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Kommissar Fischer, der Mann mit dem schütteren Haar und der gelblichen Gesichtsfarbe, sollte recht behalten. Was während der nächsten Tage in aller Öffentlichkeit durchgekaut, will sagen: vorgekostet, eingespeichelt, kleingemahlen, hinuntergeschluckt und endverdaut wurde, ging auf keine Kuhhaut. Zumindest keiner mir bekannten Kuh. Über Wochen wärmte die Presse den ewig selben Brei auf, käute genüsslich wieder, was schon durch sieben andere Mägen gegangen war. Das Betroffenheitsrecycling lief auf Hochtouren.
Als am Donnerstag, zwei Tage nach Entdeckung der Bluttat, alle Zeitungen Barth-Hufelang der Pädophilie bezichtigten, war klar, dass in Fischers Mannschaft eine Loyalitätslücke klaffte. Keine Einzelheiten über den Mord an die Presse, keine Erwähnung des Schmuddelheftchens, so lautete die Anweisung. Irgendeiner pfiff darauf. Höchstwahrscheinlich einer der Beamten, die an der Durchsuchung der Wohnung teilgenommen hatten. Wer es war, ob er aus ehrlicher Entrüstung plauderte, ob er Geld bekam – man erfuhr es nie. Greiner und Sorgwitz schieden meiner Meinung nach aus. Die beiden waren viel zu ehrgeizig, um ihre Karriere wegen solcher Lappalien aufs Spiel zu setzen. Ansonsten kamen alle infrage, nicht nur der Polizist, der den Mord gutgeheißen hatte. Ich selbst wurde seltsamerweise nie behelligt, obwohl ich Privatflic und als solcher von Natur aus verdächtig, geschwätzig und käuflich war. Vielleicht hatte Kommissar Fischer gespürt, dass mich Barth-Hufelangs Bettlektüre kalt ließ.
Andere ließ sie freilich nicht kalt. Und wehe, wenn diese anderen einen Griffel in der Hand hielten oder vor einem flimmernden PC-Monitor saßen! Dann wurde formuliert, was die Muttersprache hergab. Wer schreiben konnte, schrieb, und er tat dies in der wohligen Gewissheit, zur Gemeinschaft der Guten zu gehören. Ein geheimes Band moralischer Überlegenheit umschlang unsere Medienvertreter. Dass die Öffentlichkeit erst 48 Stunden nach Entdeckung des ermordeten Barth-Hufelang von dessen dunklen Seiten erfuhr, setzte dem Ganzen die Krone auf. Denn so erhielten alle Beteiligten die Gelegenheit, ihre Empörung gleich zweimal und von verschiedenen Standpunkten aus zu artikulieren.
Verwerflich war ja schon der Mord an sich. Immerhin handelte es sich bei dem brutal erschlagenen – ein ganz Pfiffiger schrieb: ›hingerichteten‹ – Familienvater um den obersten musikalischen Repräsentanten Heidelbergs. »Ein schwarzer Tag für die Menschen unserer Stadt«, so oder ähnlich ereiferten sich Kommunalpolitiker, die sich Stimmen bei den anstehenden Wahlen erhofften. Marc Covets Neckar-Nachrichten zählten sogar zwei Opfer: den Menschen Barth-Hufelang und die Kultur höchstselbst. Der Mord in Handschuhsheim, so las man in einem Kommentar auf Seite zwei, war nicht einfach ein Mord, sondern Symbol für die Verrohung einer Gesellschaft, der die traditionellen Werte abhanden gekommen waren. ›Was ist uns noch heilig‹, donnerte es der verzagten Leserschaft entgegen, ›wenn mit der Musik die unschuldigste aller Künste in den Schmutz gezogen und mit Füßen getreten wird?‹ Ein schönes Bild; nur dass der bedauernswerte Barth-Hufelang keineswegs totgetreten, sondern totgeschlagen worden war. Da die Tatwaffe jedoch bis auf Weiteres verschwunden blieb, musste sich der zornige Kanzelprediger auf metaphorisches Ufer retten.
Dort war er nicht der Einzige. Man warnte vor dem Untergang der urbanen Kultur oder gleich des Abendlandes. Der Koloss Barth-Hufelang war gefällt, sein Sturz ließ die gesamte Metropolregion erzittern. ›Was tut die Polizei?‹, wurde gefragt. ›Wer schützt uns?‹ Hinter solchen Fragen steckte das schlechte Gewissen vieler Redakteure, dass man sich für das Opfer des ersten Mords, einer gewissen Garderobiere namens Annette Nierzwa, nie wirklich interessiert hatte. Umso heftiger wucherten nun die Verschwörungstheorien.
Natürlich gab es auch besonnenere Stimmen, die sich gegen diesen apokalyptischen Tonfall verwahrten, aber zumindest in den ersten Tagen fiel es ihnen schwer, Gehör zu finden. Gewissermaßen zwischen den Extremen bewegte sich eine Reihe von Leserbriefschreibern, die der Diagnose vom Verfall der Sitten zustimmten, sie allerdings auf das Künstlermilieu beschränkt wissen wollten. Durch die schrecklichen Ereignisse rund um das Stadttheater sahen sie ihre Vorurteile gegenüber allem, was unter dem Deckmantel der Kunst ihre Steuergelder fraß, bestätigt. Barth-Hufelang mochte ein exzeptioneller Dirigent gewesen sein, als Ehebrecher habe er ebenfalls seine Meriten gehabt. Es sei eben schwer, zwischen all der Leidenschaft auf der Bühne und dem eigenen Hormonhaushalt einen sauberen Trennstrich zu ziehen.
Nach dem dritten oder vierten Leserbrief reagierten die Theaterleute. Sie beriefen eine gut besuchte Pressekonferenz ein und ließen verlauten, sie wüssten sehr wohl zwischen Realität und Fiktion zu unterscheiden, das lerne man nirgendwo besser als in ihrem Beruf, und überhaupt liege die Kriminalitätsrate von Schauspielern, Musikern und Tänzern deutlich unter dem Bundesdurchschnitt, wie statistisch leicht zu belegen sei. Zu ihrer Unterstützung meldete sich bei derselben Pressekonferenz ein international angesehener Theaterwissenschaftler zu Wort, der den Spieß der Argumente einfach umdrehte. Es stimme, sagte er, dass gerade der Opernbetrieb unter dem Widerstreit privater, künstlerischer und ökonomischer Interessen leide, bei diesem Widerstreit aber handle es sich um ein allgemeingesellschaftliches Problem. In jedem Karnevalsverein, jedem Kegelclub sei das heutzutage so. »Was wir hier erleben, ist die Globalisierung im Kleinformat«, sagte der Mann und setzte sich.
Das Protestgeheul, das sich daraufhin erhob, war beeindruckend. Nicht sofort natürlich, denn verstanden hatte kaum einer die Ausführungen des Mannes. Aber sie waren am nächsten Tag auszugsweise in den Neckar-Nachrichten abgedruckt, man konnte sie wieder und wieder lesen, konnte die Wörter ›Karnevalsverein‹ und ›Kegelclub‹ unterstreichen und sich persönlich getroffen fühlen. Denn welcher Heidelberger war nicht in einem solchen Verein? Außerdem hatte der Wissenschaftler behauptet, seine Feststellung gelte für alle Bereiche des öffentlichen Lebens, also auch für Sportclubs, Mittelstandsvereinigungen und Presbyterien. Für Universitäten und Parteien sowieso. Eben für alle. Erneut hagelte es Leserbriefe, es gab Stellungnahmen in Fernsehen und Rundfunk, Erklärungen diverser Vorstände, und jeder von ihnen stimmte der vernichtenden Analyse ›zu 99 Prozent‹ zu, lediglich die eigene Gruppe, Kaste oder Interessengemeinschaft ausnehmend. Insgesamt konstatierte man den allgemeinen Niedergang der öffentlichen Moral, gegen den man sich hilflos und verzweifelt zu stemmen habe – und suchte händeringend nach Nahaufnahmen der toten, halbnackten Annette Nierzwa. Bevorzugt von hinten.
Hauptkommissar Fischer hatte recht gehabt. Manches konnte man sich einfach nicht vorstellen.
Der Mittwoch verstrich, es nahte der Donnerstag. Und mit ihm nahten die nochmals gesteigerten Auflagen, die brüllenden Headlines, die Flut der Ausrufezeichen: ›Barth-Hufelang pädophil!‹ – ›So pervers sind unsere Promis!!‹ – ›Der Dicke und die nackten Jungs‹. Waren die Zeitungen schwerer geworden, oder wirkten sie durch die Schlagzeilen so? Und es ging ja nicht nur um die Presse. Auch im Radio befand man, ein Mord sei ekelhaft, aber Schmuddellektüre unterm Bett ebenfalls. Oder erst recht. Die Tagesschau brachte ein Experteninterview, das ZDF die Ergebnisse einer Blitzumfrage. Wozu genau, habe ich vergessen, mit dem Mord selbst hatte es jedenfalls nichts zu tun. Wer sich in diesen Tagen nicht konsequent die Mütze über Augen und Ohren zog, sah sich einem Trommelfeuer von Meinungen, Mahnungen und Mutmaßungen ausgesetzt:
›Unsere Werte gehen den Bach runter.‹
›Kein Wunder, wenn sie jetzt schon in der Oper nackt rumlaufen.‹
›Es könnte Ihr Kind sein.‹
›Wohin soll das führen?‹
›In Wirklichkeit ist es noch viel schlimmer.‹
›Ich wandere aus.‹
Selbst im Englischen Jäger beherrschte dieses Thema kurzzeitig alles. Tischfußball-Kurt fragte mich, ob ich ihm Barth-Hufelangs Heftchen besorgen könnte, nur aus Interesse natürlich, um mitreden zu können. Am Stammtisch machten sie mehrfach Handbewegungen, die mich an die Tätigkeit einer Guillotine erinnerten, und einer unserer Intellektuellen zitierte aus dem Feuilleton einer überregionalen Zeitung. Dort wurde der Mord an Barth-Hufelang zum Menetekel einer todgeweihten Gesellschaft erkoren und das verschwundene Mordwerkzeug zum richtenden Schwert. Der Autor hatte eben erst über die zeitgenössische Gültigkeit alttestamentarischer Maximen promoviert, Marias Kneipe hallte wider von unserem Gelächter, am Tag darauf aber versprach ein Heidelberger Familienvater aus besten Kreisen dem Mörder Barth-Hufelangs 10.000 Euro, wenn er sich offenbarte.
War es das?
War es natürlich nicht. Zwei Wochen gingen ins Land, längst waren die Morde und ihre außergewöhnlichen Begleitumstände auf die hinteren Seiten der Zeitungen gewandert, da goss der Mannheimer Abendkurier, das Pendant zu den Neckar-Nachrichten und diesen in ewiger Feindschaft verbunden, neues Öl ins Feuer. Er veröffentlichte ein anonymes Schreiben, das Barth-Hufelang posthum in Schutz nahm. Der Brief war im Original abgedruckt, und nach der Lektüre musste man sich fragen, ob ein derart grauenhaftes Deutsch nicht strafbarer war als Pinkelbilder von Kleinkindern. Die ›Befölkerung‹ wurde aufgerufen, sich zu ›seinen‹, nicht etwa ›ihren‹, Perversionen zu bekennen, das sei besser, als Waffen zu bauen oder die Natur zu schänden. ›Schenden‹ hieß es im Original, dafür schrieben sie ›Perversionen‹ richtig. Die wahren Abartigen säßen in der Politik und im Management, und überhaupt sei jeder, der behaupte, eine weiße Weste zu besitzen, ein ›Häuchler‹. Wie sie ›Management‹ buchstabierten, verkneife ich mir. Gezeichnet war das Ganze mit ›Perverse Proleten‹ und einer schwarzen Maske.
Daraufhin brandete der Sturm der Entrüstung wieder auf. Dass die Redaktion des Abendkuriers unter empörten Anrufen und Leserbriefen schier zusammenbrach und den mutigen Legasthenikern wahlweise Haft oder Sterilisation angedroht wurde, war das eine. Das andere war, dass sich an der schwelenden Rivalität zwischen dem Abendkurier und den Neckar-Nachrichten ein regelrechter Lokalkrieg entzündete. Am Tag nach Abdruck der Solidaritätsadresse rechnete der Chefredakteur des Heidelberger Blattes höchstpersönlich mit dem Mannheimer Konkurrenten ab. Welch ein Pharisäertum, schrieb er: sich wochenlang in den Chor der Empörten einzureihen, um am Ende derartigem Gesindel eine Plattform zu geben. Dahinter stecke bloß Marktgeilheit, das Schielen nach der Auflage, und überhaupt sei Barth-Hufelang als Heidelberger Einzelfall anzusehen, während die Stadt Mannheim offenbar Perverse und Proleten en masse produziere. Im Windschatten dieses Artikels kündigten die letzten Heidelberger Leser des Abendkuriers ihr Abonnement, sagte die Pfaffengrunder Prinzengarde eine Einladung nach Käfertal ab, boykottierten Heidelberger Klassikfreunde das Mannheimer Nationaltheater. Gerüchte über den hohen Homosexuellenanteil im dortigen Orchester machten die Runde, auf dem Wochenmarkt wurde ›Rhein-Neckar‹ als Herkunftsbezeichnung von Lauch und Rosenkohl gestrichen und durch ›echt Heidelberg‹ ersetzt.
Der Mannheimer Konter ließ nicht lange auf sich warten. Der Oberbürgermeister legte angesichts der ›unerträglichen Stimmungsmache‹ jegliche Zusammenarbeit mit der Nachbarstadt auf Eis, der Abendkurier veröffentlichte von nun an täglich seine Abonnementsstatistik (Tendenz: stark steigend), und die Besucher des Nationaltheaters beglückwünschten mittels einer ›offenen Erklärung‹ die Heidelberger Musikliebhaber zu ihrem heroischen Entschluss, nur noch die eigene zweitklassige Oper zu besuchen. Mitten in diesen Auseinandersetzungen machte jemand publik, dass das Schreiben in Dossenheim abgestempelt worden war. Damit, frohlockte der Abendkurier, fielen die Perversen Proleten ja wohl unter die Verantwortung Heidelbergs.
Abgesehen von diesem Geplänkel hatte das Outing der Proleten auf andere Gruppen eine geradezu befreiende Auswirkung. In gewissen Kreisen galt es plötzlich als schick, seine Perversitäten zu pflegen. Initiativen schossen aus dem Boden, es gab Gesprächskreise und rührende Bekennerabende, Szenetreffs luden zu Talkrunden: ›Du und ich – pervers?‹ oder ›Mut zum Masochismus‹. In der Folge entstand sogar ein Kammerorchester mit dem schönen Namen AbArt, das aus Instrumentalisten mit besonderen sexuellen Neigungen bestand und sich auf Werke schwuler Künstler spezialisierte. Nach einem Jahr ging es wieder ein.
Aber all dies hatte mit dem Schneeball, der die Lawine ausgelöst hatte, mit den bei Barth-Hufelang gefundenen Bildchen nämlich, kaum noch etwas zu tun. Irgendwann beruhigten sich die Gemüter, wurden die Rollläden energisch zugezogen, kochte jeder zu Hause sein eigenes Süppchen. Die einen feierten einen wichtigen Schritt in Richtung sexueller Befreiung, die anderen sahen den Weltuntergang herandämmern, je nachdem. Die Leserbriefe begannen sich wieder den zentralen Themen zu widmen: der Parkplatznot, der Überfremdung, den Politikerdiäten.
Eine Person aber würde das vermaledeite Heft und den vermaledeiten Dirigenten ihr Lebtag nicht vergessen, und das war meine Auftraggeberin, Frau von Wonnegut. Noch am selben Dienstag wurde ihr die Nachricht überbracht, dass ihr Idol, der Generalmusikdirektor Heidelbergs, seine letzten Takte geschlagen hatte. Der Überbringer war ich. Von dem Fund unter Barth-Hufelangs Matratze erzählte ich nichts. Daraufhin versetzte sie die halbe Lokalredaktion der Neckar-Nachrichten in Aufruhr, bis man ihr versprach, eine exklusive Todesanzeige für das Fördervereinsmitglied Barth-Hufelang in die Donnerstagsausgabe zu setzen. Und dann geschah das Wunder: Von den kleinen pornographischen Abseitigkeiten ihres Idols erfuhr Frau von Wonnegut nichts. Spätestens seit Mittwochnachmittag summten die Redaktionsräume der Neckar-Nachrichten vor Gerüchten, aber kein Wort davon drang an die Ohren der Alten. Leicht auszumalen, mit welch diebischer Freude die Lokalredakteure sich gegenseitig versicherten dichtzuhalten. Am nächsten Tag erschien die von Wonnegut’sche Anzeige. Und sie erschien nicht irgendwie. Sondern direkt neben dem Aufmacher im Lokalteil: ›Geheime Obsessionen eines Dirigenten‹. Da konnte Frau von Wonnegut in ihrem Nachruf noch so sehr die Lauterkeit des Verstorbenen preisen, seinen Opfergang für die Musik, seine apollinische Heiterkeit und seinen künstlerischen Ernst – es war für die Katz. Das kleine Heft erschlug alles. ›Wer die Kunst liebt, trauert um diesen Mann‹, stand links; gezeichnet: ›Elke Friederike von Wonnegut‹. Rechts hingegen las man: ›Im Nachhinein fragen sich die Heidelberger, was für ein Mensch das war, der Beethoven, Brahms und Bruckner zelebrierte, der von der Stadt mit Ehrungen und finanziellen Zuwendungen überhäuft wurde und zur selben Zeit unter der Bettdecke seinen abnormalen Lüsten frönte …‹
Meine Gönnerin schäumte. Sie tobte. Einen solchen Wutausbruch hätte ich ihr gar nicht zugetraut, schon gar nicht am Telefon. In Ermangelung eines besseren Opfers ließ sie alles an mir, Max Koller, aus: Warum ich sie nicht umfassend informiert hätte? Weshalb ich sie dermaßen in die Falle hätte gehen lassen? Ob ich überhaupt mein Geld wert sei? Na, ich gab der Alten mit gleicher Münze zurück und erklärte, es sei weder meine Art noch meine Pflicht, die persönlichen Geschmacklosigkeiten eines Mordopfers weiterzutratschen. Ganz abgesehen davon, dass ich der Polizei gegenüber Geheimhaltung gelobt hatte. Wenn Frau von Wonnegut beim Wettlauf um das publikumswirksamste Kondolieren unbedingt die Nase vorn haben wollte, war das ihr Problem. Wir blafften uns also eine Zeit lang an, bis die Leitungen glühten. Dann hängte sie auf Nimmerwiederhören ein, und ich rechnete meine Spesen zusammen.
Aber dazu später.