17
In London
Die Zeit wurde knapp. Mir blieben schätzungsweise noch zwei Tage, bis Potts und Anderson merkten, dass etwas im Busch war, und sich auf die Suche nach mir machten. Ich konnte es mir nicht leisten, sie auf den Fersen zu haben, während ich verzweifelt versuchte, Leute um einen Gefallen zu bitten und das nötige Geld zusammenzukratzen. Unser Plan sah vor, dass Katya am Abend wieder in Lincoln sein und dafür sorgen sollte, dass sie dort blieben - wir hatten uns schon überlegt, was sie sich ausdenken würde -, aber zuvor hatten wir noch einiges zu tun. Vom Schlafmangel leicht gerädert, gingen wir als Erstes ins Natural History Museum. Ich wollte Katya dabeihaben - ein zweites Augenpaar konnte in diesem Fall sehr nützlich sein.
Wir mussten ungefähr eine halbe Stunde warten, bis Geraldine, die Bibliothekarin, uns das Bild brachte - das Bild des geheimnisvollen Vogels von Ulieta, entstanden an dem Tag, an dem er zuletzt lebend gesehen wurde, noch frisch und markant, vollkommen ahnungslos, was seinen merkwürdigen Platz in der Geschichte anging. Katya betrachtete das Bild noch einmal und sah dann zu mir auf.
»Er ist so unscheinbar, findest du nicht? Als du mir das erste Mal von ihm erzählt hast, hab ich mir was richtig Exotisches vorgestellt. Du weißt schon, leuchtende Farben, prächtiges Gefieder und so.«
»Ich weiß. Er ist einfach ein kleiner brauner Vogel. Nichts Besonderes, oder? Aber wenn man genauer hinschaut, ändert sich das. Siehst du’s? Die Schönheit steckt im Detail.« Wir ließen unsere Augen staunend über all die Feinheiten der Form und Zeichnung wandern, die den Vogel schön und einzigartig machten, und begannen, sie uns einzuprägen. Ich versuchte es mit einer Zeichnung, und beide notierten wir uns die Schattierungen jedes Farbtons, um uns später daran erinnern zu können. Wir taten, was wir konnten, um das Bild unserem Gedächtnis einzubrennen: Wir maßen und repetierten, und dann schlossen wir die Augen und versuchten, uns zu erinnern.
»Würdest du das Original erkennen, wenn du’s jetzt sehen würdest?«, fragte ich Katya schließlich. Sie nickte feierlich.
»Ja. Ganz bestimmt.«
»Die Farben werden im Lauf der Jahre natürlich verblasst sein, das müssen wir einkalkulieren. Stell dir dieses Kastanienbraun viel heller vor und die Flügel dort, wo sie der Sonne ausgesetzt waren, ausgebleicht. Die Augen werden auch anders aussehen - Glas aus dem achtzehnten Jahrhundert, das mit der Zeit trübe geworden ist.«
»Und du? Hast du das Bild klar im Kopf?«
»Klarer wird’s nicht mehr werden. Komm, gehen wir.«
Draußen trennten sich unsere Wege. Wir standen in der Spätherbstsonne, und die Busse in der Cromwell Road ließen das dürre Laub um unsere Füße wirbeln.
»Viel Glück«, sagte Katya lächelnd.
»Danke.« Ich lächelte zurück, befangen, unsicher, wie so ein Abschied zwischen uns vonstatten gehen sollte. Schließlich nickte ich nur etwas dümmlich und winkte ihr im Weggehen zu.
Ich hatte vor, mich für den Rest des Nachmittags ans Telefon zu hängen und Leute um einen Gefallen zu bitten, aber erst brauchte ich Geld. Ich suchte einen Geldautomaten und hob die höchstmögliche Summe ab. Die Sache würde teuer werden.
Katya ging als Erstes noch einmal in das Londoner Archiv, wieder auf der Spur von Miss B., nur dass sie diesmal wusste, nach welchen Namen sie suchen musste. Trotzdem war es nicht einfach. Als sie mich am Mittag anrief, hatte sie noch rein gar nichts gefunden.
»Macht nichts«, sagte ich. »Es ist ja nur der Ordnung halber. Damit das auch erledigt ist. Viel wichtiger ist, dass du rechtzeitig wieder in Lincoln bist, damit die anderen nicht zu neugierig werden.«
Zwei Stunden später rief sie noch einmal an, und diesmal sprach sie abgehackt, bemüht, ihre Aufregung durch knappe Effizienz in Schach zu halten.
»Ich hab sie gefunden«, sagte sie. »Sie hat das Kind südlich des Flusses taufen lassen. Aus Diskretion vielleicht.«
»Was steht da?«
»Sophia, Tochter des verstorbenen Joseph Burnett und seiner Frau Mary. September 1773.«
»Dann hat sie also angegeben, der Vater sei tot? Wahrscheinlich, um den richtigen Joseph rauszuhalten.«
»Und du? Wie läuft’s bei dir?«
Ich überlegte. »Ich glaube, ich werde das meiste kriegen, was ich brauche. Schamlos, wirklich. Ich probiere es bei Leuten, die ich jahrelang nicht mehr gesehen habe. Aber die meisten sind sehr großzügig. Das Problem ist, dass ich morgen fast den ganzen Tag herumfahren und Geld einsammeln muss. Nach Bristol, dann nach Dorset und auf dem Rückweg noch in ein paar andere Orte.«
»Reicht dir die Zeit?«
»Ich weiß nicht. Wenn ich’s nicht schaffe, bekommt Anderson Wind von der Sache und fegt uns vom Platz. Du musst schnell nach Lincoln, um zu verhindern, dass er seine Nase da reinsteckt.«
»Ich fahr gleich los.«
 
Wie durch ein Wunder brachten die öffentlichen Verkehrsmittel Katya so rechtzeitig wieder nach Lincoln zurück, dass es noch für einen Drink vor dem Abendessen reichte. Als Erstes aber machte sie an der Rezeption Halt, um Bescheid zu sagen, dass ich plötzlich hätte wegmüssen, mein Zimmer aber die nächsten Tage auf jeden Fall noch behalten würde. Dann ging sie nach oben und klopfte an Andersons Tür.
Die vergangenen vierundzwanzig Stunden waren für Anderson nicht die besten gewesen. Er hatte sich damit abfinden müssen, dass seine Recherchen ergebnislos verlaufen waren, dass der Ulieta-Vogel nicht mit dem Inventar des Old Manor in Ainsby versteigert worden war. Infolgedessen, das wusste er, würde es keinen schnellen Sieg, keine Abkürzung zu dem Vogel oder den Bildern geben, nicht einmal eine Garantie, dass sie noch existierten. Als Katya in Lincoln eintraf, packten er und Gabriella bereits die Koffer. Sein weltmännischer Charme bröckelte.
Das änderte sich jedoch, als er die Tür öffnete und Katya vor ihm stand.
»Wie viel zahlen Sie für den Vogel?«, fragte sie.
 
Eine halbe Stunde später traf sie Potts in der Bar an.
»Ah, seien Sie gegrüßt«, strahlte er und sprang auf. »Sie und Mr. Fitzgerald sind ja heute Morgen sehr früh aufgebrochen. Ich habe Sie schon gesucht.«
»Tja, da bin ich«, sagte Katya vergnügt lächelnd.
»Und Mr. Fitzgerald? Ist er auch da?«
»Er wurde aufgehalten. Wahrscheinlich kommt er später zurück.«
»Verstehe. Von wo zurück, wüsste ich gern.«
»Das müssen Sie ihn selbst fragen.«
»Sie wissen es nicht?«
»Ich habe ihm versprochen, es niemandem zu sagen.«
»Verstehe. Dann habe ich ja den ganzen Abend Zeit, Sie umzustimmen.«
Katya zog die Brauen hoch und setzte eine geheimnisvolle Miene auf. »Und noch etwas sag ich nicht, das hab ich ihm auch versprochen.«
»Es hat wohl wenig Sinn, Sie trotzdem zu fragen, oder?«
»Das kommt drauf an.« Sie musterte ihn einen Moment. »Würden Sie mehr für den Ulieta-Vogel zahlen als Karl Anderson?«
 
In dieser Nacht gelang es mir, ein paar Stunden Schlaf zu finden. Es waren die ersten seit vierzig Stunden, und ich hatte sie bitter nötig. Der folgende Tag würde lang und schwierig werden. Ich wusste nicht, wie er enden würde.
Er begann um sechs Uhr früh. Um sieben war ich aus dem Haus, unterwegs Richtung Westen, nach Bristol. Es war ein strahlender Morgen, doch jenseits des Londoner Ballungsraums lag Raureif auf den Feldern, und die Äste der kahlen Bäume waren weiß. Die Sonne schien von einem tiefblauen Himmel - ein guter Tag zum Autofahren -, und meine Müdigkeit verflüchtigte sich. Als ich die letzten Ausläufer der Stadt hinter mir hatte, spürte ich tief in meinem Innern eine freudige Erregung. Ich wusste, was ich tat und wohin mein Weg führte. Als ich an das Gesicht auf dem Foto dachte, konnte ich zurücklächeln.
Das Glück war mir hold an diesem Tag, doch das hätte mich nicht zu wundern brauchen - die meisten Entdeckungen sind Glücksfälle. Das passt vielen Leuten nicht, sie möchten, dass sich Entdeckungen etwas Bedeutenderem als dem Zufall verdanken. Aber sie irren sich. Was zählt, ist die Entdeckung selbst. Und wenn je etwas bewiesen hat, wie wichtig Glück ist, dann war es die Entdeckung des afrikanischen Pfaus.
Während sich mein Großvater zu Fuß durch den heißen Urwald des Kongo kämpfte, weilte der amerikanische Naturforscher James Chapin wieder einmal in Belgien und besuchte dort wie immer das alte Kolonialmuseum in Tervueren. Es ist ein prächtiges Gebäude, der belgische Rivale von Versailles, und es beherbergt eine erstaunliche Zahl von Artefakten und ein Sammelsurium anderer Objekte, die über die Jahre ihren Weg von Belgisch-Kongo hierher fanden. Zwanzig Jahre waren vergangen, seit Chapin die einzelne Feder gefunden hatte, und er wird kaum noch an sie gedacht haben. Doch als er sich einige der weniger markanten Ausstellungsstücke ansah, fiel sein Blick auf zwei in einem Winkel versteckte ausgestopfte Vögel. Sie sahen aus, als hätte sich seit vielen Jahren niemand mehr für sie interessiert. Beides waren indische Pfauen, Jungvögel, wie es auf dem Schild hieß, doch Chapin sah auf den ersten Blick, dass es sich nicht um junge Tiere handelte; die Sporen des Hahns etwa waren dick vom Alter. Was immer sie sein mochten: Jungvögel waren es nicht. Sie sahen zwar aus wie Pfauen, aber nicht wie die Pfauen, die Chapin kannte.
Nachforschungen ergaben, dass die beiden Vögel dem Museum zusammen mit anderen Objekten von einer Handelsgesellschaft in Belgisch-Kongo gestiftet worden waren. Chapin recherchierte weiter und ermittelte ihren exakten Fundort im Kongo. Ausgerüstet mit dieser Information, organisierte er eine neue Reise nach Afrika. Es war kein allzu schwieriges Unterfangen; schließlich wusste er genau, wo er suchen musste. Binnen weniger Wochen sammelte er über ein Dutzend lebender Exemplare des Kongopfaus, des einzigen Vogels seiner Art in ganz Afrika.
Ja, so war das. Während sich mein Großvater verzweifelt einen Weg ins Herz des Kongo freischlug, wurden im verstaubten Regal eines belgischen Museums die ersten afrikanischen Pfauen gefunden. Sie waren die ganze Zeit über dort gewesen.
 
An diesem Tag legte ich in dem rostigen zitronengelben Auto viele Kilometer zurück und bat um mehr Gefallen, als ich auch nur annähernd verdiente. Ich kam in geduckte viktorianische Vororte und in Dörfer mit raureifüberzogenen Dorfwiesen und eisgeränderten Weihern. Ich traf mich mit einem Mann in einem Wettbüro und mit einem anderen in einem geräumigen Grafschaftspfarrhaus. Einige boten mir materielle Unterstützung an, andere hatten nicht mehr zu geben als eine Auskunft darüber, wie man im achtzehnten Jahrhundert einen Vogel präpariert hatte und in was für einem Zustand er heute sein würde, oder eine Empfehlung, welche Vorsichtsmaßnahmen ich ergreifen und welche Chemikalien ich verwenden musste, wenn ich ihn mitnehmen wollte. Ich hörte mir alles an, und als es keine Spenden mehr zu sammeln gab und ich auch nichts Neues mehr erfahren würde, kehrte ich nach Hause zurück.
Erst gegen zehn kam ich in London an, aber ich war nicht müde, sondern im Gegenteil hellwach und voll rastloser Energie. Ich hätte versuchen sollen zu schlafen, um am nächsten Morgen fit zu sein, doch die Zeit war so knapp, dass es mir absurd erschien, an Schlaf auch nur zu denken. Stattdessen kramte ich die Schlüssel hervor und schloss meine Werkstatt auf. Im gleißenden Licht der Lampe über meiner Werkbank ließ ich mich von meinen Händen führen, bis die Rastlosigkeit in meinem Gehirn der grimmigen Konzentration des Präparators wich. Je länger ich arbeitete, desto ruhiger wurde ich, und desto deutlicher zeichnete sich mein Weg vor mir ab. Es würde klappen.
Ich arbeitete bis tief in die Nacht, und als ich mein Werk am nächsten Tag betrachtete, fand ich, es sei das Beste, das ich je gemacht hatte.
Danach ging alles glatt. Später fuhr ich wieder nach Lincoln.
 
 
Ihr Kind kam früh zur Welt, strampelnd und hustend, in der staubigen Hitze der letzten Augusttage. Es war eine schwere Geburt, und vier Wochen lang war sie zu schwach, um das Haus zu verlassen, zu erschöpft, um ihre Pläne weiterzuverfolgen. Sie stillte ihr Kind und schleppte sich durch die langen, stickigen Tage, in denen der Gestank der Londoner Straßen gegen ihre Fenster anzubranden schien, durch mühselige, schlaflose Nächte.
Banks war knapp drei Wochen vor der Geburt seiner Tochter aus Wales zurückgekehrt. Bei seiner Ankunft fand er die Wohnung in der Orchard Street verändert vor. Die Malsachen waren weggeräumt, und dort, wo ihre ersten vier Madeira-Bilder gehangen hatten, waren die Wände kahl. Als einzige ihrer Arbeiten war noch die Studie brauner Eichenblätter und Eicheln zu sehen, die sie in ihren ersten Monaten in Richmond angefertigt hatte. Trotz seiner Schlichtheit war es ihr Lieblingsbild: das erste, das sie gerahmt, das erste, das sie in der Orchard Street aufgehängt hatte.
»Ich habe die Madeira-Bilder weggeräumt«, erklärte sie. »Es schien mir richtig, sie beisammen zu lassen, und ich möchte nicht von ihnen abgelenkt werden. Du würdest doch nicht wollen, dass ich unser Kind vernachlässige und mich mit Konturen und Schattierungen befasse?« Er pflichtete ihr bei, doch ihre Worte stimmten ihn traurig, und die Räume erschienen ihm ohne die Bilder trüb und leer. Auch nicht das neue Leben, auch nicht der Lärm, den es mit sich brachte, schien ihm die Räume so zu erfüllen, wie sie früher erfüllt gewesen waren. Vielleicht deshalb berührte ihn sein Kind nicht in dem Maße, wie er es erwartet hatte. Die leichte Distanziertheit, die sich zwischen Vater und Mutter eingeschlichen hatte, stellte sich auch zwischen Vater und Tochter ein. Er wollte von Herzen ihr Bestes, aber es war, als würde ihn der Knoten der Unsicherheit, der sich in seinem Innern geschürzt hatte, daran hindern, sie zu lieben. Er war ein Mann, dem es am leichtesten fiel zu lieben, wenn er selbst geliebt wurde, und dies war für ihn eine Zeit des Zweifels. Sie nannten sie Sophia, nach seiner Schwester.
Sie kam wieder zu Kräften, und wenn er sie mit dem Bündel in ihrem Schoß lachen sah, empfand er anfangs Eifersucht. Er kürzte seine Besuche ab, versuchte sich anderswo zu zerstreuen und sagte sich, dass sich ihre Begeisterung für das Kind mit der Zeit legen würde. Doch die Erinnerung an ihr lächelndes Gesicht brachte ihn oftmals wieder zu ihr zurück. Bei all seiner Verwirrung erschien sie ihm noch immer wie ein Wunder. Er hätte sie gern in die Arme geschlossen und es ihr gesagt, fand aber nicht die Worte. Und sie schien ihm nicht helfen zu wollen, auch wenn sie ihn oft zärtlich und zugleich forschend ansah.
Eines Tages schließlich traf er sie allein an, als sie Blumen in einer Vase arrangierte, in einem frisch gestärkten Kleid, das Haar ordentlich aufgesteckt. Sie sah aus wie in der ersten Zeit in Richmond, und eine Welle der Zärtlichkeit trug ihn durch den Raum. Er blieb hinter ihr stehen und fasste sie sacht um die Taille. Sie steckte noch eine einzelne Blume zurecht und legte die anderen dann beiseite, wandte den Kopf und sah ihn über die Schulter an. Er erwiderte ihren Blick und musste daran denken, wie grün ihre Augen waren, wie sanft das Lächeln um ihre Mundwinkel. Er schlang die Arme enger um sie und zog sie an sich. Der vertraute Duft ihrer Haare umfing ihn.
»Wir waren lange nicht mehr allein«, flüsterte er.
Sie lehnte sich zurück, sodass ihre Wange die seine berührte. »Die Dinge haben sich verändert«, sagte sie.
»Du hast dich nicht verändert. Du bist nur noch ungewöhnlicher, noch schöner, als ich zu sagen vermag.«
»Wir beide haben uns verändert, Joseph. Wir vergessen es nur bisweilen.«
»Schließ die Augen. Fühle ich mich anders an?«
»Weißt du noch, wie du mich gehalten hast, nachts in unserem kleinen Zimmer mit den grünen Vorhängen?«
»So halte ich dich auch jetzt.«
Sie löste ihre Wange von seiner, wandte sich in seinen Armen um und sah ihm ins Gesicht. »Nein, das war anders.«
»Was war anders?«
»Du hattest damals keine Zweifel.«
Einen Moment lang hielt er ihrem Blick stand, dann senkte er die Lider. »Ich zweifle nicht an dir«, sagte er ganz leise. »Ich weiß, dass ich dich liebe. Aber ich weiß nicht, was die Zukunft bringen wird.«
Sie neigte sich näher zu ihm. Ihre Wange lag an seiner, und ihre Lippen berührten fast sein Ohr.
»Du hast Aufgaben zu erfüllen, Joseph. Eine Welt zu verändern. Du musst all das tun, worüber wir gesprochen haben.«
»Aber wie?«
»Du wirst ein angesehener Mann sein. Ein Vorbild. Du wirst heiraten. Einen Erben zeugen.«
»Nein.«
»Doch.« Sie rieb sanft ihre Wange an seiner. »Früher, denke ich, war ich dir wohl eine Hilfe. Jetzt, mit Sophia, bin ich dir im Wege.«
»Das ist nicht wahr.«
»Und ich muss mein Bestes für sie tun.«
»Nämlich?«
Sie löste sich aus seiner Umarmung und wandte sich ab. »Hast du einmal daran gedacht, wie es für sie sein wird, wenn man sie als deine Tochter kennt?«
Sie hatte mit einer gewissen Schärfe gesprochen, die ihn überraschte.
»Ich kann nicht glauben, dass es ein Nachteil sein soll, meine Tochter zu sein«, erwiderte er. »Es wird ihr an nichts fehlen, das kann ich dir versprechen.«
»Sie wird die Tochter deiner Geliebten sein. Die Tochter einer ausgehaltenen Frau. Das werden ihr manche nie verzeihen. Man wird es ihr Leben lang gegen sie verwenden.«
»Und die Alternative?«
Sie kehrte in seine Arme zurück und schmiegte sich eng an ihn, ehe sie antwortete. »Die Alternative ist, dass du uns gehen lässt«, sagte sie.
 
Er schwor, er werde das niemals zulassen. Er schwor, ohne sie bedeute ihm sein Leben nichts. Er weigerte sich zu glauben, dass seine Tochter ihr Leben nicht in London verbringen könne, diskret, von ihm anerkannt, ungesehen von anderen. Sie aber wusste, dass er im Irrtum war. Sie betrachtete das vollkommene kleine Wesen, das sie zur Welt gebracht hatte, und dachte dann an ihre eigene Kindheit. Ihre Familie hatte stets Missbilligung und Schande erdulden müssen. Man hatte sie gemieden und verachtet, weil sie die Tochter ihres Vaters war, hatte sie in den Straßen von Louth geschnitten, weil sie John Ponsonbys Geliebte war. Und nun war sie Joseph Banks’ Geliebte, von dem notorischen Abenteurer verführt. Sie drückte die kleine Sophia an sich und gelobte ihr, dass niemand sie in ihrem ganzen Leben je verachten oder der Schande preisgeben würde.
 
Fabricius verließ London kurz nach Banks’ Rückkehr. Er ging nach Dänemark zurück, wo die Luft rein war und das Licht auf dem klaren Wasser glitzerte. In London hatte er den weiten dänischen Himmel vermisst, und nun sah er oft in stiller Freude zu ihm auf, oder er verhielt den Schritt und blickte zum Horizont.
Die traute Zweisamkeit der Nachmittage in der Orchard Street erschien ihm immer unwirklicher, eine Episode in seinem Leben, die aus dem Nichts gekommen war und ihn nirgendwohin geführt hatte, ihn dort zurückgelassen hatte, wo er angefangen hatte. Es war erstaunlich, wie er sich plötzlich in dieser ruhigen, stillschweigenden Partnerschaft wieder gefunden hatte, erstaunlich, wie viel er empfunden hatte und dass er bereit gewesen war, seine Gefühle preiszugeben. Er dachte oft an sie. Bisweilen, wenn er mit einer schwierigen Aufgabe befasst war, kam ihm ein Wort oder ein Satz von ihr in den Sinn, und er hielt lächelnd inne.
»Mit den Käfern verhält es sich so«, hatte sie ihn einmal geneckt, »dass es, auch wenn man sich bei ihrem Studium noch so langweilt, doch nie an neuen Exemplaren mangeln wird, die man betrachten kann.« Noch viele Jahre nach seiner Rückkehr lehnte er sich am Ende eines langen Arbeitstages manchmal zurück und wandte sich feierlich seinen Studenten zu. »Meine Herren«, sagte er, »trösten wir uns, was die Käfer anbelangt, immerhin mit der einen großen Gewissheit.«
»Mit welcher Gewissheit?«, fragten sie dann, und ihr sonst so ernster Mentor überraschte sie mit einem Lächeln und wiederholte ihre Worte. Einen Lidschlag lang war er dann wieder in London, und eine schlanke junge Frau stand malend vor ihm.
Banks hatte ihm großzügig Zugang zu seiner Sammlung gewährt, und deren Studium während jenes Sommers hatte Fabricius viel zu bearbeiten und zu denken gegeben. Jetzt aber war er Banks gegenüber befangen, als wären seine Besuche in der Orchard Street ein unentdeckter Treuebruch gewesen. Vielleicht deshalb schrieb er Banks erst im November jenes Jahres, und auch dann musste er den Brief mehrmals überarbeiten. »Meine besten Empfehlungen und Wünsche in die Orchard Street«, schrieb er. »Ist es ein Junge, wird er stark und gescheit werden wie sein Vater, ist es ein Mädchen, wird sie vornehm und hübsch werden wie ihre Mutter.«
Banks’ Antwort war knapp. Er sei Vater einer Tochter, Mutter und Kind seien wohlauf.
Als Banks ihm das nächste Mal schrieb, war es Februar, und Schneewolken zogen tief und schwer an Dänemarks Himmel dahin. In dem Brief stand nichts über die Orchard Street, nichts über Geliebte oder Kind. Fabricius stellte diskrete Nachforschungen an und erfuhr, dass Banks von seiner Geliebten verlassen worden war. Miss Brown und ihre Tochter waren verschwunden.
 
Im Januar 1774, vier Monate nach der Geburt ihrer Tochter, ging sie eines Tages im nahe gelegenen Park spazieren. Es war kalt, und der Boden war fest gefroren, doch Martha begleitete sie, und trotz der Kälte waren die beiden behaglich ins Gespräch vertieft. Plötzlich rief jemand ihren Namen. Ihren richtigen Namen. Noch nie, seit sie Revesby verlassen hatte und John Ponsonbys Geliebte geworden war, hatte jemand sie mit diesem Namen angesprochen. Sie hatte ihn für ein Geheimnis gehalten, das sie gehütet hatte, weil sie nur so den Ruf ihres Vaters schützen zu können glaubte. Umso heftiger erschrak sie, als sie die Stimme vernahm.
»Miss Burnett, wenn ich mich nicht irre.« Es war eine Männerstimme, und das »Miss« wurde so betont ausgesprochen, dass sie sich abrupt umdrehte.
Erst erkannte sie ihn nicht in seinem schweren Wintermantel, doch dann dachte sie an Madeira und sah ihn wieder vor sich, wie er sie im Kerzenschein anlachte.
»Mr. Maddox«, erwiderte sie mechanisch; der Schreck machte sie unvorsichtig.
»Sie erinnern sich also an mich?« Er lächelte sein träges, selbstsicheres Lächeln. »Dabei bin ich ganz anders angezogen als bei unserer letzten Begegnung, wenn ich mich recht erinnere. Doch ich muss sagen, das gilt auch für Sie.«
Sie errötete und dachte plötzlich daran, wie klar seine Stimme klang und dass Leute in Hörweite waren.
»Burnett ist nur der Name, unter dem ich gereist bin«, sagte sie leise. »Wenn Sie mich jetzt entschuldigen wollen...«
Er hielt mühelos mit ihr Schritt. »Solche Eile ist wenig schmeichelhaft. Es gab Zeiten, da waren Sie nicht so scheu. Es wäre doch ganz falsch, unsere Bekanntschaft so kurz nach ihrer Erneuerung schon wieder zu beenden, Miss Burnett. Zumal unter so veränderten Umständen. Und wie Sie sehen, bleibt mir nichts anderes übrig, als Sie bei diesem Namen zu nennen, solange Sie mir keinen anderen liefern.«
»Mein Name dürfte von keinerlei Interesse für Sie sein, Sir.«
»Im Gegenteil, ich finde Sie höchst faszinierend. Ich habe oft bedauert, dass ich nie Gelegenheit hatte, Sie in gleicher Weise kennen zu lernen wie Sie mich. Da wir nun beide in London sind, könnten wir das Versäumte ja nachholen.«
»Das glaube ich kaum, Sir.«
Er ging noch immer neben ihr her, und da sie ihn so schnell wie möglich abschütteln wollte, war Martha ein kleines Stück zurückgeblieben.
»Ach, nein?«, fragte er in spöttisch-belustigtem Ton. »Ich frage mich, ob Ihr derzeitiger Gentleman von Ihren früheren Heldentaten weiß? Vielleicht legen Sie ja gar keinen Wert darauf. Möglicherweise möchte er lieber nicht wissen, dass er sich in Gesellschaft eines ehemaligen Schiffsjungen befindet.«
»Sir!« Sie blieb stehen, und Martha kam schnaufend heran. Auch er verhielt den Schritt und betrachtete beide mit seinem gelassenen Lächeln. »Nun, Sie müssen doch zugeben, dass man sich schwer tut, gute Gründe für Ihr ungewöhnliches Verhalten zu finden. Ich bin sicher, Ihr gegenwärtiger Beschützer würde sie nur ungern aufdecken.«
Sie sprach so ruhig und langsam, wie es ihr möglich war.
»Sir, ich muss Sie bitten, uns augenblicklich zu verlassen. Ich bin sicher, Sie haben noch anderweitig zu tun.«
Sein Lächeln wurde noch breiter, und er nickte anerkennend. »Es freut mich zu sehen, dass Ihr Mut nicht unter Ihrer Abkehr von männlicher Kleidung gelitten hat. Dieser Mut war es, den ich bewundert habe, als Sie mir beim Baden zuschauten. Ich war überzeugt, Sie würden erröten und die Flucht ergreifen.« Er verneigte sich leicht. »Da Sie mich gebeten haben, Sie zu verlassen, werde ich das auch tun. Ich kann Ihnen jedoch versichern, dass meine geschäftlichen Angelegenheiten nicht annähernd so interessant sind wie die überraschende Miss Burnett. Ich werde weiter nach Ihnen Ausschau halten. Für eine so große Stadt versteht London es erstaunlich schlecht, Geheimnisse zu wahren.«
Mit einer erneuten Verbeugung wandte er sich ab und ging davon. Die beiden Frauen blieben stumm zurück.
 
Sie versuchte, Joseph zu warnen. Sie schrieb ihm eine Nachricht, in der sie von der Begegnung berichtete und ihm sagte, sie befürchte einen Skandal, wenn Maddox die Geschichte ihrer Reise publik mache. Um ihm die Gefahr vor Augen zu führen, bat sie ihn dringend zu kommen. Dann wartete sie. Fünf Tage ließ er sich nicht blicken. Er sei nicht in der Stadt gewesen, sagte er, als er endlich erschien, er habe ihre Nachricht nicht erhalten. Wie ein schmollender Jüngling stand er vor ihr, bewusst verspätet, ungehalten, weil man ihn herbeizitiert hatte, und zugleich beschämt über seinen Ärger. Als sie das alles sah, wandte sie sich ab und wollte hinausgehen, doch diese Zurückweisung verstimmte ihn noch mehr, und ehe sie an der Tür war, hielt er sie auf.
»Ich bin hier, weil du mit mir zu reden wünschtest.«
»Es hat keinen Sinn«, erwiderte sie. »Ich sehe, dass nicht mit dir zu reden ist.«
»Das ist beleidigend. Ich komme gerade von sehr guten Freunden, die mich als Gesprächspartner nicht so gering schätzen.«
»Ach, Joseph!« Sie sah ihm in die Augen und schüttelte, plötzlich ermattet, den Kopf. »Dann geh und rede mit ihnen. Das wäre besser für uns beide. Du hast mir einmal dein Wort gegeben, dass du mich niemals gegen meinen Willen halten würdest. Heute erinnere ich dich daran.«
Die Schärfe ihrer Worte erschreckte beide, und sie verstummten. In dem Schweigen, das darauf folgte, trat er zur Seite, sodass sie den Raum jederzeit verlassen konnte.
»Du hast Recht«, murmelte er. »Ich werde dich nicht gegen deinen Willen festhalten.«
In diesem Augenblick sah sie in seinem traurigen Gesicht zum letzten Mal den jungen Mann, den sie liebte, sah ihn verletzt und verwirrt und ihrer nicht mehr sicher. Für diesen kurzen Moment geriet ihre Entschlossenheit ins Wanken. Sie berührte sein Gesicht.
»Mein Liebster«, sagte sie. »So sollte es nicht sein.«
Er nahm ihre Hand und drückte sie mit geschlossenen Augen an seine Lippen. So standen sie, bis sie ihm ihre Hand entzog.
»Wie ist es nur so weit gekommen?«, fragte er. »Ich weiß, dass ich dich liebe, wie ich dich nur je geliebt habe. Doch mitunter vergesse ich es. Ich gebe dir die Schuld daran, dass es nicht mehr so ist, wie es einmal war. Ich hege solchen Groll. Zugleich aber denke ich mit solchem Stolz und solcher Sehnsucht an dich, dass ich mich schließlich selbst hasse.«
»Vielleicht ist Liebe am Ende immer ehrlich.«
»Ist das wahr?«
»Ich weiß es nicht. Ich wünschte, es wäre so.«
»Die Welt drückt mich so sehr nieder. Es gibt so viel zu tun, dass es mir vorkommt, als könnte ich nichts wirklich gut machen. Und es scheint, als wäre darin kein Raum für dich. Doch manchmal, wenn ich müde und allein bin, verstehe ich mich selbst nicht mehr, weil ich nicht bei dir bin.«
»Und doch bist du immer seltener hier.«
Er wandte den Blick ab, dann sah er sie wieder an. »Ich möchte so vieles sein. Wenn ich nicht bei dir bin, ist es manchmal leichter, so zu tun, als wäre ich dieses viele. Du kennst mich zu gut.«
»Du kannst alles sein, das habe ich dir immer gesagt.«
»Ja, ich kann alles sein. Du lässt mich daran glauben. Aber es hat seinen Preis.«
Da lehnte sie sich an ihn und legte leicht die Stirn an seine Brust.
»Ja«, sagte sie. »Alles hat seinen Preis.«
 
In dieser Nacht schlief er eng an sie geschmiegt. Auch sie schlief, wenn auch mit Unterbrechungen; von Zeit zu Zeit weckte seine Hand, die im Schlaf nach ihr tastete, oder seine bloße Nähe sie auf. Sein Schlaf war ruhig und gleichmäßig, und schlafend schien er wieder jung, sein Gesicht glatt wie einst in den Wäldern um Revesby. Sie spürte wieder die Wärme, die sie stets erfüllte, wenn sie nachts zusammen waren. Als der Tag anbrach, legte sich die Morgendämmerung wie ein eisiger Hauch auf ihre Haut.
Die Sonne stieg höher, und sie fiel in einen tieferen Schlaf. Er erwachte und betrachtete sie. Schon wollte er sie wecken, doch dann erschien ihr Schlaf ihm zu vollkommen, um ihn zu stören. Hätte er gewusst, dass er sie zum letzten Mal schlafen sah, wäre er niemals gegangen. Doch die Nacht mit ihr hatte ihn beruhigt. Ein strahlender Morgen war angebrochen, ein neuer Tag winkte, und er eilte ihm entgegen. Als sie erwachte, war das Zimmer von Licht durchflutet, und er war fort.
Ihr Brief erreichte ihn drei Tage später in seinem Haus in der New Burlington Street.
»Mein Liebster«, schrieb sie, und ihre Worte waren tief in das Papier eingegraben. »Ich habe meine Madeira-Bilder verkauft. Ich tat es, während du fort warst, und ich habe dir nichts davon gesagt. Sie befinden sich jetzt im Ausland. Keines von ihnen ist signiert, sie werden dich also, sollten sie je wieder auftauchen, keinesfalls in Verlegenheit bringen. Die Bedingungen waren großzügig, und ich habe Aufträge für weitere Bilder - darauf bin ich doch ein wenig stolz. Von dem Geld habe ich unserer Tochter ein Heim bereitet, an einem ruhigen Ort, an dem sie aufwachsen und geliebt werden wird. Sie wird ihr Leben lang geliebt werden. So lautet mein Versprechen.
Leb wohl, Joseph. Ich werde dich ewig lieben.«
Als er in die Orchard Street kam, sah er, dass sie alles zurückgelassen hatte. Sie und Martha waren fort, und Sophias Bettchen war leer, aber sie hatte nicht einmal ihre Kleider mitgenommen. Die Dienstboten waren so überrascht wie er und standen vor einem Rätsel. Erst später, als das Licht schwand, bemerkte er die leere Stelle an der Wand, dort, wo das Bild mit den Eichenblättern gehangen hatte.