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Wer vom Heidelberger Stadttheater spricht, meint damit einen Komplex ineinander verschachtelter Gebäude, die von einer Altstadtstraße bis zur nächsten reichen. Der Haupteingang befindet sich in der Theaterstraße, der Hintereingang in der weiter westlich gelegenen Friedrichstraße. Diesmal wählte ich letzteren. In einem gläsernen Kasten saß ein schnauzbärtiger Pförtner, der meinen Gruß wortlos erwiderte. Der Weg ins Vorderhaus führte mich über einen kleinen, zugeparkten Innenhof, dann hinunter ins Kellergeschoss und in ein unterirdisches Labyrinth. Ich folgte einem niedrigen, geweißelten Gang, an dessen Decke dicke Heizungsrohre entlangliefen. Es war warm und stickig hier unten, Neonröhren flackerten. In der Ferne hustete jemand so erbärmlich laut, dass es von den Wänden widerhallte. Immer wieder zweigten rechts und links neue Gänge ab, ebenso niedrig wie meiner, ebenso abweisend. Ausrangierte Möbel standen im Weg, zum Teil mit einer Inventarnummer versehen. Ich las die Aufschriften auf den vielen Türen, die ich passierte: Heizungskeller, Requisite, Dusche Damen. Gut, dass mich rote und blaue Pfeile sicher zum Ziel lotsten.
Im Lichthof zwischen Verwaltung und Bühnenhaus tauchte ich aus den Katakomben auf. Leise schloss ich die schwere Stahltür hinter mir. Niemand war zu sehen, die Garderoben lagen verlassen da. Keine Vorstellung an diesem Nachmittag. Ich durchquerte den Raum und erklomm leise die Wendeltreppe, die in den Verwaltungstrakt führte. Vor einer Tür im ersten Stock hielt ich inne. Aus dem Zimmer des Generalmusikdirektors drangen erregte Stimmen. Ich erkannte die des Rottweilers. Der Krisenstab tagte.
Ein Stockwerk darüber herrschte Totenstille. Nur die Dielen knarrten hin und wieder unter meinen Schritten. Nagels Dienstzimmer war verschlossen und polizeilich versiegelt, dafür standen die Türen zu den Überäumen sperrangelweit offen. Auch die Tür zu dem Raum, in dem wir mit dem Gnom aus Waldwimmersbach gewartet hatten. Zwischen den Türpfosten war rot-weißes Flatterband angebracht, weitere Maßnahmen hatte man nicht für nötig erachtet. Einladend stand das Klavier da und wartete, dass auf ihm gespielt wurde.
Ich duckte mich unter dem Band durch, stellte mich vor das Instrument und drückte wie am Abend zuvor vorsichtig eine Taste nieder. War wohl die falsche Taste. Ich nahm die daneben, dann eine andere und noch viele weitere. Aber da war kein Blut mehr, nirgendwo. Es war fort, verschwunden, weggewischt.
Erst überlegte ich eine Weile. Dann nahm ich das Klavier genau unter die Lupe, nicht nur die Tastatur, sondern auch den hochgeklappten Deckel, den eigentlichen Korpus, alles. Ich schaute sogar in das Innere des Instruments. Fand nicht einen Blutspritzer.
Interessant.
Als ich den Überaum zehn Minuten später verließ, war ich so in Gedanken versunken, dass ich nicht auf meine Schritte achtete. Dieselben Dielen wie zuvor gaben dieselben hässlichen, knarrenden Geräusche von sich. Die Klinke der Tür zum Treppenhaus schon in der Hand, schaute ich zu Nagels Zimmer hinüber. Schade, dass es verschlossen war. Einen Blick hätte ich gerne hineingeworfen.
Stattdessen warf ich einen Blick durch das Sichtfenster der Treppenhaustür und sah jemanden nach oben kommen. Den weißblonden Kampfhund, angelockt durch meine Dielenkatzenmusik. Rasch verdrückte ich mich in die benachbarte Toilette und wartete.
Ich hörte, wie der Polizist das Stockwerk betrat, wie er stehen blieb, um sich umzusehen und zu lauschen. Langsam ging er von Raum zu Raum, schaute hinein, summte leise vor sich hin. Einmal räusperte er sich. An der Toilette ging er vorbei. Er überprüfte, ob Nagels Zimmer noch verschlossen war, kehrte summend zur Treppenhaustür zurück.
Und dann betrat er die Toilette doch. Ich stand in der einzigen Kabine und hielt den Atem an, während der Kampfhund seinen Hosenstall öffnete und sich vor das Pissoir stellte.
»Mann, Mann, Mann«, sagte er seufzend.
Ich hätte natürlich in meinem Versteck warten können, bis er sich verzog. Aber was, wenn ihm plötzlich einfiel, die Kabine zu kontrollieren? Er wäre nicht der Erste, dem beim Pinkeln die besten Gedanken kommen. Außerdem konnte ich den Atem nicht ewig anhalten. Also verließ ich mein stilles Örtchen, gab dem Kerl einen jovialen Klaps auf die Schulter und machte mich davon. Mehr als ein hilfloses Röcheln brachte er in seiner Überraschung nicht zustande.
15 Sekunden später stand ich heftig atmend vor dem Verwaltungsgebäude auf der Straße, während der wackere Kriminalkommissar zwei Etagen über mir einen echten Interessenkonflikt austrug: Wasser lassen oder Koller fassen? Man sollte den Bullen das dauernde Kaffeetrinken verbieten.
Kurz darauf schlugen die Vorhänge eines Windfangs hinter mir zusammen. Die 50 Meter zwischen Theater und Hinterbühne hatte ich im Laufschritt zurückgelegt; von meinem beißwütigen Verfolger keine Spur. Die Hinterbühne, das inoffizielle Theatercafé und Marc Covets Zweitwohnsitz, verströmt den Charme einer Baustelle, auf der Fliesenleger und Stuckateure mal eben ein Päuschen eingelegt haben. Unlackierte Stühle, die Wände ohne Putz, von der kahlen Decke hängen nackte Glühbirnen, außerdem sitzt man nicht gerade bequem. Marc ist das egal, er schwärmt für das Whiskysortiment der Kneipe, und wer wollte ihm da widersprechen.
Ich traf die beiden im Nebenraum. Schweigend saßen sie da, vor halb leeren Gläsern, wie Männer, die kurz vor dem Aufbrechen sind. Ich hängte meine Jacke an einen Kleiderhaken und ließ mich in einen Stuhl fallen.
»Tach zusammen«, sagte ich und grinste.
Bernd Nagel nickte. Seine linke Hand hielt eine brennende Zigarette, die rechte suchte Halt an einem Martiniglas. Vor Covet stand der obligatorische Whisky. Von einem hoffnungslos ausgedünnten Mädchen mit traurigen blauen Augen ließ ich mir ein Pils bringen. Den ersten Schluck widmete ich meinem neuen Freund, dem blonden Kampfhund. Immer wieder erstaunlich, wie gut so ein erster Schluck schmecken kann.
»Nun, Herr Privatdetektiv«, sagte Nagel, »wie stehen meine Aktien?«
»Ihre Aktien?«, gab ich zurück, den forcierten Spott seiner Frage missachtend. »Das hängt von Frau von Wonnegut ab. Sind Sie im Bilde?«
»Marc hat es mir erzählt. Was für eine scheinheilige Alte!«
»Es wäre mir lieb, wenn Sie sich ihr gegenüber nicht anders als sonst verhalten würden. Tun Sie so, als wüssten Sie nichts von dem Auftrag.«
Er winkte ab. »Für mich ist die Frau gestorben.«
»Die auch?«, lag mir auf der Zunge. Stattdessen fragte ich ihn, ob er sich in der Zwischenzeit an weitere Zeugen seines nächtlichen Spaziergangs erinnert hatte.
»Bloß an den Koch der Ölmühle«, sagte er.
»An sonst niemanden?«
»Nein.«
»Gut. Ich werde das überprüfen. Natürlich wäre es besser …«
»Hören Sie, ich weiß selbst, was besser wäre«, fiel er mir ins Wort. »Dass ich alle paar Meter wildfremde Passanten angehalten hätte, um sie nach der Uhrzeit zu fragen und mir ihre Karte geben zu lassen. Habe ich aber nicht. Und warum nicht? Weil ich unschuldig bin, darum.« Wütend stopfte er seine Zigarette in einen Aschenbecher.
»Kommen wir zu Ihrer Ex-Freundin«, sagte ich ungerührt. »Erzählen Sie mir, was für eine Frau sie war.«
»Fragen Sie doch den da«, entgegnete er.
Ich drehte mich um. Rudernd bahnte sich der übergewichtige Dirigent mit dem Knebelbart seinen Weg durch die Kneipe. Als er schließlich an unserem Tisch stand, schnaufte er schwer. Auf seiner Stirn glänzten Schweißperlen. Bevor einer von uns ihn begrüßen konnte, schnellte seine Hand über den Tisch.
»Herzliches Beileid, Bernd«, sagte Barth-Hufelang feierlich. »Sie wissen, es kommt von Herzen.«
»Danke«, murmelte Nagel. Er hatte sich erhoben und – widerstrebend, wie mir schien – die Hand des Dicken ergriffen. »Wobei Sie doch genauso … ich meine, Sie waren auch mit ihr …«
»Wenn jemand Annette nahestand, dann Sie. Sie kannten sie am besten.« Der Dirigent ließ Nagels Hand nicht los, begann sie sogar mit der freien Linken zu tätscheln, wobei er seinem Gegenüber fest in die Augen schaute. Erst als sämtliche Kneipenbesucher Zeuge dieser heroischen Geste geworden waren, gab er Nagel frei und nickte uns zu. »Guten Tag, die Herren.«
Covet bot ihm einen Platz an und stellte uns einander vor. Meinen Beruf ließ er unerwähnt. Nun kam auch meine Hand in den Genuss, von warmen, feuchten Fleischpolstern umschlossen zu werden. Barth-Hufelang musterte mich eingehend, um zuletzt zu fragen: »Haben wir uns nicht …?«
»Wir haben«, nickte ich. »Gestern Abend, vor dem Zimmer von Herrn Nagel.«
Er nickte nachdenklich. Legte ab, nahm Platz, strich sich über das dunkle Bärtchen und schnaufte. Es war kein Schnaufen aus Anstrengung mehr – wobei für einen Koloss von zwei Zentnern womöglich schon das Dasitzen eine Anstrengung bedeutete –, sondern das dauerhafte Arbeitsgeräusch eines Körpers, der ein lahmes Gaumensegel und eine überkippende Tenorstimme sein eigen nannte. Keine guten physischen Voraussetzungen für einen Dirigenten klassischer Musik.
»Die nächste Aufführung sollte mit einer Schweigeminute beginnen«, sagte Barth-Hufelang. »Meiner Meinung nach. Einen Médoc. Aber nicht zu kalt, bitte.« Letzteres galt der melancholischen Bedienung, die an unseren Tisch getreten war.
»Ich hörte, Sie haben sie auch gut gekannt«, sagte ich.
Er wandte mir sein Gesicht zu. »Wen bitte?«
»Annette Nierzwa.«
»So, haben Sie das?«
»Können Sie sich vorstellen, wer sie erwürgt hat?«
»Ist das denn sicher, dass sie erwürgt wurde?«
Ich nickte der Einfachheit halber. Ein übergewichtiger, schnaufender Mensch, der einem prinzipiell mit einer Gegenfrage antwortete. Sehr sympathisch.
»Erwürgt«, sinnierte er kopfschüttelnd. »Ist das nicht schrecklich?«
»Können Sie sich vorstellen, wer sie erwürgt hat?«, wiederholte ich.
Barth-Hufelang blickte zu mir herüber, zu Covet, zu Nagel, wieder zu mir, schüttelte den Kopf, sagte: »Nein. Warum? Warum fragen Sie mich das? Haben Sie vielleicht eine Vorstellung?«
»Ich frage, weil das zu meinem Beruf gehört. Ich bin Privatdetektiv.«
Der Dirigent schwieg. Ich wartete auf einen Kommentar, eine Frage, doch er musterte mich wortlos. Ich war mit Sicherheit der erste Privatflic, mit dem er zu tun hatte. Nicht einmal in Opern kamen wir vor. Sein Médoc wurde gebracht, er griff mechanisch nach ihm.
»Noch ein Pils«, rief ich der Bedienung hinterher. »Und nicht zu warm, bitte.« Kurz flackerten ihre blauen Augen auf, aber ihre Miene blieb todtraurig.
»Privatdetektiv«, murmelte Barth-Hufelang und nippte an seinem Wein. »Privatdetektiv, interessant. Heißt das, dass Sie in diesem Fall ermitteln?«
»Ich war gestern zufällig vor Ort. Auch als Ermittler geht man hin und wieder in die Oper, nicht wahr? Aber ich höre mich ein wenig um.«
»Der Herr ermittelt«, sagte Bernd Nagel, »weil die Polizei mich als dringend Tatverdächtigen behandelt.«
»Sie?«, rief Barth-Hufelang, schrill und gekünstelt auflachend. »Sie, Bernd? Das ist doch lächerlich! Nur weil Sie … Da könnte man genauso gut mich verdächtigen.«
»Sie haben ein perfektes Alibi«, sagte ich. »Drei Stunden Figaro. Jede einzelne Note ist Ihr Zeuge.«
Von einem Moment auf den anderen schaute er ziemlich verkniffen. »Ich habe gestern nicht dirigiert«, sagte er.
»Nicht?«, entgegnete ich überrascht.
»Nein.«
»Unterbrechen Sie mich, wenn ich was Falsches sage, aber ich dachte, der Generalmusikdirektor …«
»… dirigiert sämtliche Premieren«, beendete er den Satz. »Das denken viele da draußen. Dabei ist es gängige Praxis, den Ersten Kapellmeister hin und wieder ranzulassen. Schon um die jungen Leute zu fördern. Dem Orchester tut es ebenfalls gut. Außerdem habe ich den Figaro in meiner Laufbahn schon dreimal auf die Bühne gebracht.« Er schüttete seinen Médoc mit einer Miene hinunter, als sei es Lebertran.
Sieh an, der Dicke war ja die Menschlichkeit in Person. Pfiff auf Hierarchien, ließ seinen Assi die Lorbeeren einheimsen. »Das heißt, Sie waren gestern nur als Zuhörer da?«
»Warum nicht?« Bevor ich antworten konnte, sprach er weiter. »Hören Sie mal, Sie Privatdetektiv, warum fragen Sie das alles? Soll das ein Verhör sein?«
»Verhöre führt nur die Polizei.«
»Und weshalb wollen Sie …?«
»Einen Moment«, mischte sich Covet ein. »Bevor es hier zu weiteren Missverständnissen kommt: Unser Freund Max Koller ist keineswegs in seiner Eigenschaft als Ermittler hier. Bernd und ich haben ihn aufgrund seiner beruflichen Erfahrung zu einem Gespräch gebeten, zu einer Art Meinungsaustausch. Ein reiner Freundschaftsdienst, verstehen Sie? Man braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, dass die Nachforschungen der Polizei sich um Bernd und sein Verhältnis zu Annette Nierzwa drehen werden.«
Schweigend nahm ich mein Bier entgegen. Eine Art Meinungsaustausch, dass ich nicht lachte!
»Aber das ist doch Unsinn!«, rief Barth-Hufelang. »Ausgerechnet Sie, Bernd! Wo Sie keiner Fliege etwas zuleide tun können. Die sollen sich lieber den Woll vornehmen. Dem traue ich alles zu. Alles.« Er griff zu seinem Glas, setzte es wieder ab und fügte leiser hinzu: »Bitte, das bleibt unter uns.«
»Wer ist Woll?«, fragte ich.
»Ihr Ehemann. Soloklarinette.«
»Und ihm trauen Sie einen Mord zu?«
Barth-Hufelang wandte sich mir ruckartig zu und legte das ganze Gewicht seines Generalmusikdirektorenamtes in seinen Blick. »Merken Sie eigentlich«, rief er, »dass Sie mir eine Frage nach der anderen stellen? Dass Sie mich mit Ihren Fragen löchern? Sitze ich hier auf der Anklagebank? Ist das ein Kreuzverhör?«
»Tut mir leid«, lächelte ich. »Kann wohl nicht so ganz aus meiner Haut. Ständig bricht der Ermittler durch. Trotzdem würde mich interessieren, was gestern Abend passiert ist. Annette Nierzwa wurde während der Vorstellung ermordet, und Sie sind wie so viele andere ein potenzieller Zeuge.«
»So? Bin ich das?«
»Vielleicht haben Sie die Vorstellung einmal verlassen und etwas …«
»Nein«, unterbrach er mich scharf. »Habe ich nicht.«
Das war wenigstens eine klare Antwort. Allerdings war es auch die letzte, denn kaum hatte er sie gegeben, erhob sich der Dirigent schnaufend, griff nach seinem Mantel und nickte Covet und Nagel zu.
»Sie entschuldigen mich«, sagte er knapp. Mich würdigte er keines Blickes.
Auf Barth-Hufelangs Abgang folgte eine längere Gesprächspause. Ich beschäftigte mich mit meinem Bier, Nagel schaute dem Zigarettenrauch nach, den er gen Decke blies, bis er einen Hustenanfall bekam.
»Ich habe ein Jahr lang nicht mehr geraucht«, sagte er entschuldigend.
»Hör mal, Max«, begann Covet, ohne mich anzusehen.
»Wetten«, sagte ich, »dass er der Bedienung keinen Cent Trinkgeld gegeben hat? Weil er dünne Menschen hasst, deshalb. Wir können sie fragen, wenn ihr wollt. Ich bin sicher, dass sie ihm bis auf die letzte Kommastelle herausgeben musste.«
»Hör mal zu«, wiederholte Covet. »Du musst Barth-Hufelang weder mögen noch ihm in den Arsch kriechen. Aber er und Bernd arbeiten zusammen. Deshalb wäre es angesichts der derzeitigen schwierigen Situation nett von dir, wenn du dich wenigstens neutral verhalten würdest.«
»Tue ich doch. Ich stelle ihm eine neutrale Frage nach der anderen, und er beantwortet sie nicht. Oder ist sein Geschnaufe die Antwort? So eine Art Geheimsprache, die nur Musiker verstehen?«
»Du brauchst uns keine Nachhilfestunde zu geben«, sagte Covet, während Nagel schmunzelte. »Zu der Erkenntnis, dass Barth-Hufelang ein Kotzbrocken ist, sind wir ganz alleine gekommen.«
»Prima. Wer ist Woll?«
»Annettes Ex-Mann«, antwortete Nagel. »Gregor Woll. Ein gutes Stück älter als sie. Spielt seit Ewigkeiten im Orchester.«
»Wie lange waren die beiden verheiratet?«
Nagel überlegte. »Fünf Jahre, glaube ich. Bis vor drei Jahren.«
»Was geschah, nachdem die Ehe auseinander ging? Mit wem war Annette Nierzwa zusammen?«
»So genau weiß ich das nicht. Unter anderem mit einem Schauspieler. Den hat es mittlerweile nach München verschlagen. Dann längere Zeit niemand Festes. Vor einem Jahr oder so lief die Geschichte mit Barth-Hufelang.«
»Und dann kamen Sie?«
Er nickte.
»Wie würden Sie das Verhältnis zwischen Ihnen und Barth-Hufelang bezeichnen?«
»Unser Verhältnis?« Er lachte. »Wie meinen Sie das? Privat oder beruflich?«
»Beides.«
Nagel zuckte die Achseln und klopfte etwas Asche von seiner Zigarette. »Privat gibt es kein Verhältnis zwischen mir und ihm. Wir machen beide unseren Job, wir machen ihn ordentlich, das wars. Es gibt keine gemeinsamen Skatabende nach Feierabend, wenn Sie das meinen.«
»Nein, das meine ich absolut nicht.« Fleckige Skatkarten in den Händen dieses Schönlings, das war unvorstellbar. »Ist Barth-Hufelang als Generalmusikdirektor eigentlich Ihr Chef?«
»Manchmal tut er so. Aber wir sind gleichberechtigt. Wissen Sie, ich trenne Beruf und Privatsphäre, und damit bin ich immer gut gefahren, auch mit ihm.«
»Wobei er schon unangenehm sein kann«, warf Marc ein. »Er hat seine Hausmacht und seine Anhänger, siehe Frau von Wonnegut.«
»Die hat jeder Dirigent.«
»Und die Tatsache, dass Sie ihm die Freundin weggeschnappt haben?«, fragte ich.
»Ich habe sie ihm nicht weggeschnappt«, entgegnete Nagel kühl. »Die beiden waren nicht mehr zusammen, als Annette und ich ein Paar wurden. Außer Bettgeschichten lief da ohnehin nichts. Barth-Hufelang wollte sich ja nicht von seiner Frau trennen.«
»Seiner Frau? Er war verheiratet?«
»Ist er immer noch. Und hat zwei Kinder. Kein Grund für ihn, auf eine Geliebte zu verzichten.«
»Die Familie lebt in Berlin«, sagte Covet. »Er auch, wenn er nicht gerade in Heidelberg dirigieren muss. Hier hat er bloß eine Wohnung, und es ist ein offenes Geheimnis, dass er wieder zurück möchte.«
»Weg aus Heidelberg? Aus einer Stadt, die fast Weltkulturerbe geworden ist?«
»Er träumt von einem der Berliner Opernhäuser«, sagte Nagel. »Deshalb dirigiert er dort, sooft es geht, und rührt die Werbetrommel. Die Figaro-Proben konnte er gar nicht leiten, weil er mal wieder unterwegs war.«
»Er hat also nicht aus purer Menschenfreundlichkeit gegenüber seinen Untergebenen auf die Premiere verzichtet?«
»Bewahre.« Bernd Nagel winkte ab.
Interessante Informationen. Wie hatte Frau von Wonnegut heute Morgen geunkt? Man müsse Barth-Hufelang eine Perspektive bieten, sonst stehe Heidelberg über kurz oder lang ohne Generalmusikdirektor da. Diese Befürchtung war also keineswegs aus der Luft gegriffen. Ohne Barth-Hufelang kein Ring 2012, ohne Ring kein erfüllter Lebensabend für Frau von Wonnegut.
»Hat er denn Chancen?«, wollte ich wissen. »Ich meine, ist er gut genug als Dirigent?«
Die beiden sahen sich an. »Schlecht ist er nicht«, sagte Marc.
»Er hat einen passablen Ruf«, ergänzte der Geschäftsführer. »Und Ellbogen. So dick er ist, der Mann versteht es, sich durchzusetzen.«
»Dann erklären Sie mir eine Sache: Wenn Sie nicht gerade ein Freund von Barth-Hufelang sind, der Förderverein mit Frau von Wonnegut an der Spitze ihn aber unbedingt halten möchte, warum mischen Sie in diesem Verein überhaupt mit? Arbeiten Sie nicht gegen Ihre eigenen Interessen?«
Bernd Nagel sah mich einen Moment verblüfft an. Dann lachte er. »Nichts für ungut, aber das sehen Sie ein wenig naiv. Was heißt hier meine eigenen Interessen? Beruflich komme ich mit dem Mann ganz gut aus, und dass er ab und zu den Diktator heraushängen lässt, juckt mich nicht. Ich arbeite schließlich schon länger mit Musikern zusammen, da muss man realistisch sein. Mit einem anderen wäre es auch nicht besser. Jeder Dirigent in dieser Position hat seine Macken. Der eine ist unzuverlässig, der andere ein Ekelpaket, dem dritten geht es nur um die Sopranistinnen. Ob Barth-Hufelang in Heidelberg bleibt oder nicht, spielt für mich keine Rolle. Für die Zukunft unseres Opernhauses wäre es jedenfalls besser, ihn zu halten. Denken Sie an die Diskussionen um die Theaterrenovierung. An einem wie ihm kommt kein Stadtrat so leicht vorbei. Und dass er die Hälfte der Zeit in Berlin lebt, ist für mich ein eher angenehmer Nebeneffekt.«
Ich leerte mein Glas, drehte mich um und schnippte mit den Fingern Richtung Theke. Nach dieser Antwort, der längsten, die mir Bernd Nagel während unserer kurzen Bekanntschaft gegeben hatte, brauchte ich dringend ein frisches Bier. Er hielt mich also für naiv. So ein Zufall, dasselbe hätte ich über ihn sagen können.
»Außerdem«, ergänzte Covet, »heißt das noch lange nicht, dass du das Wagner-Projekt der alten Wonnegut unterstützt. Ich meine, der komplette Ring in Heidelberg oder ein neues Opernhaus, das sind doch überzogene Pläne.«
»Ja und nein. Natürlich braucht die Region keine weitere große Spielstätte, solange es bessere in Mannheim und Karlsruhe gibt. Oder in Frankfurt. Davon abgesehen erfordert der Ring ein größeres Orchester, als Heidelberg derzeit hat. Andererseits: Wenn Frau von Wonnegut mit ihren Beziehungen Millionen locker macht, werde ich mich nicht sträuben, sie in Musik zu investieren.«
»Haben Sie sich mal mit Barth-Hufelang gestritten?«, fragte ich. »Wegen was auch immer?«
»Nein, habe ich nicht«, entgegnete Nagel finster. »Streiten gehört nicht zu meinen Lieblingsbeschäftigungen.«
Ich schaute nach der Bedienung, um den Blicken der beiden auszuweichen. Natürlich gehörte Streiten nicht zu Nagels Lieblingsbeschäftigungen. Es schadete seinem Teint, sein Hausarzt hatte es ihm untersagt. Lieber Händchenhalten und Mozart hören.
»Also haben Sie sich auch nie mit Annette Nierzwa gestritten«, sagte ich. »Wie schön. Warum ging die Beziehung dann auseinander?«
Nagel sah mich an, als warte er auf eine Pointe, die dem Gesagten einen Sinn verleihen könnte. Dann tippte er sich an die Stirn und wandte sich Covet zu. »Warum soll ich auf so etwas antworten?«, beschwerte er sich. »Warum? Was erlaubt der sich eigentlich?«
»Warum Sie mir antworten sollen?«, fuhr ich ihn an. »Weil Ihnen noch heute oder spätestens morgen dieselben Fragen gestellt werden, Herr Nagel: Wie lange ging das mit der Nierzwa? Warum waren Sie zusammen? Warum haben Sie sich getrennt? Gab es Streit? Ging es um Geld? Waren Sie sauer auf sie, waren Sie eifersüchtig, gab es dafür einen Grund? Und das wird dann alles schriftlich niedergelegt, da können Sie sich nicht bei Marc beschweren, dass Ihre Intimsphäre bedroht ist und Ihr guter Ruf auf dem Spiel steht. Die Polizei wird Sie auseinandernehmen, weil alles nach einer Beziehungstat aussieht, und da ist jede Frage erlaubt, verstehen Sie? Jede.«
Mein Bier kam, Gott sei Dank.
»Gut«, sagte Nagel patzig wie ein Schulbub. »Soll mich die Polizei befragen. Sie hat das Recht dazu.«
Ich zuckte die Achseln, nahm einen extragroßen Schluck Bier und stellte das Glas geräuschvoll auf den Tisch zurück. Auch so eine Schulbubenreaktion.
»Ihr seid vielleicht Sturköpfe«, sagte Marc. »Kommt mal runter von eurem hohen Ross und erinnert euch daran, worum es hier geht. Bernd, du warst damit einverstanden, dass Max ermittelt. Also reiß dich zusammen und erzähle ihm von Annette. Er hat recht, du wirst in den nächsten Tagen dazu noch oft Stellung nehmen müssen. Und du, Max, hältst dich mit deinen Kommentaren zurück und fragst nur Dinge, die du unbedingt wissen musst. Einverstanden?«
»Wie soll ich im Vorhinein wissen, was ich wissen muss? So etwas weiß man immer erst hinterher.«
»Einverstanden, ja oder nein?«, rief Covet und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. Nebenan schauten sie irritiert zu uns herüber. »Sonst beenden wir das Gespräch auf der Stelle.«
»Hängt von ihm ab«, entgegnete ich trotzig.
Schweigend sog Nagel an seiner Zigarette. Sein Blick wanderte durch die Gaststube, leicht zitterten die Nasenflügel. Noch einmal füllte er seine Lunge mit Rauch, dann stopfte er die Kippe mit drei Fingern in den Aschenbecher.
»Tut mir leid«, sagte er ausatmend. »Du hast natürlich recht, Marc. Jeder darf alles von mir erfragen. Was er nur möchte. Auch dein Freund Max. Ich stehe zur Verfügung.«
»Dann schlage ich vor«, sagte ich, »dass Sie mir von Ihrer Beziehung erzählen, und ich hake nur ein, wenn es absolut notwendig ist. Zufrieden?«
»Kindergarten«, knurrte Marc, lehnte sich zurück und bestellte einen Whisky.
Während Covet und ich an unseren Getränken nuckelten, ließ Bernd Nagel sein Verhältnis zu Annette Nierzwa Revue passieren. Er erzählte mit Sicherheit nicht einmal die Hälfte von dem, was wichtig gewesen wäre, und er garnierte seinen Bericht mit einer Menge überflüssiger Plattitüden, trotzdem kam ein einigermaßen zusammenhängendes Bild zustande. Annette hatte er vor gut zwei Jahren, bald nach Antritt seiner Stelle in Heidelberg, kennen gelernt. Eine Person, die sich nicht viel aus klassischer Musik machte, dank ihres Aussehens aber – so verstand ich seine Andeutungen – auch dem Liebhaber klassischer Formen zusagte. Mit anderen Worten: Er war gerne mit ihr ins Bett gehüpft. Allerdings nicht gleich, die Sache ging ihm zu schnell. Annette war beleidigt, machte vor seinen Augen mit anderen Männern rum, warf sich schließlich dem dicken Barth-Hufelang an den Hals, um sich von diesem bald wieder zu trennen. Erneute Annäherung an den attraktiven Geschäftsführer, der nun dem Ruf der Lenden nicht länger widerstand. Was Nagel natürlich ein wenig anders formulierte. Vor einigen Wochen, Monaten die Trennung, die keine Trennung war, sondern ein Auseinanderleben, Erkalten, Langweilen. Wie das so ist und wie das so geht. Divergierende Interessen erwachsener Leute.
»Es hat halt nicht sein sollen«, sagte Nagel.
»Klingt ziemlich souverän.«
»Wenn Sie meinen. Trotzdem ging es an mir nicht spurlos vorüber. Ich habe mir meine Gedanken gemacht.«
»Gestern Abend zum Beispiel.«
»Exakt.« Nach einer Pause fügte er hinzu: »Annette wollte es noch einmal probieren. Letzte Woche kam sie damit an. Das hat mich aus dem Konzept gebracht, fragen Sie mich nicht, warum. Eigentlich hatte ich mit ihr abgeschlossen.«
Ich warf Marc, der einigermaßen perplex dasaß, einen Blick zu. Seine Version der Geschichte hatte anders geklungen. Offensichtlich erfuhr auch er in diesem Moment Neues.
»Und nun waren Sie wieder unsicher?«
»Nein«, wand sich Nagel. »Es war vorbei, ich wollte nichts mehr von ihr. Aber wie das so ist, man hatte eine gemeinsame Zeit, man erinnert sich daran, denkt über sich und die Welt nach, wo man gerade steht, wohin man will … Kennen Sie das nicht? Dass es Tage gibt, an denen man sich die wirklich wichtigen, die grundlegenden Fragen stellt?«
»Doch«, sagte ich. »Immer an meinem Geburtstag. Und dann trinke ich mir die Antworten herbei.«
»Auch eine Möglichkeit«, brummte Nagel.
»Sie dagegen sind durch die Altstadt spaziert, um nachdenken zu können. Richtig?«
Er nickte.
»Nun gut. Ich werde versuchen, Zeugen für Ihre einsame Wanderung aufzutreiben. Einfach wird das nicht. Eine andere Frage: Wie standen Sie zu Annettes Ex-Mann?«
»Zu Woll? Überhaupt nicht. Der Kerl ist ein Kotzbrocken, dem gehe ich aus dem Weg. Was ich von Annette weiß, genügt mir.«
»Und das wäre?«
»Er hat Alkoholprobleme. Das weiß jeder im Orchester. Barth-Hufelang wollte ihn rausschmeißen, mit gutem Grund. Nur dass das bei einem städtischen Musiker verdammt schwer ist. Der sitzt auf seiner Orchesterstelle und wird da sitzen, bis er in Rente geht.«
»Hat er gestern Abend gespielt?«
»Sicher.«
»Und dieser Schauspieler? Wie hieß der?«
Nagel zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Vergessen.«
»Das kriege ich raus«, sagte Covet. »Auch wenn es zwei Jahre her ist.«
Ich nickte. Eine Zeit lang herrschte wohltuende Stille. Barth-Hufelangs Weinglas stand noch immer auf dem Tisch, eine Erinnerung an den Auftritt des schnaufenden Dirigenten.
»Was ist mit dir?«, wandte sich Covet schließlich an mich. »Hast du schon etwas herausgefunden?«
»Aber sicher«, grinste ich. »Ich muss meiner Auftraggeberin doch Ergebnisse liefern. Frau von Wonnegut wird sehr gefallen, wenn sie erfährt, dass der Geschäftsführer des Orchesters den Mord an Annette Nierzwa nicht begangen hat. Das ist doch so, Herr Nagel, oder?«
Nagel schwieg.
»Es ist so, und die Polizei wird es bald herausfinden, sobald sie den Tatort untersucht. Jeder Mörder hinterlässt Spuren, die man heutzutage problemlos nachweisen kann. Fingerabdrücke, Hautfetzen, DNA-Spuren, was weiß ich. Die Polizei wird Ihr Zimmer, Herr Nagel, auf den Kopf stellen – aber sie wird nichts finden. Nichts, was Ihre Unschuld belegt. Und das wird Frau von Wonnegut gar nicht gefallen.«
»Wieso sollte die Polizei nichts finden?«, fragte Covet.
»Weil der Fundort der Leiche nicht der Tatort ist. Hast du die kleine Platzwunde über Annettes Augenbraue gesehen? Über der linken Braue, um genau zu sein. Aber sie lag auf der rechten Gesichtshälfte. Wenn sie erwürgt wurde, wenn sie am Ende den Händen ihres Mörders entglitt und auf den Boden knallte, dann kaum dort, wo ihr sie gefunden habt.«
Covet überlegte. »Vielleicht ist sie im Fallen gegen etwas gestoßen.«
»Da käme höchstens der Schreibtisch in Betracht, und der stand ein Stück entfernt. Natürlich kann ihr Kopf auf die andere Seite gelegt worden sein, oder die Wunde rührt von einem Schlag, von einem Kampf her. Alles denkbar, aber nicht sehr wahrscheinlich. Ich vermute, dass Annette Nierzwa in einem anderen Raum getötet und dann fortgeschafft wurde, um den Verdacht auf Sie zu lenken, Herr Nagel. Und das wiederum wird Frau von Wonnegut sehr gefallen. Denn es spricht für Ihre Unschuld.«
»Na also!«, rief Marc. »Ich habe es dir doch gesagt, Bernd. Max kriegt was raus.«
»Hoffentlich«, murmelte Nagel und warf mir einen kurzen Blick zu. »Es ist nur eine Theorie. Ich meine, wer sollte mich zum Mörder machen wollen? Oder haben Sie Beweise?«
»Nein«, erwiderte ich. Es ist immer wichtig, einen Trumpf in der Hinterhand zu behalten. »Auch die Tatsache, dass Annette Nierzwa vermutlich nicht in Ihrem Zimmer getötet wurde, entlastet Sie in objektiver Hinsicht nicht. Aber die Polizei wird Beweise finden, davon können Sie ausgehen. Nur wird es wohl noch etwas dauern, schließlich sind gestern Abend jede Menge Leute durch den zweiten Stock getrampelt.«
»Allzu lange darf es aber nicht dauern«, sagte Nagel. »Das halte ich nicht aus.«
»Alles wird gut, Bernd.« Covet legte seine Hand beruhigend auf Nagels Arm. »Mach dir keine Sorgen. Wir kriegen das hin, Max und ich. Nicht wahr?«
»Ich tue, was ich kann«, grinste ich. Das Grinsen war unecht. Irgendetwas an dem Verhältnis der beiden gefiel mir nicht.