31
Freitagmorgen. Vor fünfeinhalb Tagen war Annette Nierzwa ermordet worden. Am Dienstag hatten wir den toten Barth-Hufelang gefunden, am Mittwoch Woll. Gestern war ich in der Hochzeit des Figaro gewesen. Es wurde Zeit, dass ich den Fall löste. Einen Fall, der gar nicht mehr mein Fall war. Der es, genau genommen nie gewesen war, denn Frau von Wonneguts Interesse bestand ja einzig und allein darin, zu erfahren, wie es um den Hauptverdächtigen Bernd Nagel stand. Und jetzt sollte ich mich nicht einmal darum kümmern.
Aber vielleicht ließ sich die Mordserie aufklären, ohne dass ich Nagel belästigte. Die Rechnung an Frau Dr. Glaßbrenner konnte ich auch nächste Woche noch schicken. Oder übernächste.
Kurz entschlossen räumte ich den Frühstückstisch ab und ließ auf der freien Fläche ein Puzzle entstehen. Ich begann links mit der Kalenderseite, die ich in Wolls Geldbeutel gefunden hatte. Darüber schloss sich der Artikel aus dem Stern an, unten Wolls russische Medikamente und sein Autoschlüssel. Auf die rechte Seite legte ich das Faltblatt aus dem Karlstorbahnhof und das Figaro-Programmheft, das mir Christine überlassen hatte. In die Mitte des Tischs Ausschnitte aus den Neckar-Nachrichten mit Nagels Konterfei, mit den Berichten über die Morde, mit Kommentaren und Interviews. Ein ganz schöner Flickenteppich aus Indizien. Viel zu verwirrend, viel zu unübersichtlich. Vielleicht sollte ich dem Gedanken nachgehen, der mir vorhin, nach drei Tassen Kaffee, gekommen war. Ich nahm ein leeres Blatt Papier und versuchte den zeitlichen Ablauf der Figaro-Premiere zu rekonstruieren. Gestern Abend hatte ich mir Beginn und Ende der Pause sowie die Gesamtdauer der Aufführung notiert. Das ergab einen Rahmen, den ich mit den Angaben Nagels und Covets füllte.
Nachdem ich damit fertig war, saß ich eine Weile grübelnd vor dem Papier. Eine wichtige Information fehlte, und um sie zu bekommen, musste ich ins Theater. Ich wählte die Nummer von Barth-Hufelangs Sekretariat. Die Spitznasige, die mich mittlerweile regelrecht in ihr Sekretärinnenherz geschlossen zu haben schien, verriet mir nicht nur, wann die aktuelle Orchesterprobe beendet sein würde, sie versprach auch, die erste Fagottistin über mein Kommen zu unterrichten.
»Apropos«, merkte ich am Ende an. »Meine Frau und ich hatten einen unvergesslichen Opernabend. Vielen herzlichen Dank noch mal.«
Gerührt wehrte sie ab. Ja, die alte Schule!
Dann rief ich Kommissar Fischer an.
Er war wieder in seinem Büro. Und verdammt schlecht gelaunt. »Fragen Sie bloß nicht, wie es mir geht, Koller!«, bellte er in den Hörer, um die nicht gestellte Frage postwendend zu beantworten. Erbärmlich gehe es ihm. Miserabelst. Schmerzen vom großen Zeh bis ins Stammhirn, die ganze Nacht durch. »Das Ende ist nahe«, orakelte er düster. »Und wenn Sie jetzt lachen, bringe ich Sie um.«
»Warum sind Sie dann im Dienst?«
»Aus Protest, Sie Schlaumeier! Aus Protest gegen die Schulmedizin. Da sagt doch jeder Arzt etwas anderes. Der erste verbietet mir, mich zu bewegen, der zweite verbietet mir, im Bett liegen zu bleiben, der dritte, auf die beiden anderen zu hören. Neuerdings scheinen Krankheiten überhaupt verboten zu sein, zumindest bei Beamten wie mir. Und wenn das so ist, kann ich auch zur Arbeit gehen.«
»Wie viele Ärzte haben Sie denn?«
»Wechselnd. Je nach Krankheit. Aber drei mindestens, sonst gerät man ja nur an Quacksalber. Mit dem Ergebnis, dass ich mir wie ein Testschlucker für die Pharmaindustrie vorkomme. Ich nehme mehr Medikamente gegen die Nebenwirkungen von Medikamenten als normale Medikamente.«
»Und wie lautet der Name Ihrer … Erkrankung?«
»Ich weiß, was Sie denken, junger Mann«, belferte er. »Sie denken, der alte Fischer ist ein Hypochonder. Genau das denken Sie jetzt! Und wissen Sie was? Ich bin Hypochonder und schlimmer als drei Ärzte zusammen. Aber so, wie sich andere einen Porsche leisten oder eine Ferienwohnung am Mittelmeer, leiste ich mir eine kleine Hypochondrie, und die lasse ich mir nicht nehmen. Von Ihnen schon mal gar nicht, verstanden?«
»Verstanden. Eine klitzekleine Hypochondrie.«
»Klitzeklein, jawohl. Immer noch besser, als in fremde Wohnungen einzusteigen.«
»Wie meinen Sie das?«
»Wie meinen Sie das?«, äffte er mich nach. »Mensch, Koller, Sie spielen mit dem Feuer. Eine Nachbarin Wolls hat Sie gesehen, als Sie vorgestern aus seiner Wohnung kamen.«
»Und wenn sie sich getäuscht hat?«
»Und wenn wir in der Wohnung Ihre Fingerabdrücke gefunden haben?«
»Fingerabdrücke, die nirgendwo registriert sind? Ich bin noch nie mit dem Gesetz in Konflikt geraten.«
»Aber einen Kaffee haben Sie auf Staatskosten getrunken«, sagte Fischer und klang plötzlich putzmunter.
»So, so. Eine Kaffeetasse in geheimer Mission. Lassen Sie mich deshalb beschatten?«
»Beschatten, Sie? Unsinn.«
»Und der Typ, der sich vor meinem Haus einen Schnupfen geholt hat? Der BMW, der mir durch die halbe Stadt gefolgt ist?«
»Sie fantasieren. Für so etwas haben wir weder die Zeit noch das Personal. Wir haben nicht einmal die Möglichkeit, unsere Techniker ein zweites Mal durch die Wohnung von Frau Nierzwa zu jagen, um herauszufinden, wer das Siegel zerstört hat. Nur zu Ihrer Beruhigung, Herr Koller.«
»Warum so misstrauisch, Herr Fischer? Wollten wir nicht kooperieren?«
»Allerdings!«, rief er. »Ich hätte gerne mit Ihnen kooperiert, wenn Sie unsere Abmachung nicht dauernd unterlaufen würden. Was mir Kollege Sorgwitz von der Begegnung mit Ihnen im Hause Nagels berichtet hat …«
»Greiner und Sorgwitz«, unterbrach ich ihn, »sind nicht Bestandteil unserer Kooperation. Und wenn Sie wissen wollen, warum nicht, sprechen Sie Ihren blonden Ossi auf unseren kleinen Disput am Auerhahnenkopf an. Kooperiert wird nur mit Ihnen.«
»Klingt zu schön, um wahr zu sein.«
»Warten Sies ab. Ich habe eine Idee, eine Art Hypothese, und wenn sie sich bestätigt, kann ich vielleicht zur Aufklärung des Falls beitragen.«
»Raus mit der Sprache!«
»Dazu muss ich erst noch recherchieren. Ich gebe Ihnen rechtzeitig Bescheid, Ehrenwort.«
Fischer grummelte und nörgelte, klang jedoch nicht unzufrieden. Vor allem klang er nicht ernsthaft krank, aber das hatte ein Hypochonder aus Leidenschaft auch nicht nötig.
»Eine Frage noch, Herr Fischer.«
»Ja?«
»Wann wurde Woll in den Wald gebracht? Gibt es da neue Erkenntnisse?«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Nur so. Hängt mit meiner Hypothese zusammen.«
»Man könnte meinen, Sie hätten telepathische Fähigkeiten«, brummte er. »Ich habe hier den Obduktionsbericht vorliegen. Danach ist es möglich, dass Woll bereits seit Montagabend auf dem Hochsitz lag. Der Kerl stand anscheinend unter Drogen oder so was. Erhöhte Körpertemperatur, eine Herztätigkeit wie bei Radrennfahrern am Berg, deshalb ein um Stunden verzögerter Tod durch Erfrieren. Jedenfalls lese ich dieses Medizinerkauderwelsch so.«
»Was für Drogen?«
»Aufputschmittel. In wahnsinnig hoher Konzentration. Der Doc schreibt, so etwas hat er noch nie gesehen. Als sollte er vor dem Erfrieren noch vergiftet werden. Woll, nicht der Doc.«
»Wer ihm das Zeug eingeflößt hat, steht nicht in Ihrem Bericht?«
»Natürlich nicht.«
»Danke für die Information.«
»Gern geschehen. Wann höre ich von Ihnen?«
»Heute Nachmittag. Tschüs und gute Besserung.«
»Kann ich gebrauchen.«
Eine Weile trommelte ich unentschlossen auf meinem Knie herum, dann stand ich auf und schmierte mir ein Brot. Schlechtes Gewissen macht mich immer hungrig. Ein zweites schob ich gleich hinterher. Schließlich waren es zwei wichtige Indizien, die ich dem guten Herrn Fischer vorenthielt: Wolls russische Tabletten und den Artikel aus dem Stern. Irgendwann musste ich sie ihm vorlegen, besser heute als morgen.
Also ran an die Arbeit!
Meinem Haus vis-à-vis liegt eine Apotheke. Der Besitzer ist ein alter Hase in seinem Metier, aber Wolls Medikamente kannte er nicht. Kein Wunder, er war ja auch noch nie in Russland. Dafür konnte er mir einiges über Amphetamine erzählen. Ich bedankte mich, kaufte eine Schachtel Aspirin für den Hausgebrauch und fuhr in die Stadt. Am Bismarckplatz erstand ich einen Strauß Rosen, der was hermachte, sowie eine Riesenpackung Pralinen.
»Verliebt müsste man sein«, seufzte die Blumenhändlerin, eine Frau in reifen Jahren.
»Sie können sich so was natürlich leisten«, seufzte die Pralinenverkäuferin, eine Frau mit wonnigen Pölsterchen.
»Wenn Sie wüssten«, sagte ich in beiden Fällen.
Den Knaller aber besorgte ich mir im Musikladen in der Bergheimer Straße: ein Fagottmundstück. Es war nicht mal so teuer. Nur der junge Verkäufer machte mich kirre mit seinen Fragen.
»Was für eines wollen Sie denn? Eher hart, eher weich? Ein Konzert- oder ein Probenmundstück? Für einen Profi oder einen Amateur?«
»Profi natürlich, was glauben Sie? Der Rest ist egal.«
»Wie, egal?«
»Geben Sie mir einfach ein Profimundstück. Irgendeins.«
»Aber gerade Profis brauchen verschiedene. Je nach Situation, verstehen Sie?«
»Irgendeins. Es ist eher zum Angucken als zum Spielen gedacht.«
»Wie bitte? Nur zum Angucken?«
Ich nickte erschöpft. Endlich kapierte er, was ich wollte. Er ging ins Lager, um mit hochrotem Kopf und dem gewünschten Mundstück zurückzukommen.
»Wir führen nur noch ein Standardmodell«, sagte er kleinlaut. »Tut mir leid. Das wusste ich nicht.«
»Ist es ein Konzert- oder ein Probenmodell?«, fragte ich bissig, klopfte ihm aber im nächsten Moment versöhnlich auf die Schulter. Er hatte es ja gut gemeint, der Junge.
Wie schade, dass ich nicht mehr in Diensten der alten Wonnegut stand. Ihr hätte ich Blumen, Pralinen und Mundstück gerne in Rechnung gestellt. Vielleicht würde ich Cordula dafür blechen lassen.
Kurz vor Mittag traf ich im Theater ein. Ich benutzte den Hintereingang, grüßte den Pförtner wie einen alten Kumpel und trat den Weg durch das unterirdische Labyrinth an. Als die Musiker den Probenraum verließen, stand ich mit meinem großen Strauß neben der Tür, Augenzwinkern und spöttische Bemerkungen erntend.
»Der ist jetzt aber nicht für mich«, sagte die Frau mit dem Prügel.
»Für wen sonst?« Ich reichte ihr den Strauß und griff nach ihrem Instrumentenkoffer. »Nehmen Sie lieber die Pralinen, bevor die Streicher auf den Geschmack kommen.«
»Mir hat noch nie jemand Rosen geschenkt«, sagte ein Hornist im Vorbeigehen. »Nicht mal bei Jugend musiziert.«
»Und das hier«, erklärte ich, »ist eine Art Anzahlung auf die kaputten Mundstücke. Wenn Sie mir Ihren Instrumentenbauer nennen, besorge ich Ihnen neue. Hart oder weich, Probe oder Konzert, egal.«
Sie lachte. Eine Frau mit Humor, das hatte ich gleich gesehen. Auch dass sie verheiratet war, hatte ich mir gedacht. Ihr Ehemann rief auf ihrem Handy an; sie sagte ihm, dass es ein paar Minuten später werden würde. Ja, die Kleinen würde sie trotzdem abholen.
Und dann waren wir endlich allein. Sie hatte uns in eine kleine, fensterlose Übebox gelotst, halb zugestellt mit Kisten und Koffern. An der Wand ein hoher Spiegel, daneben ein Rollkleiderständer mit klappernden Bügeln.
»Sagen Sie nicht, dass Sie mich bloß wegen der Mundstücke sprechen wollten.«
»Nein.« Ich reichte ihr meine Karte. »Wissen Sie, ich brauche dringend jemanden, der mich berät. Und weil ich mich bei Ihnen schon so grandios eingeführt hatte, dachte ich, hier kann ich nicht noch mehr falsch machen.«
»Es geht um die drei Morde.«
»Vor allem um den ersten. Und Sie können mir von allen vielleicht am besten weiterhelfen.«
»Nicht ohne Pralinen«, sagte sie und riss das Papier von der Schachtel. »Und Sie essen auch ein paar.«
Wir schafften fast die gesamte Packung.