25
Unter sportlichen Gesichtspunkten gehörte dieser Tag eindeutig zu den erfolgreicheren. Die Rückfahrt zum Auerhahnenkopf war schon die dritte Trainingseinheit für heute. Hoch zur Drei-Eichen-Hütte, am Kohlhof vorbei, über den Schwabenweg. Ich begegnete einer Gruppe von Spaziergängern, rote und blaue Flecken vor verschneiter Kulisse, klingelte sie aus dem Weg, sie warfen mir missbilligende Blicke zu, weil ich ihre rot-blau-weiße Idylle mit meinem Radlerehrgeiz störte.
Eine gute Stunde war vergangen, seit ich Woll verlassen hatte. Gesellschaft hatte er nicht erhalten. Keine Bullen, keine Winterwanderer. Seine Wange schmiegte sich in den Schnee, die gefesselten Hände griffen ins Leere. Statt Hotelpool in Südamerika ein kaltes Bett am Läuterungsberg. Das hatte sich der Klarinettist anders vorgestellt.
Ich fuhr weiter bis zu dem Hochsitz, vor dem Woll gelegen hatte, stellte mein Fahrrad auf dem Gehweg ab und hängte die Jacke über die Querstange. Dann kletterte ich nach oben. Die morschen Sprossen der Leiter ächzten, aber sie hielten. Ob sie auch zwei Personen gleichzeitig trugen? Ich erinnerte mich an meinen Versuch mit der Leiche Wolls. Was für eine Sauarbeit musste es gewesen sein, ihn im gefesselten Zustand in die Höhe zu hieven. Vielleicht hatte er sich gewehrt. Sicher, es lohnte sich: Oben schützte ihn die Bretterverschalung vor Entdeckung. Andererseits hätte er sich durch Rufen bemerkbar machen können, er war ja nicht geknebelt gewesen.
Fröstelnd nahm ich auf dem Hochsitz Platz. Der Ausblick war bemerkenswert: freie Sicht auf den Königstuhl, in den Odenwald hinein bis hinüber zum Katzenbuckel, auf Kuppen und Täler und auf ein riesiges, graues Himmelszelt. Dann ein Motorengeräusch. Es kam aus der Tiefe des Neckartals, arbeitete sich in Schleifen nach oben. Sie nahmen denselben Weg von Schlierbach herauf wie ich Ewigkeiten zuvor. Vorsichtig stieg ich von meinem Aussichtsplatz herab. Wenn Woll tatsächlich auf dem Hochsitz deponiert worden war, hatte er sich aus lauter Verzweiflung, gefesselt und durchfroren, über die Bretter gewunden und war vier, fünf Meter in die Tiefe gestürzt. Ohne eine Möglichkeit, den Sturz abzufangen.
Ich zog meine Jacke wieder an und ging dem Autokorso entgegen. Bei Wolls Leiche blieb ich stehen. Woll war allein, ich war allein, aber sie kamen in voller Mannschaftsstärke. Kommissare, Streifenpolizisten, Kriminaltechniker, Polizeiarzt, Fotograf, sogar ein Forstbeamter. Greiner und Sorgwitz schmissen die Türen ihrer Wagen hinter sich zu, als handle es sich um die erste Disziplin eines Mehrkampfs, ich erkannte den Schnauzbart mit der cleveren Nichte wieder und den Kleinen, der die Musik in Barth-Hufelangs Wohnung ausgestellt hatte. Nur einer fehlte: Kommissar Fischer.
Auch ohne ihn kam die Polizeimaschinerie in Gang. Absperrbänder wurden entrollt, Kameras gezückt, die Kriminaltechniker schlüpften in ihre weißen Kampfanzüge, der Polizeiarzt öffnete sein Köfferchen. Es wurde gemessen, beschriftet, diktiert, kontrolliert. Ob das Verhalten von Kommissar Greiner ebenfalls täglicher Routine entsprang, kann ich nicht beurteilen. Jedenfalls kam der Rottweiler mit einem idiotischen Lächeln auf mich zu und blies nebenbei den Inhalt eines Nasenlochs ins Gebüsch. Als er mich erreicht hatte, verschränkte er die Arme vor der Brust, legte den Kopf schief und musterte mich. Dann nickte er in Richtung Leiche und sagte: »Was haben Sie da schon wieder angestellt, Koller?«
»Eine kleine Radtour.«
»Radtour nennen Sie das? Da bin ich aber froh, dass ich nicht dabei war.«
»Sie hätten den Anstieg auch nicht geschafft.«
»Träumen Sie weiter«, lachte er auf. »So, und nun erzählen Sie mal, was passiert ist.«
»Vielleicht sollten wir auf Ihren Chef warten. Damit ich nicht alles zweimal herbeten muss.«
»Kommissar Fischer scheint der momentanen Situation nicht recht gewachsen. Kein Wunder, bei Leuten wie Ihnen.«
»Und Ihr siamesischer Zwilling?« Sorgwitz stand in einiger Entfernung und tippte finster auf einem Handy herum. Die Blicke, die er uns zuwarf, gefielen mir nicht.
»Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf«, raunte Greiner, »dann kommen Sie Chris heute nicht zu nahe. Er kocht.«
»Sicher nur mit Wasser.«
»Ich habe Sie gewarnt. Wenn er Sie in die Finger bekommt, hat Heidelberg einen Privatdetektiv und ein Problem weniger. Und nun schießen Sie los.«
Ich tat ihm den Willen. Berichtete haarklein, was passiert war, ließ nichts aus, nur meinen Ausflug zum Emmertsgrund verschwieg ich. Dafür erklärte ich meinem argwöhnischen Zuhörer, wie es Woll geschafft hatte, nach Beendigung seines Erdendaseins vom Hochsitz auf den Waldweg zu gelangen. Auch auf die Gefahr hin, mich lächerlich zu machen.
»Wie bitte?«, sagte der Kommissar. »Sie haben die Leiche hierher getragen? Warum das denn?«
»Ich dachte, er sei vielleicht noch am Leben.«
Greiner warf der Leiche einen verblüfften Blick zu. »Mein Lebtag habe ich nichts Toteres gesehen als diesen Typen hier.«
»Er hat sich bewegt.«
»Bewegt, der? Wollen Sie mich verarschen? Was soll sich denn da bewegen?«
»Gestöhnt hat er auch. Mensch, Greiner, Sie brauchen mir nicht zu glauben, aber einen kurzen Moment lang dachte ich, Woll wäre noch zu retten. Ein Reh ist mein Zeuge.«
»Und warum rufen Sie dann nicht den Notarzt?«
»Deswegen.« Ich warf ihm mein entladenes Handy zu. Er betätigte ein paar Tasten, dann öffnete er zur Kontrolle den Batterieschacht.
»Sagen Sie mal«, wandte er sich dem Polizeiarzt zu. »Der Kerl ist doch tot, oder?«
»Toter geht nicht.«
»Und seit wann? Wie lange liegt der schon hier draußen?«
»Ich bin kein Experte für Tiefkühlkost«, knurrte der Arzt. »Wahrscheinlich wurde er gestern im Laufe des Tages in den Wald gebracht. Tot ist er seit mehreren Stunden. Fragen Sie mich bloß nichts Genaueres.«
Greiner gab mir mein Handy zurück. »Sie haben also nichts Besseres zu tun, als einen Toten durch die Gegend zu tragen. Zufälligerweise denselben Menschen, dem Sie eben einen Besuch abstatten wollten.«
»Richtig.«
»Das glaube ich Ihnen nicht.«
»Dann lassen Sies. Ich kann nur sagen, wenn sich die Polizei früher um den Verbleib von Woll gekümmert hätte, wäre er jetzt vielleicht noch am Leben.«
»Mir kommen die Tränen. Ist das hier der übliche Weg zu Wolls Wohnung?«
»Der übliche nicht. Aber der kürzeste.«
»Sie wussten doch, dass Woll nicht zu Hause war.«
»Oh, ich kann gut mit Hausmeistern.«
»Das kann ich mir vorstellen. Haben Sie ihn durchsucht, bevor Sie ihn huckepack genommen haben?«
»Nein.«
»Nein? Wie war noch mal Ihr Beruf?«
»Ich habe Ihnen etwas Arbeit übrig gelassen. Nur …« Ich kramte in meiner Jacke. »Nur dieser Schlüsselbund fiel mir entgegen.«
»Schon wieder so ein Zufall«, flötete Greiner und nahm die Schlüssel entgegen. Er konnte nicht wissen, dass der mit dem geflügelten M fehlte. »Heute muss ein ganz besonderer Tag sein. Von wo haben Sie uns eigentlich informiert? Ich meine, ohne funktionstüchtiges Handy?«
»Von einer Telefonzelle auf dem Königstuhl.«
Er blickte nach Westen, wo die Funktürme des Königstuhls in den grauen Himmel ragten. Von unserem Standpunkt aus waren es noch einige Höhenmeter bis zum Gipfel.
»Sportlich, sportlich, Herr Koller.«
»Mens sana in corpore sano, Herr Greiner.«
»Wusste gar nicht, dass Sie Latein können.«
»Soll ich es Ihnen übersetzen?«
»Brauchen Sie nicht«, zischte er. Ich verkniff mir ein Lachen.
Kommissar Sorgwitz hatte sein Spielgerät mittlerweile eingesteckt und näherte sich uns langsam. Der Arzt werkelte immer noch an Woll herum, hin und wieder schüttelte er den Kopf.
»Wo ist denn nun Ihr Chef, Herr Greiner? Im vorzeitigen Ruhestand?«
»So ungefähr. Kommissar Fischer scheint nicht mehr der geeignete Mann für solche Fälle zu sein. Die Nachricht vom dritten Opfer hat ihm ganz schön zugesetzt. Und zwar hier.« Er klopfte sich auf seine linke Brusthälfte. »Aber er soll ja guten Kontakt zur Ärzteschaft haben.«
»Und nun führen Sie das Regiment. Sie und Ihr bissiger Kollege. Auch ein schöner Zufall.«
Endlich kam es. Ich hatte schon die ganze Zeit darauf gewartet. Der Rottweiler zog die dunklen Brauen zusammen, hob die Rechte und fuhr einen Zeigefinger aus. Dann stieß er zu.
»Ich warne Sie, Koller«, fauchte er. »Sie kapieren nicht, wie tief Sie in der Scheiße sitzen. Nehmen Sie sich in Acht.«
»Vor wem und warum?«
»Chris hat mir erzählt, dass Sie in Nagels Wohnung eingedrungen sind. Zusammen mit Ihrem Journalistenspezi.«
»Eingedrungen?«, grinste ich. »Soll ich Ihnen erklären, wie ein Haustürschlüssel funktioniert?«
»Sie finden Woll, Sie sitzen während des ersten Mordes in der Oper, und beim zweiten Mord sind Sie auch zur Stelle.«
Ich lachte so laut, dass die Jungs von der Spurensicherung zu uns hersahen. »Sie sind wirklich ein Spaßvogel, Herr Greiner. Wer hat mich denn gestern früh aus dem Bett geholt? Ohne Sie hätte ich Barth-Hufelangs Wohnung niemals von innen gesehen. Und sogar aus der Tatsache, dass ich Mozart-Fan bin, wollen Sie mir einen Strick drehen.«
»Stellen Sie sich nicht dümmer, als Sie sind«, erwiderte Greiner kalt. »Wir hängen Ihnen keine Morde an, für so toll hält Sie hier niemand. Aber wir wissen, wen Sie decken. Weil Sie eingeweiht sind, können Sie Verwirrung stiften. Der Polizei immer eine Nasenlänge voraus, nicht wahr? So etwas habe ich geahnt, als ich Sie zum ersten Mal gesehen habe.«
»Interessante Theorie. Und wen decke ich? Bernd Nagel vielleicht?«
Greiner verzog keine Miene.
»Frau von Wonnegut? Die Freunde des Musiktheaters?«
Greiner schwieg.
»Auch nicht? Dann muss ich passen.«
»Wie wärs mit Ihrem Freund Covet?«, sagte eine Stimme hinter mir.
Ich drehte mich um. Breitbeinig stand der Kampfhund da, die Hände tief in den Taschen seines Mantels vergraben.
»Covet? Seit wann würfelt die Polizei bei der Suche nach Verdächtigen?«
Keine Antwort. Greiner hielt wie zuvor die Arme vor der Brust verschränkt, Sorgwitz’ Gesicht war von einer Art Grinsen entstellt, das entsteht, wenn die Mundwinkel ans Jochbein genagelt werden.
»Ein Journalist als Mörder«, sagte ich. »Um die Auflage seiner Zeitung zu erhöhen oder was?«
»Siehst du?«, sagte der Rottweiler. »Der macht immer weiter. Immer Nebelkerzen. Der würde unter Wasser noch weiterquatschen.«
»Selbst wenn ihm die Scheiße bis über die Ohrdeckel steht«, sagte Sorgwitz.
Ich begann zu lachen. ›Bis iewer die Ohrdäggel‹! Das gelegentliche Sächseln des Blonden setzte dem Arrangement die Krone auf. Drei Männer im Schnee, gezückte Colts, eine Leiche am Boden und Sätze wie aus dem Western. Charmant! Wohin das führen sollte, stand allerdings in keinem Drehbuch.
»Ich verstehe ja«, sagte ich, »dass Sie Ihrem Vorgesetzten imponieren wollen. Aber dazu bedarf es mehr als ein paar pubertärer Fantasien, wie Sie …«
»Pubertäre Fantasien ist gut«, grinste der Rottweiler.
Stille. Wussten die etwas, was ich nicht wusste?
»Warum sind Sie eigentlich vorhin so schnell verschwunden?«, fragte Sorgwitz. »Ich hätte Sie gerne noch einiges gefragt.«
»Mich oder Herrn Covet?«
»Nachdem ich mich bei Herrn Nagel rückversichert hatte, war Ihr Freund plötzlich nicht mehr so auskunftsfreudig. Stichwort Blumengießen. Davon wusste Nagel nichts.«
»Zwischen zwei Verhören vergisst man schnell mal, was man sagte.«
»Was wollten Sie bei Nagel? Welche Beweisstücke haben Sie dort beseitigt?«
Ich sah ihn an und lächelte. »Nu, Härr Sorgwitz, Se hamm ja die Schuh gewäggseld.«
Der Kampfhund schluckte. Dann drehte er sich zu seinen Mitarbeitern um.
»Schaut mal grade weg«, befahl er heiser. »Alle.«
Natürlich starrten sie ihn nun erst recht an, die Jungs mit ihren Fotoapparaten, Absperrbändern, Messinstrumenten und Aluminiumkoffern.
»Wegschauen, habe ich gesagt!«, brüllte er. Dann wandte er sich wieder um und verpasste mir mit aller Kraft einen Kinnhaken.
Ich hatte damit gerechnet. Irgendwann musste diese blonde Sprengladung einmal explodieren. Trotzdem flüsterte mir die ganze Zeit eine innere Stimme zu, so weit werde Sorgwitz nicht gehen. So weit nicht! Als seine Faust auf mich zuschnellte, war ich daher nur zu einer halben Reaktion fähig. Ich riss meinen Kopf gerade noch zurück, Sorgwitz traf die Spitze meines Kinns und kam ins Straucheln. Vielleicht war es auch mehr als die Kinnspitze. Jedenfalls reichte es, um mich hinterrücks ins Gehölz zu befördern. Noch im Fallen staunte ich über die Wucht dieses Schlags. Sorgwitz stolperte nach vorne, fiel auf die ausgestreckten Hände und lag einen Schritt neben mir im Schnee.
Keiner sagte etwas.
Der Kampfhund berappelte sich, zog die Nase hoch und sah auf mich herunter. Ich starrte in den Himmel. Gegen eine kurzzeitige Ohnmacht hätte ich nichts einzuwenden gehabt. Ein Arzt war ja zur Hand. Doch der Schnee kühlte meinen Hinterkopf und hielt mich bei Bewusstsein.
Mühsam setzte ich mich auf.
»Weitermachen!«, schnauzte Greiner das verblüffte Publikum an. »Oder war da was?«
Sorgwitz hielt sich die rechte Hand. Sie musste ganz schön wehtun, sagte mir mein Kinn.
»Wenn Sie das vor Fischer wiederholen, alle Achtung«, murmelte ich.
Der Kampfhund schwieg hasserfüllt und verzog sich in Richtung Auerhahnenkopf. Auch in seine Kollegen kam Bewegung, jeder wandte sich seinen Aufgaben zu, der Rottweiler interessierte sich plötzlich für die Leiche, und nur der Forstbeamte bekam seinen Mund nicht geschlossen.
Ich blieb im Schnee sitzen, betastete mein Kinn und wartete auf die Rückkehr meiner Lebenskräfte. Dabei mussten meine Blicke über den Boden gewandert sein. Denn plötzlich bemerkte ich, dass ich in Bernd Nagels Gesicht starrte.
Ich griff nach einem kleinen Gegenstand zwischen Farn und Gräsern. Ein Passfoto. Ich betrachtete es so lange, bis es dem Rottweiler auffiel.
»Was haben Sie da?«, knurrte er.
»Fragen Sie Ihren Kollegen.«
»Chris, komm mal her«, rief er. »Ist dir das Foto da aus der Tasche gefallen?«
Sorgwitz wandte sich mürrisch um und kam zu uns zurück.
»Nichts ist mir aus der Tasche gefallen«, presste er zwischen den Zähnen hervor. »Was denn, wie denn? Dazu müsste ich ja gestolpert sein, hier ist aber niemand gestolpert, hier ist überhaupt nichts passiert, nichts, was der Rede wert wäre. Ist das klar?« Er trampelte durch den Schnee, die Augen gerötet, an jeder Schläfe ein Trumm von Ader. »Ist das klar, Herr Privatdetektiv? Hier hat niemand etwas gesehen, und versuchen Sie bloß nicht, sich bei meinem Chef auszuheulen. Stehen Sie auf, bevor sich Ihr Bläschen entzündet. Her mit dem Foto!« Er griff danach.
Im letzten Moment roch ich an dem Bild, eine Sekunde, bevor er es mir aus der Hand riss.
»Wo hast du das her?«, fragte Greiner.
»Lag vor Nagels Haustür«, blaffte ihn der Blonde an. Er steckte das Foto ein und marschierte davon. Ich war nicht der Einzige, der ihm verblüfft hinterherschaute.
Das Bild, so winzig es war, hatte einen säuerlichen Geruch verströmt. Einen Geruch, der da nicht hingehörte. Den Geruch von abgestandenem Bier.