sind aber dennoch getrennt, da dort diejenigen leben, die sich mit der Lepra angesteckt haben. Und wenn Sie meinen, dass diese Krankheit heilbar sei, muss ich Ihnen recht geben, Dark. Aber erzählen Sie das mal solchen Menschen, die ihren Glauben so auslegen, dass nur der Allmächtige sie retten kann. Sie verstehen?«

Verstehen? Nein, das konnte ich beim besten Willen nicht. Wie kann man nur so naiv sein? Ich meine, ich akzeptiere Religionen, wenn sie nicht für schamlose Zwecke missbraucht werden, aber sich selbst dafür zu opfern, wenn auch nur passiv, fand ich maßlos übertrieben.

»So«, sagte der Sheriff mürrisch, während er eine ungemütliche Aufbruchsstimmung verbreitete. »Ich werde mich nun aufs Ohr hauen; wir sehen uns!«

Er würdigte mich keines seiner glasigen Blicke. Ein wenig wackelig auf den Beinen schritt er in Richtung der Bartür und rückte sich dabei seinen Hut mit dem glänzenden Stern zurecht. Ich wollte ihm noch hinterherrufen, um nach der Straße zu fragen, die mich nun endlich nach Crimson bringen sollte, doch ich schwieg. Es wäre zu unhöflich gewesen, er hatte schließlich schon genug für mich getan.

Seltsamer Kauz, dachte ich mir, als plötzlich der Barkeeper zu mir kam und mich ernst ansah.

»Hier«, sagte der Mann, dessen Namen ich entweder vergessen oder vorher nicht verstanden hatte. Er legte mir ein zusammengefaltetes Stück Papier vor die Nase, woraufhin ich ihn fragend anstarrte. Es war mir selbst etwas peinlich, ihn mit meinen Augen derart zu löchern, da mir sofort wieder sein Glasauge auffiel und ich nichts anderes tun konnte, als dieses starre Ding als das Zentrum meiner Blicke zu akzeptieren.

»Das soll ich Ihnen von Sheriff Teasle geben. Er sagte mir, Sie würden es brauchen.«

»Das habe ich gar nicht bemerkt, als ich neben ihm saß«, wunderte ich mich und starrte auf das mehrfach gefaltete Papier.

»Er hat es mir gegeben, als Sie auf der Toilette waren.«

Er nickte mir zu, als ich zu ihm aufblickte, und es schien mir, als ob er ebenso neugierig darauf war, welches kleine Geheimnis dieser seltsame Zettel wohl in sich barg.

»Macht er so etwas öfters?«, fragte ich und versuchte, nicht sein Glasauge anzuglotzen.

»Dass der Sheriff überhaupt einen Gast in mein Lokal einlädt, grenzt schon an ein Weltwunder – geschweige denn geheime Botschaften zu übermitteln. Er ist eher ein Einzelgänger, es sei denn, einer seiner Deputies begleitet ihn.«

Ich nickte. Also war nicht ich Teasles Problem, sondern es lag einfach daran, dass der Sheriff nicht so gut auf Menschen zu sprechen war – warum auch immer. Das erleichterte mich.

Meine Sinne nahmen plötzlich wieder mehr wahr: Die Stimmen der Gäste, die Jukebox, die einen Countrysong nach dem anderen spielte, und selbst das leise Spülen eines der hinten gelegenen Pissoirs drang an meine Ohren.

Der Sinneswandel rührte wohl daher, dass mein Unterbewusstsein diese blutige Geschichte von Teasle teilweise verdrängt hatte. Möglicherweise lag es aber auch an der Abwesenheit des verstimmten Sheriffs von New Rock, dessen Freundschaft mir wohl für immer verwehrt bleiben würde. Zugegeben, ich konnte darauf ganz gut verzichten.

Ich schaute dem Barkeeper zu, der einige Gläser mit einem Tuch polierte und dessen Aufmerksamkeit ich immer noch genoss, obgleich ich mir ein wenig Zeit für mich gewünscht hätte, um in Ruhe die Nachricht des Sheriffs zu lesen. Doch ein Gedanke schoss mir plötzlich in den Kopf. Da ich mir nicht sicher war, wie die Leute hier darauf reagieren würden, wenn ich mein forsches Verhalten gleich an den Tag legte, zögerte ich kurz; aber andererseits ...

»Kennen Sie die Geschichte des Sheriffs?«, fragte ich den Mann hinter dem Tresen.

Doch statt zu antworten, deutete er mir mit seinem Gesichtsausdruck an, dass er nicht verstand, was ich wollte.

»Ich meine die Story über den angeblichen Mord an Sheriff Brauner.«

Der Wirt nickte. Er hatte begriffen. Vielleicht war ich etwas zu neugierig, und außerdem war New Rock nicht mein Zuständigkeitsbereich. Doch mir schien die Gelegenheit günstig, etwas über diese unfassbare und nachdenklich stimmende Geschichte zu erfahren.

Der Mann hinter der Theke kam etwas näher, während er weiterhin eines seiner Gläser polierte. Ich hatte den Eindruck, dass sein verdammtes Glasauge stetig durch mich hindurchstarrte, was die Unterhaltung nicht gerade leichter machte.

»Jeder kennt diese Geschichte hier, jeder, nur niemand will sie mehr hören.«

»Wieso? Sind denn alle hier so gefühllos? Interessiert es denn niemanden, dass ein Mord geschehen ist? Oder handelte es sich doch nicht um Mord?«

Er schüttelte den Kopf. »Darum geht es nicht, Mister Dark, sondern darum, am Leben zu bleiben.«

Meinen Namen kannte er also schon. Ich vermutete, dass er meine Unterhaltung mit Teasle genauestens verfolgt hatte, denn ich war mir sicher, dass ich ihm meinen Namen nicht mitgeteilt hatte. Oder vielleicht hatte Teasle ihm meinen Namen verraten, als ich kurz nicht anwesend war. Wie dem auch sei, was meinte dieser Einäugige damit, wenn er sagte, »am Leben bleiben«? War denn jetzt schon die ganze Stadt in Gefahr? Eine Kleinstadt wird sich doch wohl noch wehren können. Vor allem stellte sich mir dann die Frage: Wehren gegen wen?

»Wie war Ihr Name noch gleich?«, fragte ich forsch nach, während ich ein leichtes Grinsen auf seinen Lippen erkennen konnte.

»Nennen Sie mich Parker«, sagte er und stellte das nun aufpolierte, hoch glänzende Glas in eines der Regale.

»Okay, Parker, verstehen Sie mich nicht falsch, aber was meinen Sie damit, es ginge ums Überleben? Jetzt sagen Sie bitte nicht, die Leprakolonie plant eine Invasion auf New Rock«, erwiderte ich sarkastisch und bemerkte dabei nicht, dass jemand fast lautlos das »Angel’s Bell« betreten hatte – jemand, dessen Anwesenheit die lautstarken Unterhaltungen der noch anwesenden Gäste etwas ruhiger werden ließ.

Ich sah mich um und stellte fest, dass ein Mann hereingekommen war, dessen ungewöhnliches Erscheinungsbild mir fremd, dennoch auch teilweise vertraut vorkam. Vertraut deshalb, da man doch des Öfteren über diese Menschen hört oder liest, auch wenn es nur in Zeitungen oder Magazinen ist. Bilder hatte ich natürlich auch schon gesehen, und da Sheriff Teasle davon erzählt hatte, war mir völlig klar, um wen es sich bei diesem Mann handelte. Seine dunkle Kleidung erinnerte mich an die eines typischen Zimmermanns, ebenso der tief ins Gesicht gezogene schwarze Filzhut. Es war eindeutig einer der Amish aus den nahe gelegenen Siedlungen.

Ein Schauder lief über meinen Rücken, da es sich um einen Leprakranken handeln konnte. Aber da Parker bereits einiges an Krimskrams zusammensuchte, der vermutlich auf dem Zettel stand, welchen ihm der Amish eben gegeben hatte, konnte ich beruhigt aufatmen. Ich glaube kaum, dass Parker so nahe an den Amish herangetreten wäre, wenn der an dieser furchtbaren Infektionskrankheit gelitten hätte.

Ich versuchte, einen kurzen Blick auf das Gesicht des Mannes zu werfen, dessen Hut es in Schatten hüllte, und das schwache Licht im »Angel’s Bell« war dabei keine Hilfe.

Mir schien es, als hätte ich einen telepathischen Treffer bei dem Fremden gelandet, denn es geschah das, was ich mir die ganze Zeit über gewünscht hatte: Er sah zu mir herüber!

Ich kam mir vor wie ein Kind, dessen Wunsch am Weihnachtsabend in Erfüllung gegangen war, obgleich es sich um ein finsteres Geschenk handelte, denn die Blicke dieses Amish trafen mich wie ein Hammerschlag.

Nicht, dass mich sein typischer Amishbart gestört hätte, auch wenn dieser sein Gesicht noch furchteinflößender erscheinen ließ, als es ohnehin schon war. Auch nicht seine zerfurchte Haut oder sein von Reife zeugendes, ergrautes, halblanges Haar, nein, es waren seine Augen, die der eigentliche Grund für mein Erschaudern waren. So tief und finster dreinschauend, dass ich – was äußerst selten vorkam – meinen Blick sehr schnell als Erster von ihm abwandte.

Lange hielt er sich nicht im »Angel’s Bell« auf; das Einzige, was ich noch mitbekam, war, dass er einige offene Kisten mit Kerzen und Ölflaschen von Parker in Empfang nahm, welche er mit Leichtigkeit aus der Kneipe trug, und die Tür hinter sich schloss.

Sofort sah ich durch die große Fensterscheibe des Lokals und beobachtete, wie der Amish die Waren auf einen seltsamen Wagen lud, danach selbst aufstieg und mit einem lauten Peitschenknall das Pferd antrieb, welches vor seiner Kutsche angespannt war. Mit einem Wiehern des Pferdes setzte sich das Gefährt in Bewegung und entschwand bald aus meinem Blickfeld. Nur ein kleiner Lichtpunkt, dessen Ursprung eine Öllampe war, die am hinteren Ende seines Einspänners hin und her schwankte, glomm eine kurze Zeit durch die kalte und finstere Nacht.

»Alles in Ordnung, Mister Dark?«, hörte ich eine Stimme, die diesen Satz zwei- oder dreimal wiederholte, bis ich schließlich reagierte. Ich kam kaum zu mir, und es schien, als wäre ich in eine Art von Lethargie gefallen. Das Schütteln von Parker riss mich vollständig aus meinen Gedanken, welche aus einer pikanten Mischung aus Brauners Ermordung, dem finsteren Amish und meiner Exfrau bestanden.

»Ja, es ist alles in bester Ordnung. Machen Sie sich wegen mir keine Gedanken. Ich komme schon zurecht.«

»Lassen Sie sich wegen ihm nicht einschüchtern. Er ist harmlos.« Damit deutete Parkers Kopf in die Richtung der Bartür, und er meinte wohl diesen extremen Waldschrat, dessen Augen mich in diesen Zustand versetzt hatten. Diese Leute sollte ich beschützen? Und wer beschützte mich dabei?

»Sind denn alle so in Crimson?«

»Freundlich ausgedrückt würde ich sagen, die Leute dort sind sehr wortkarg und nicht besonders erpicht darauf, einen Sheriff an ihrem Leben teilhaben zu lassen. Aber es bleibt ihnen wohl keine andere Wahl.«

»Wieso nicht?«

»Der Staat Alaska hat Crimson und Downfall zu Teilstädten von Fairbanks erklärt und verlangt Steuern, selbst wenn es nicht viel zu holen gibt.«

»Was kann man denn von solchen Leuten noch holen, die jeglichen technischen Fortschritt ablehnen?«

»Nun ja, der Großteil von ihnen sind Selbstversorger, und einige bieten ihre produzierten Lebensmittel auf dem Markt zum Verkauf an. Außerdem ...« Er stockte und schwieg plötzlich.

»Außerdem was?«, hakte ich nach.

»Nichts. Es ist nur ... Nein, es ist nichts.«

»Jetzt mal raus mit der Sprache!«

»Sie wissen nichts von dem Minenunfall, oder?«

»Welche Mine?«

»Ich weiß nicht, ob es so gut ist, wenn ich Ihnen davon erzähle, Mister Dark.«

»Jetzt haben Sie mich schon neugierig gemacht, Parker.«

»Genau davor fürchte ich mich: Ihre Neugier. Ein schwerwiegender Fehler, der möglicherweise auch Sheriff Brauner das Leben gekostet haben könnte.«

Jetzt wurde es interessant. Die Fragen häuften sich mittlerweile. Wenn ich alle aufzählen würde, käme ich bestimmt auf ein Dutzend, aber ich beschränkte mich auf die Wichtigsten. Erstens: Warum diese Stille, als der Amish das »Angel’s Bell« betrat? Zweitens: Welcher Minenunfall, vor allem wo und wann? Drittens: Was sollte das seltsame, gefaltete Schriftstück, das ich immer noch in meiner Hand hielt, von dem ich hoffte, dass die Existenz dieses kleinen Mysteriums aus Parkers Gedächtnis verschwinden würde, da ich dieses unbekannte Etwas doch gern ohne ungebetene Zaungäste begutachten würde. Viertens: Jeder wusste doch von diesem Mord.

Warum traute sich eine ganze Kleinstadt nicht, die Wahrheit zu erzählen?

Ich fing an, mir Sorgen zu machen. Ich war nicht mal zwei Stunden in diesem Bezirk und schon stieß ich auf seltsame und mysteriöse Umstände. Natürlich konnte ich mich auch täuschen und fiel nur auf leeres Gerede einer Bande von Landeiern herein, die nichts anderes kannten als ihren Whisky und ihre Vorurteile. Möglich, dass dies auch einer der Gründe war, weshalb die Gäste stiller geworden waren, als der Amish das »Angel’s Bell« betreten hatte, obwohl ich zugeben musste, dass er wirklich einer der übelsten Gesellen war, denen ich nicht, wie man doch so schön sagt, nachts auf der Straße begegnen wollte.

»Es ist nun mal mein Beruf, und wenn ich in Crimson meinen Dienst antrete, wird dies meine tägliche Aufgabe sein.«

»Kann sein, Mister Dark, aber dort oben werden Sie kaum etwas zu tun haben. Sheriff Brauner kehrte hier, am Anfang seiner Amtszeit in Crimson, häufiger ein und berichtete mir ein wenig über seinen Dienst in den Siedlungen.«

»Kannten Sie ihn gut, diesen Brauner?«

»Gut kennen? Hmm, eine Zeit lang verrichtete er seinen Dienst als einer der Deputies von Teasle, und da kommt es vor, dass man sich über den Weg läuft.«

»Und wie war er so?« Parker schwieg. Ich wusste nicht, warum. Hatte er etwas zu verbergen?

»Erzählen Sie mir etwas über den Minenunfall«, wechselte ich das Thema. »Glauben Sie mir, je mehr ich darüber weiß, desto weniger werde ich neugierig.« Ich grinste und wusste dabei genau, dass meine Neugierde sich so einfach nicht bremsen ließ. Ich glaube, selbst Parker konnte dies voraussehen. Vielleicht wollte er mich auch nur selbst neugierig machen.

»Lassen Sie mich überlegen. Das muss in den Siebzigern gewesen sein, als sich ein schrecklicher Minenunfall, draußen im Reservat, ereignet hat. Viele Minenarbeiter sind damals ums Leben gekommen und die Gerüchteküche wurde mit allerlei fürchterlichen Gewürzen vermischt. Man vermutete damals, dass die Mine absichtlich zum Einsturz gebracht wurde, aber nichts konnte bewiesen werden. Bis zum heutigen Tag wird immer noch über diesen Fall gesprochen.«

»Aber der Unfall ist ja schon Jahre her. Wieso stochert man in alten Wunden?«

»Mister Dark, Sie sind doch selbst ein Verfechter davon, dass man mögliche Morde ans Tageslicht bringen sollte. Es waren doch Ihre Worte, die Sie an Sheriff Teasle richteten, und uns als gefühllos bezeichnet haben.«

Verdammt! Damit hatte er mich bei den Eiern. Aber das bewies auch, dass dieser Parker die Ohren offen hielt. Im gewissen Sinne ärgerte es mich natürlich, dass man mich belauscht hatte, obgleich ich mir gut vorstellen konnte, dass Parker sich als hilfreicher Ansprechpartner erweisen könnte, wenn es um wichtige Informationen ging. Selbst wenn es ein paar hart verdiente Dollar kosten würde.

»Ja, Sie haben recht. Nur dachte ich dabei eher an Sheriff Brauner, dessen Tod nur ein halbes Jahr zurückliegt. Die Spur könnte noch warm sein.«

Parker schien interessiert und sah sich um, als wollte er sichergehen, dass keiner der Gäste etwas mitbekam.

Er kam näher und schenkte mir langsam noch eine Coke in mein Glas, während er mir leise etwas zuflüsterte.

»Diese Amish sind reich. Das gesamte Gebiet um die Mine wurde damals abgesperrt. Vor einigen Jahren wurde sogar ein gewaltiger Stacheldrahtzaun errichtet. Doch ich bin mir mehr als sicher, dass die Amish sich einen Teil davon geholt haben.«

»Wie können Sie da sicher sein? Heißt es denn nicht, die Amish streben keine großen Besitztümer an?«

Er zog die Augenbrauen hoch. Doch plötzlich fiel mir etwas auf. Ich hatte bei der Warenübergabe vorhin kein Geld fließen sehen. Sollte mir das entgangen sein? Das konnte ich mir nicht vorstellen. Doch ich wollte vorerst nicht weiter nachfragen. Es war mir alles noch zu fremd und ich beschloss, in den nächsten paar Minuten aufzubrechen und die Unterhaltung ein andermal fortzusetzen. Ich brannte darauf, mehr zu erfahren.

Nach meiner Coke täuschte ich Müdigkeit vor, obwohl im darauffolgenden Gähnen nicht viel an Täuschung enthalten war. Die Müdigkeit übermannte mich tatsächlich, und ich dachte an die knapp dreißig Meilen, die noch vor mir lagen. Ich erwog sogar, mir hier ein Zimmer für die Nacht zu nehmen.

»Wollen Sie denn wirklich schon aufbrechen?«, bemerkte Parker, ohne mich dabei anzusehen. Er war viel zu beschäftigt damit, sich um seine Theke zu kümmern.

»Wir haben hier ein Fremdenzimmer, für seltene Gäste!« Dabei warf er mir einen unheimlichen Blick zu. Meine Entscheidung fiel mir nun deutlich leichter!

»Ich würde Ihre Einladung gerne annehmen, aber ich glaube es ist besser, wenn ich heute noch in Crimson ankomme.«

Ich sah auf die Uhr an der Wand über den Billardtischen. Es war kurz nach zweiundzwanzig Uhr, also höchste Zeit aufzubrechen, denn ich rechnete noch mit nicht weniger als einer Stunde Fahrzeit.

»Wie komme ich jetzt am besten nach Crimson?«, fragte ich Parker, während ich mir meine Jacke überstreifte und die geheimnisvolle Notiz von Teasle unbemerkt in der Tasche verschwinden ließ.

»Sie fahren die Hauptstraße entlang, bis Sie eine Schranke erreichen. Da müssen Sie aussteigen und diese hochkurbeln.«

»Wie bitte? Das ist ja äußerst ungewöhnlich!«

»Das Teil gibt es schon eine halbe Ewigkeit und die Bevölkerung akzeptiert es. Es ist eine Art von gedanklicher Sicherheit, so etwas wie die letzte Grenze.«

Ich schüttelte langsam den Kopf, verabschiedete mich und verließ das »Angel’s Bell«.

Draußen sah ich mich noch einmal um und stellte fest, dass Parker mir immer noch hinterhersah. Sein Gesicht zeigte einen Ausdruck der Besorgnis.

Auf den Straßen herrschte die absolute Stille, nur das leise Rieseln des Schnees drang an meine Ohren, vermischt mit dem leichten Wind, der eiskalt in mein Gesicht fegte.

Mein Wagen stand einsam neben einem Pickup-Truck, völlig zugeschneit, und ich hatte Mühe, mit meinem Eiskratzer die Frontscheibe frei zu räumen.

Ein Knacken ließ mich kurz aufschrecken und sofort in die Richtung schauen, aus welcher ich das Geräusch vernommen hatte. Mein Eiskratzer ruhte und ich horchte in die Nacht. Nichts.

»Mann, bleib ruhig«, sagte ich leise und konnte es nicht glauben, dass meine Nerven jetzt schon so blank lagen.

Vermutlich arbeitete jetzt wieder mein Unterbewusstsein, das den Fall von Teasle aufgearbeitet hatte. Nicht, dass ich Angst verspürte, nein, es war eher eine innere Unruhe.

»Sheriff!«, hörte ich plötzlich eine Stimme hinter mir. Sie sprach in einem Flüsterton, aber dennoch laut, sehr nah und trotzdem zugleich weit entfernt. Schnell sah ich mich erneut um und beobachtete die Umgebung. Mein Atem verlangsamte sich und der sichtbare Nebel, der aus meinem Mund kam, glitt langsam in die Kälte, wobei er sich mit der eisigen Luft vermischte.

Bildete ich mir dies nur ein? Mein Blick wanderte sofort zur Tür der Bar. Möglicherweise war es Parker, der mir noch etwas hinterherrufen wollte. Doch ich irrte mich.

Weit und breit war niemand zu sehen. Die wenigen Straßenlaternen beleuchteten die Umgebung nur schwach, dennoch konnte ich vieles erkennen, da der Schnee die Straßen aufhellte.

Ich lief ein paar Schritte, da das »Angel’s Bell« im Erdgeschoss eines Eckhauses untergebracht war und ich sehen wollte, ob sich vielleicht dahinter jemand versteckt hielt und mir einen Streich spielen wollte. Aber wer zum Teufel sollte mich hier kennen?

»Hallo?« rief ich, bekam aber keine Antwort.

Mich fröstelte es und ich beschloss, in den Wagen einzusteigen. Das Resteis würde ich schon mit dem Scheibenwischer wegbekommen. Mein einziger Gedanke galt dem Wagen: Hoffentlich streikte er nicht!

Wie durch ein Wunder sprang der Motor ohne jegliche Sperenzien an. Auch wenn es im Wagen ebenso kalt war wie im Freien, blieb ich wenigstens von dem eisigen Wind und dem kalten Schnee verschont. Immerhin etwas.

Der Chevy rutschte auf den glatten Straßen, und ich erreichte nur mit einigen waghalsigen Fahrmanövern endlich die Hauptstraße, die immer weiter von New Rock wegführte.

Meine Fahrt dauerte kaum eine Viertelstunde, als die erwähnte Schranke vor mir auftauchte. Das Scheinwerferlicht strahlte sie an wie die Mädchen, an die ich in den Bars einige Dollar verloren hatte. Shit.

Als ich ausstieg und die verwitterte, von Schnee bedeckte Barriere mit der fast zugefrorenen Kurbel mit Mühe und all meiner Kraft nach oben brachte, hatte ich den Eindruck, dass der Wind deutlich an Stärke zugenommen hatte. Die hohen Bäume, die kurz hinter dieser »letzten Grenze« standen und sich im Laufe der Straße zu einem dichten Wald verwuchsen, bewegten sich heftig hin und her, sodass die weiße Pracht von ihnen herabfiel.

Ich stieg in den Wagen und gab Gas. Ein paar Meter kam ich vorwärts, doch dann blieb der Wagen auf der Höhe der Schranke stehen: Die Reifen drehten durch!

»Mist, verfluchter!«, rief ich und bemerkte plötzlich, wie sich die Eisenschranke langsam in Bewegung setzte und auf mein Wagendach zu prallen drohte. Ich war mir sicher, wenn dies passieren sollte, wäre der Schaden so enorm groß, dass vermutlich die Fensterscheiben herausbrechen würden – und das wäre bei dieser Kälte absolut fatal.

»Komm schon!«, rief ich und versuchte, zurückzusetzen. Leider ohne Erfolg. Mein Blick galt wieder der hochgelassenen Schranke, die ich gut durch die Beifahrerscheibe sehen konnte. Ich atmete schwer aus und drückte den Schalthebel des Chevy in den ersten Gang. Das tat ich wohl zu schnell, denn die Kupplung schleifte mit einem tiefgreifenden Seufzer, der selbst mir in den Ohren schmerzte. Doch es half alles nichts. Die Reifen rutschten unwiderruflich auf derselben Stelle, und in meinem Rückspiegel sah ich den vom Rücklicht beleuchteten dunkelroten Schnee nach oben aufwirbeln. Die Schranke hatte nun ihr Gleichgewicht verloren und setzte sich vollständig in Gang. Voller Panik machte ich noch einen letzten Versuch, Gas zu geben und ...

Der Wagen setzte sich in Bewegung und entkam nur knapp dem eisernen Schlag des unbarmherzigen Hammers.

Ich hielt an und sah in den Rückspiegel. Die Erleichterung zauberte mir ein Lächeln ins Gesicht. »Schwein gehabt«, sagte ich zu mir selbst.

Eben wollte ich meine Fahrt fortsetzen, als mir etwas auffiel. Auf der Straße hinter mir schien etwas zu liegen. Ich war mir nicht sicher, um was es sich handelte, aber es lag genau in meiner Reifenspur. Ich trat auf die Bremse und hoffte, dass das hellere Bremslicht jenes Geheimnis lüften würde. Möglicherweise war dieses unbekannte Ding der Grund, weshalb meine Hinterreifen genug Griff auf der glatten Straße bekommen hatten und ich deshalb in letzter Sekunde hatte losfahren können. Doch ich konnte nichts erkennen.

Ich starrte auf die Straße, die nach Crimson führte. Der Motor lief, und ich überlegte, ob ich aussteigen sollte, um nachzusehen.

Ich weiß nicht, warum ich zögerte. Waren es die Urängste des Menschen, die mich zurückhielten? Selbstschutz? Oder fürchtete ich mich vor der Dunkelheit, hier inmitten des Nichts?

Mit einem Fluch auf den Lippen stieg ich aus, nachdem ich meinen 45er Colt aus dem Handschuhfach genommen hatte. Dieser Colt war natürlich nicht meine Dienstwaffe, die hatte ich vorerst abgeben müssen, aber vor einigen Jahren hatte ich mir dieses Baby zugelegt, dessen Anblick mich genauso in einen erregten Zustand brachte wie der eines hübschen Mädchens. Obwohl ich mich doch meist für das Letztere entschieden hatte, wäre es in dieser Situation zu hundert Prozent anders gewesen.

Die Rückleuchten des Chevy tauchten den Schnee in ein tiefes Dunkelrot, und ich näherte mich nur zögernd dem besagten Ding in der Reifenspur.

Als ich näher kam, sah es für mich aus wie ein Stück Tuch. Ich griff danach und fand meine Vermutung bestätigt. Es handelte sich um einen rotfarbenen Stoff, wie von einer dicken Decke oder einem Vorhang, vielleicht auch von einem Mantel oder einem Umhang. Seltsam. War ich so damit beschäftigt gewesen, auf die Schranke zu achten, dass ich es vorhin trotz meines hellen Fernlichts nicht bemerkt hatte?

Weit und breit war nichts zu sehen. Die Schranke stand wieder in Ursprungsstellung, und in weiter Ferne sah ich einige wenige Stadtlichter von New Rock.

Ich fuhr erschrocken zusammen, als ich hörte, wie mein Autoradio plötzlich laut ertönte. Starr stand ich in der Kälte wie eine Statue, die man vergessen hatte, auf das richtige Podest zu stellen. Es lief gerade ein Radiospot, dessen Inhalt ich nur bedingt mitbekam. Meine Aufmerksamkeit war völlig getrübt, und ich fragte mich, was hier vor sich ging. Wie lange ich hier gestanden hatte, konnte ich beim besten Willen nicht sagen. Mein Zeitgefühl war vollkommen aus dem Takt.

Langsam setzte ich mich in Richtung des Wagens in Bewegung, während das Radio einen Countrysong spielte. Meine Blicke richteten sich starr auf die Fahrerkabine, da ich vermutete, dass sich jemand im Wagen befand. Ich spannte den Hahn meiner Waffe und beschleunigte meine Schritte. In der Kabine befand sich niemand. Ich wusste nicht, was mir lieber gewesen wäre. Einerseits spürte ich Erleichterung, andererseits war diese Situation äußerst gespenstisch und mir lief es eiskalt den Rücken hinunter. Das war bestimmt nur die Kälte, beruhigte ich mich selbst – doch ich wusste, dass ich mir etwas vorlog.

Als ich vor der offenen Tür stand, hörte ich erneut ein Knacken unter meinen Schuhen. Ich hob meinen Fuß und erkannte, dass im Schnee etwas lag. Es ähnelte kleinen Scherben einer Flasche, die entweder aus rotem oder zumindest dunklem Glas bestanden haben musste.

Vorsichtig nahm ich es in die Hand, konnte mir aber keinen Reim darauf machen. Scherben waren es jedenfalls nicht. Es fühlte sich an wie hartes Glas, war aber offenbar keines.

Kurzerhand packte ich dieses unbekannte Material in den roten Stoff und stieg in den Wagen.

Was war hier nur los? Hatte ich unbemerkten Besuch gehabt? Wollte mich jemand retten oder nur dafür sorgen, dass ich mein Ziel erreichte?

Ich ließ das Radio laufen und setzte meine Fahrt fort. Langsam und die Augen offen haltend, ließ ich die letzte Grenze hinter mir, und mein unbehagliches Gefühl, welches sich mittlerweile wie ein Parasit an mich angeheftet hatte, war mein einziger Begleiter, der mich durch die kalte Nacht führte.