17
In London
Die Zeit wurde knapp. Mir blieben schätzungsweise
noch zwei Tage, bis Potts und Anderson merkten, dass etwas im Busch
war, und sich auf die Suche nach mir machten. Ich konnte es mir
nicht leisten, sie auf den Fersen zu haben, während ich verzweifelt
versuchte, Leute um einen Gefallen zu bitten und das nötige Geld
zusammenzukratzen. Unser Plan sah vor, dass Katya am Abend wieder
in Lincoln sein und dafür sorgen sollte, dass sie dort blieben -
wir hatten uns schon überlegt, was sie sich ausdenken würde -, aber
zuvor hatten wir noch einiges zu tun. Vom Schlafmangel leicht
gerädert, gingen wir als Erstes ins Natural History Museum. Ich
wollte Katya dabeihaben - ein zweites Augenpaar konnte in diesem
Fall sehr nützlich sein.
Wir mussten ungefähr eine halbe Stunde warten, bis
Geraldine, die Bibliothekarin, uns das Bild brachte - das Bild des
geheimnisvollen Vogels von Ulieta, entstanden an dem Tag, an dem er
zuletzt lebend gesehen wurde, noch frisch und markant, vollkommen
ahnungslos, was seinen merkwürdigen Platz in der Geschichte anging.
Katya betrachtete das Bild noch einmal und sah dann zu mir
auf.
»Er ist so unscheinbar, findest du nicht? Als du
mir das erste Mal von ihm erzählt hast, hab ich mir was richtig
Exotisches vorgestellt. Du weißt schon, leuchtende Farben,
prächtiges Gefieder und so.«
»Ich weiß. Er ist einfach ein kleiner brauner
Vogel. Nichts Besonderes, oder? Aber wenn man genauer hinschaut,
ändert sich das. Siehst du’s? Die Schönheit steckt im Detail.« Wir
ließen unsere Augen staunend über all die Feinheiten der Form und
Zeichnung wandern, die den Vogel schön und einzigartig machten, und
begannen, sie uns einzuprägen. Ich versuchte es mit einer
Zeichnung, und beide notierten wir uns die Schattierungen jedes
Farbtons, um uns später daran erinnern zu können. Wir taten, was
wir konnten, um das Bild unserem Gedächtnis einzubrennen: Wir maßen
und repetierten, und dann schlossen wir die Augen und versuchten,
uns zu erinnern.
»Würdest du das Original erkennen, wenn du’s jetzt
sehen würdest?«, fragte ich Katya schließlich. Sie nickte
feierlich.
»Ja. Ganz bestimmt.«
»Die Farben werden im Lauf der Jahre natürlich
verblasst sein, das müssen wir einkalkulieren. Stell dir dieses
Kastanienbraun viel heller vor und die Flügel dort, wo sie der
Sonne ausgesetzt waren, ausgebleicht. Die Augen werden auch anders
aussehen - Glas aus dem achtzehnten Jahrhundert, das mit der Zeit
trübe geworden ist.«
»Und du? Hast du das Bild klar im Kopf?«
»Klarer wird’s nicht mehr werden. Komm, gehen
wir.«
Draußen trennten sich unsere Wege. Wir standen in
der Spätherbstsonne, und die Busse in der Cromwell Road ließen das
dürre Laub um unsere Füße wirbeln.
»Viel Glück«, sagte Katya lächelnd.
»Danke.« Ich lächelte zurück, befangen, unsicher,
wie so ein Abschied zwischen uns vonstatten gehen sollte.
Schließlich nickte ich nur etwas dümmlich und winkte ihr im
Weggehen zu.
Ich hatte vor, mich für den Rest des Nachmittags
ans Telefon zu hängen und Leute um einen Gefallen zu bitten, aber
erst brauchte ich Geld. Ich suchte einen Geldautomaten und hob die
höchstmögliche Summe ab. Die Sache würde teuer werden.
Katya ging als Erstes noch einmal in das Londoner
Archiv, wieder auf der Spur von Miss B., nur dass sie diesmal
wusste, nach welchen Namen sie suchen musste. Trotzdem war es nicht
einfach. Als sie mich am Mittag anrief, hatte sie noch rein gar
nichts gefunden.
»Macht nichts«, sagte ich. »Es ist ja nur der
Ordnung halber. Damit das auch erledigt ist. Viel wichtiger ist,
dass du rechtzeitig wieder in Lincoln bist, damit die anderen nicht
zu neugierig werden.«
Zwei Stunden später rief sie noch einmal an, und
diesmal sprach sie abgehackt, bemüht, ihre Aufregung durch knappe
Effizienz in Schach zu halten.
»Ich hab sie gefunden«, sagte sie. »Sie hat das
Kind südlich des Flusses taufen lassen. Aus Diskretion
vielleicht.«
»Was steht da?«
»Sophia, Tochter des verstorbenen Joseph Burnett
und seiner Frau Mary. September 1773.«
»Dann hat sie also angegeben, der Vater sei tot?
Wahrscheinlich, um den richtigen Joseph rauszuhalten.«
»Und du? Wie läuft’s bei dir?«
Ich überlegte. »Ich glaube, ich werde das meiste
kriegen, was ich brauche. Schamlos, wirklich. Ich probiere es bei
Leuten, die ich jahrelang nicht mehr gesehen habe. Aber die meisten
sind sehr großzügig. Das Problem ist, dass ich morgen fast den
ganzen Tag herumfahren und Geld einsammeln muss. Nach Bristol, dann
nach Dorset und auf dem Rückweg noch in ein paar andere
Orte.«
»Reicht dir die Zeit?«
»Ich weiß nicht. Wenn ich’s nicht schaffe, bekommt
Anderson Wind von der Sache und fegt uns vom Platz. Du musst
schnell nach Lincoln, um zu verhindern, dass er seine Nase da
reinsteckt.«
»Ich fahr gleich los.«
Wie durch ein Wunder brachten die öffentlichen
Verkehrsmittel Katya so rechtzeitig wieder nach Lincoln zurück,
dass es noch für einen Drink vor dem Abendessen reichte. Als Erstes
aber machte sie an der Rezeption Halt, um Bescheid zu sagen, dass
ich plötzlich hätte wegmüssen, mein Zimmer aber die nächsten Tage
auf jeden Fall noch behalten würde. Dann ging sie nach oben und
klopfte an Andersons Tür.
Die vergangenen vierundzwanzig Stunden waren für
Anderson nicht die besten gewesen. Er hatte sich damit abfinden
müssen, dass seine Recherchen ergebnislos verlaufen waren, dass der
Ulieta-Vogel nicht mit dem Inventar des Old Manor in Ainsby
versteigert worden war. Infolgedessen, das wusste er, würde es
keinen schnellen Sieg, keine Abkürzung zu dem Vogel oder den
Bildern geben, nicht einmal eine Garantie, dass sie noch
existierten. Als Katya in Lincoln eintraf, packten er und Gabriella
bereits die Koffer. Sein weltmännischer Charme bröckelte.
Das änderte sich jedoch, als er die Tür öffnete und
Katya vor ihm stand.
»Wie viel zahlen Sie für den Vogel?«, fragte
sie.
Eine halbe Stunde später traf sie Potts in der Bar
an.
»Ah, seien Sie gegrüßt«, strahlte er und sprang
auf. »Sie und Mr. Fitzgerald sind ja heute Morgen sehr früh
aufgebrochen. Ich habe Sie schon gesucht.«
»Tja, da bin ich«, sagte Katya vergnügt
lächelnd.
»Und Mr. Fitzgerald? Ist er auch da?«
»Er wurde aufgehalten. Wahrscheinlich kommt er
später zurück.«
»Verstehe. Von wo zurück, wüsste ich gern.«
»Das müssen Sie ihn selbst fragen.«
»Sie wissen es nicht?«
»Ich habe ihm versprochen, es niemandem zu
sagen.«
»Verstehe. Dann habe ich ja den ganzen Abend Zeit,
Sie umzustimmen.«
Katya zog die Brauen hoch und setzte eine
geheimnisvolle Miene auf. »Und noch etwas sag ich nicht, das hab
ich ihm auch versprochen.«
»Es hat wohl wenig Sinn, Sie trotzdem zu fragen,
oder?«
»Das kommt drauf an.« Sie musterte ihn einen
Moment. »Würden Sie mehr für den Ulieta-Vogel zahlen als Karl
Anderson?«
In dieser Nacht gelang es mir, ein paar Stunden
Schlaf zu finden. Es waren die ersten seit vierzig Stunden, und ich
hatte sie bitter nötig. Der folgende Tag würde lang und schwierig
werden. Ich wusste nicht, wie er enden würde.
Er begann um sechs Uhr früh. Um sieben war ich aus
dem Haus, unterwegs Richtung Westen, nach Bristol. Es war ein
strahlender Morgen, doch jenseits des Londoner Ballungsraums lag
Raureif auf den Feldern, und die Äste der kahlen Bäume waren weiß.
Die Sonne schien von einem tiefblauen Himmel - ein guter Tag zum
Autofahren -, und meine Müdigkeit verflüchtigte sich. Als ich die
letzten Ausläufer der Stadt hinter mir hatte, spürte ich tief in
meinem Innern eine freudige Erregung. Ich wusste, was ich tat und
wohin mein Weg führte. Als ich an das Gesicht auf dem Foto dachte,
konnte ich zurücklächeln.
Das Glück war mir hold an diesem Tag, doch das
hätte mich nicht zu wundern brauchen - die meisten Entdeckungen
sind Glücksfälle. Das passt vielen Leuten nicht, sie möchten, dass
sich Entdeckungen etwas Bedeutenderem als dem Zufall verdanken.
Aber sie irren sich. Was zählt, ist die Entdeckung selbst. Und wenn
je etwas bewiesen hat, wie wichtig Glück ist, dann war es die
Entdeckung des afrikanischen Pfaus.
Während sich mein Großvater zu Fuß durch den heißen
Urwald des Kongo kämpfte, weilte der amerikanische Naturforscher
James Chapin wieder einmal in Belgien und besuchte dort wie immer
das alte Kolonialmuseum in Tervueren. Es ist ein prächtiges
Gebäude, der belgische Rivale von Versailles, und es beherbergt
eine erstaunliche Zahl von Artefakten und ein Sammelsurium anderer
Objekte, die über die Jahre ihren Weg von Belgisch-Kongo hierher
fanden. Zwanzig Jahre waren vergangen, seit Chapin die einzelne
Feder gefunden hatte, und er wird kaum noch an sie gedacht haben.
Doch als er sich einige der weniger markanten Ausstellungsstücke
ansah, fiel sein Blick auf zwei in einem Winkel versteckte
ausgestopfte Vögel. Sie sahen aus, als hätte sich seit vielen
Jahren niemand mehr für sie interessiert. Beides waren indische
Pfauen, Jungvögel, wie es auf dem Schild hieß, doch Chapin sah auf
den ersten Blick, dass es sich nicht um junge Tiere handelte; die
Sporen des Hahns etwa waren dick vom Alter. Was immer sie sein
mochten: Jungvögel waren es nicht. Sie sahen zwar aus wie Pfauen,
aber nicht wie die Pfauen, die Chapin kannte.
Nachforschungen ergaben, dass die beiden Vögel dem
Museum zusammen mit anderen Objekten von einer Handelsgesellschaft
in Belgisch-Kongo gestiftet worden waren. Chapin recherchierte
weiter und ermittelte ihren exakten Fundort im Kongo. Ausgerüstet
mit dieser Information, organisierte er eine neue Reise nach
Afrika. Es war kein allzu schwieriges Unterfangen; schließlich
wusste er genau, wo er suchen musste. Binnen weniger Wochen
sammelte er über ein Dutzend lebender Exemplare des Kongopfaus, des
einzigen Vogels seiner Art in ganz Afrika.
Ja, so war das. Während sich mein Großvater
verzweifelt einen Weg ins Herz des Kongo freischlug, wurden im
verstaubten Regal eines belgischen Museums die ersten afrikanischen
Pfauen gefunden. Sie waren die ganze Zeit über dort gewesen.
An diesem Tag legte ich in dem rostigen
zitronengelben Auto viele Kilometer zurück und bat um mehr
Gefallen, als ich auch nur annähernd verdiente. Ich kam in geduckte
viktorianische Vororte und in Dörfer mit raureifüberzogenen
Dorfwiesen und eisgeränderten Weihern. Ich traf mich mit einem Mann
in einem Wettbüro und mit einem anderen in einem geräumigen
Grafschaftspfarrhaus. Einige boten mir materielle Unterstützung an,
andere hatten nicht mehr zu geben als eine Auskunft darüber, wie
man im achtzehnten Jahrhundert einen Vogel präpariert hatte und in
was für einem Zustand er heute sein würde, oder eine Empfehlung,
welche Vorsichtsmaßnahmen ich ergreifen und welche Chemikalien ich
verwenden musste, wenn ich ihn mitnehmen wollte. Ich hörte mir
alles an, und als es keine Spenden mehr zu sammeln gab und ich auch
nichts Neues mehr erfahren würde, kehrte ich nach Hause
zurück.
Erst gegen zehn kam ich in London an, aber ich war
nicht müde, sondern im Gegenteil hellwach und voll rastloser
Energie. Ich hätte versuchen sollen zu schlafen, um am nächsten
Morgen fit zu sein, doch die Zeit war so knapp, dass es mir absurd
erschien, an Schlaf auch nur zu denken. Stattdessen kramte ich die
Schlüssel hervor und schloss meine Werkstatt auf. Im gleißenden
Licht der Lampe über meiner Werkbank ließ ich mich von meinen
Händen führen, bis die Rastlosigkeit in meinem Gehirn der grimmigen
Konzentration des Präparators wich. Je länger ich arbeitete, desto
ruhiger wurde ich, und desto deutlicher zeichnete sich mein Weg vor
mir ab. Es würde klappen.
Ich arbeitete bis tief in die Nacht, und als ich
mein Werk am nächsten Tag betrachtete, fand ich, es sei das Beste,
das ich je gemacht hatte.
Danach ging alles glatt. Später fuhr ich wieder
nach Lincoln.
Ihr Kind kam früh zur Welt, strampelnd und
hustend, in der staubigen Hitze der letzten Augusttage. Es war eine
schwere Geburt, und vier Wochen lang war sie zu schwach, um das
Haus zu verlassen, zu erschöpft, um ihre Pläne weiterzuverfolgen.
Sie stillte ihr Kind und schleppte sich durch die langen, stickigen
Tage, in denen der Gestank der Londoner Straßen gegen ihre Fenster
anzubranden schien, durch mühselige, schlaflose Nächte.
Banks war knapp drei Wochen vor der Geburt seiner
Tochter aus Wales zurückgekehrt. Bei seiner Ankunft fand er die
Wohnung in der Orchard Street verändert vor. Die Malsachen waren
weggeräumt, und dort, wo ihre ersten vier Madeira-Bilder gehangen
hatten, waren die Wände kahl. Als einzige ihrer Arbeiten war noch
die Studie brauner Eichenblätter und Eicheln zu sehen, die sie in
ihren ersten Monaten in Richmond angefertigt hatte. Trotz seiner
Schlichtheit war es ihr Lieblingsbild: das erste, das sie gerahmt,
das erste, das sie in der Orchard Street aufgehängt hatte.
»Ich habe die Madeira-Bilder weggeräumt«, erklärte
sie. »Es schien mir richtig, sie beisammen zu lassen, und ich
möchte nicht von ihnen abgelenkt werden. Du würdest doch nicht
wollen, dass ich unser Kind vernachlässige und mich mit Konturen
und Schattierungen befasse?« Er pflichtete ihr bei, doch ihre Worte
stimmten ihn traurig, und die Räume erschienen ihm ohne die Bilder
trüb und leer. Auch nicht das neue Leben, auch nicht der Lärm, den
es mit sich brachte, schien ihm die Räume so zu erfüllen, wie sie
früher erfüllt gewesen waren. Vielleicht deshalb berührte ihn sein
Kind nicht in dem Maße, wie er es erwartet hatte. Die leichte
Distanziertheit, die sich zwischen Vater und Mutter eingeschlichen
hatte, stellte sich auch zwischen Vater und Tochter ein. Er wollte
von Herzen ihr Bestes, aber es war, als würde ihn der Knoten der
Unsicherheit, der sich in seinem Innern geschürzt hatte, daran
hindern, sie zu lieben. Er war ein Mann, dem es am leichtesten fiel
zu lieben, wenn er selbst geliebt wurde, und dies war für ihn eine
Zeit des Zweifels. Sie nannten sie Sophia, nach seiner
Schwester.
Sie kam wieder zu Kräften, und wenn er sie mit dem
Bündel in ihrem Schoß lachen sah, empfand er anfangs Eifersucht. Er
kürzte seine Besuche ab, versuchte sich anderswo zu zerstreuen und
sagte sich, dass sich ihre Begeisterung für das Kind mit der Zeit
legen würde. Doch die Erinnerung an ihr lächelndes Gesicht brachte
ihn oftmals wieder zu ihr zurück. Bei all seiner Verwirrung
erschien sie ihm noch immer wie ein Wunder. Er hätte sie gern in
die Arme geschlossen und es ihr gesagt, fand aber nicht die Worte.
Und sie schien ihm nicht helfen zu wollen, auch wenn sie ihn oft
zärtlich und zugleich forschend ansah.
Eines Tages schließlich traf er sie allein an, als
sie Blumen in einer Vase arrangierte, in einem frisch gestärkten
Kleid, das Haar ordentlich aufgesteckt. Sie sah aus wie in der
ersten Zeit in Richmond, und eine Welle der Zärtlichkeit trug ihn
durch den Raum. Er blieb hinter ihr stehen und fasste sie sacht um
die Taille. Sie steckte noch eine einzelne Blume zurecht und legte
die anderen dann beiseite, wandte den Kopf und sah ihn über die
Schulter an. Er erwiderte ihren Blick und musste daran denken, wie
grün ihre Augen waren, wie sanft das Lächeln um ihre Mundwinkel. Er
schlang die Arme enger um sie und zog sie an sich. Der vertraute
Duft ihrer Haare umfing ihn.
»Wir waren lange nicht mehr allein«, flüsterte
er.
Sie lehnte sich zurück, sodass ihre Wange die seine
berührte. »Die Dinge haben sich verändert«, sagte sie.
»Du hast dich nicht verändert. Du bist nur noch
ungewöhnlicher, noch schöner, als ich zu sagen vermag.«
»Wir beide haben uns verändert, Joseph. Wir
vergessen es nur bisweilen.«
»Schließ die Augen. Fühle ich mich anders
an?«
»Weißt du noch, wie du mich gehalten hast, nachts
in unserem kleinen Zimmer mit den grünen Vorhängen?«
»So halte ich dich auch jetzt.«
Sie löste ihre Wange von seiner, wandte sich in
seinen Armen um und sah ihm ins Gesicht. »Nein, das war
anders.«
»Was war anders?«
»Du hattest damals keine Zweifel.«
Einen Moment lang hielt er ihrem Blick stand, dann
senkte er die Lider. »Ich zweifle nicht an dir«, sagte er ganz
leise. »Ich weiß, dass ich dich liebe. Aber ich weiß nicht, was die
Zukunft bringen wird.«
Sie neigte sich näher zu ihm. Ihre Wange lag an
seiner, und ihre Lippen berührten fast sein Ohr.
»Du hast Aufgaben zu erfüllen, Joseph. Eine Welt zu
verändern. Du musst all das tun, worüber wir gesprochen
haben.«
»Aber wie?«
»Du wirst ein angesehener Mann sein. Ein Vorbild.
Du wirst heiraten. Einen Erben zeugen.«
»Nein.«
»Doch.« Sie rieb sanft ihre Wange an seiner.
»Früher, denke ich, war ich dir wohl eine Hilfe. Jetzt, mit Sophia,
bin ich dir im Wege.«
»Das ist nicht wahr.«
»Und ich muss mein Bestes für sie tun.«
»Nämlich?«
Sie löste sich aus seiner Umarmung und wandte sich
ab. »Hast du einmal daran gedacht, wie es für sie sein wird, wenn
man sie als deine Tochter kennt?«
Sie hatte mit einer gewissen Schärfe gesprochen,
die ihn überraschte.
»Ich kann nicht glauben, dass es ein Nachteil sein
soll, meine Tochter zu sein«, erwiderte er. »Es wird ihr an nichts
fehlen, das kann ich dir versprechen.«
»Sie wird die Tochter deiner Geliebten sein. Die
Tochter einer ausgehaltenen Frau. Das werden ihr manche nie
verzeihen. Man wird es ihr Leben lang gegen sie verwenden.«
»Und die Alternative?«
Sie kehrte in seine Arme zurück und schmiegte sich
eng an ihn, ehe sie antwortete. »Die Alternative ist, dass du uns
gehen lässt«, sagte sie.
Er schwor, er werde das niemals zulassen. Er
schwor, ohne sie bedeute ihm sein Leben nichts. Er weigerte sich zu
glauben, dass seine Tochter ihr Leben nicht in London verbringen
könne, diskret, von ihm anerkannt, ungesehen von anderen. Sie aber
wusste, dass er im Irrtum war. Sie betrachtete das vollkommene
kleine Wesen, das sie zur Welt gebracht hatte, und dachte dann an
ihre eigene Kindheit. Ihre Familie hatte stets Missbilligung und
Schande erdulden müssen. Man hatte sie gemieden und verachtet, weil
sie die Tochter ihres Vaters war, hatte sie in den Straßen von
Louth geschnitten, weil sie John Ponsonbys Geliebte war. Und nun
war sie Joseph Banks’ Geliebte, von dem notorischen Abenteurer
verführt. Sie drückte die kleine Sophia an sich und gelobte ihr,
dass niemand sie in ihrem ganzen Leben je verachten oder der
Schande preisgeben würde.
Fabricius verließ London kurz nach Banks’
Rückkehr. Er ging nach Dänemark zurück, wo die Luft rein war und
das Licht auf dem klaren Wasser glitzerte. In London hatte er den
weiten dänischen Himmel vermisst, und nun sah er oft in stiller
Freude zu ihm auf, oder er verhielt den Schritt und blickte zum
Horizont.
Die traute Zweisamkeit der Nachmittage in der
Orchard Street erschien ihm immer unwirklicher, eine Episode in
seinem Leben, die aus dem Nichts gekommen war und ihn nirgendwohin
geführt hatte, ihn dort zurückgelassen hatte, wo er angefangen
hatte. Es war erstaunlich, wie er sich plötzlich in dieser ruhigen,
stillschweigenden Partnerschaft wieder gefunden hatte, erstaunlich,
wie viel er empfunden hatte und dass er bereit gewesen war, seine
Gefühle preiszugeben. Er dachte oft an sie. Bisweilen, wenn er mit
einer schwierigen Aufgabe befasst war, kam ihm ein Wort oder ein
Satz von ihr in den Sinn, und er hielt lächelnd inne.
»Mit den Käfern verhält es sich so«, hatte sie ihn
einmal geneckt, »dass es, auch wenn man sich bei ihrem Studium noch
so langweilt, doch nie an neuen Exemplaren mangeln wird, die man
betrachten kann.« Noch viele Jahre nach seiner Rückkehr lehnte er
sich am Ende eines langen Arbeitstages manchmal zurück und wandte
sich feierlich seinen Studenten zu. »Meine Herren«, sagte er,
»trösten wir uns, was die Käfer anbelangt, immerhin mit der einen
großen Gewissheit.«
»Mit welcher Gewissheit?«, fragten sie dann, und
ihr sonst so ernster Mentor überraschte sie mit einem Lächeln und
wiederholte ihre Worte. Einen Lidschlag lang war er dann wieder in
London, und eine schlanke junge Frau stand malend vor ihm.
Banks hatte ihm großzügig Zugang zu seiner Sammlung
gewährt, und deren Studium während jenes Sommers hatte Fabricius
viel zu bearbeiten und zu denken gegeben. Jetzt aber war er Banks
gegenüber befangen, als wären seine Besuche in der Orchard Street
ein unentdeckter Treuebruch gewesen. Vielleicht deshalb schrieb er
Banks erst im November jenes Jahres, und auch dann musste er den
Brief mehrmals überarbeiten. »Meine besten Empfehlungen und Wünsche
in die Orchard Street«, schrieb er. »Ist es ein Junge, wird er
stark und gescheit werden wie sein Vater, ist es ein Mädchen, wird
sie vornehm und hübsch werden wie ihre Mutter.«
Banks’ Antwort war knapp. Er sei Vater einer
Tochter, Mutter und Kind seien wohlauf.
Als Banks ihm das nächste Mal schrieb, war es
Februar, und Schneewolken zogen tief und schwer an Dänemarks Himmel
dahin. In dem Brief stand nichts über die Orchard Street, nichts
über Geliebte oder Kind. Fabricius stellte diskrete Nachforschungen
an und erfuhr, dass Banks von seiner Geliebten verlassen worden
war. Miss Brown und ihre Tochter waren verschwunden.
Im Januar 1774, vier Monate nach der Geburt ihrer
Tochter, ging sie eines Tages im nahe gelegenen Park spazieren. Es
war kalt, und der Boden war fest gefroren, doch Martha begleitete
sie, und trotz der Kälte waren die beiden behaglich ins Gespräch
vertieft. Plötzlich rief jemand ihren Namen. Ihren richtigen Namen.
Noch nie, seit sie Revesby verlassen hatte und John Ponsonbys
Geliebte geworden war, hatte jemand sie mit diesem Namen
angesprochen. Sie hatte ihn für ein Geheimnis gehalten, das sie
gehütet hatte, weil sie nur so den Ruf ihres Vaters schützen zu
können glaubte. Umso heftiger erschrak sie, als sie die Stimme
vernahm.
»Miss Burnett, wenn ich mich nicht irre.« Es war
eine Männerstimme, und das »Miss« wurde so betont ausgesprochen,
dass sie sich abrupt umdrehte.
Erst erkannte sie ihn nicht in seinem schweren
Wintermantel, doch dann dachte sie an Madeira und sah ihn wieder
vor sich, wie er sie im Kerzenschein anlachte.
»Mr. Maddox«, erwiderte sie mechanisch; der Schreck
machte sie unvorsichtig.
»Sie erinnern sich also an mich?« Er lächelte sein
träges, selbstsicheres Lächeln. »Dabei bin ich ganz anders
angezogen als bei unserer letzten Begegnung, wenn ich mich recht
erinnere. Doch ich muss sagen, das gilt auch für Sie.«
Sie errötete und dachte plötzlich daran, wie klar
seine Stimme klang und dass Leute in Hörweite waren.
»Burnett ist nur der Name, unter dem ich gereist
bin«, sagte sie leise. »Wenn Sie mich jetzt entschuldigen
wollen...«
Er hielt mühelos mit ihr Schritt. »Solche Eile ist
wenig schmeichelhaft. Es gab Zeiten, da waren Sie nicht so scheu.
Es wäre doch ganz falsch, unsere Bekanntschaft so kurz nach ihrer
Erneuerung schon wieder zu beenden, Miss Burnett. Zumal unter so
veränderten Umständen. Und wie Sie sehen, bleibt mir nichts
anderes übrig, als Sie bei diesem Namen zu nennen, solange Sie mir
keinen anderen liefern.«
»Mein Name dürfte von keinerlei Interesse für Sie
sein, Sir.«
»Im Gegenteil, ich finde Sie höchst faszinierend.
Ich habe oft bedauert, dass ich nie Gelegenheit hatte, Sie in
gleicher Weise kennen zu lernen wie Sie mich. Da wir nun beide in
London sind, könnten wir das Versäumte ja nachholen.«
»Das glaube ich kaum, Sir.«
Er ging noch immer neben ihr her, und da sie ihn so
schnell wie möglich abschütteln wollte, war Martha ein kleines
Stück zurückgeblieben.
»Ach, nein?«, fragte er in spöttisch-belustigtem
Ton. »Ich frage mich, ob Ihr derzeitiger Gentleman von Ihren
früheren Heldentaten weiß? Vielleicht legen Sie ja gar keinen Wert
darauf. Möglicherweise möchte er lieber nicht wissen, dass er sich
in Gesellschaft eines ehemaligen Schiffsjungen befindet.«
»Sir!« Sie blieb stehen, und Martha kam schnaufend
heran. Auch er verhielt den Schritt und betrachtete beide mit
seinem gelassenen Lächeln. »Nun, Sie müssen doch zugeben, dass man
sich schwer tut, gute Gründe für Ihr ungewöhnliches Verhalten zu
finden. Ich bin sicher, Ihr gegenwärtiger Beschützer würde sie nur
ungern aufdecken.«
Sie sprach so ruhig und langsam, wie es ihr möglich
war.
»Sir, ich muss Sie bitten, uns augenblicklich zu
verlassen. Ich bin sicher, Sie haben noch anderweitig zu
tun.«
Sein Lächeln wurde noch breiter, und er nickte
anerkennend. »Es freut mich zu sehen, dass Ihr Mut nicht unter
Ihrer Abkehr von männlicher Kleidung gelitten hat. Dieser Mut war
es, den ich bewundert habe, als Sie mir beim Baden zuschauten. Ich
war überzeugt, Sie würden erröten und die Flucht ergreifen.« Er
verneigte sich leicht. »Da Sie mich gebeten haben, Sie zu
verlassen, werde ich das auch tun. Ich kann Ihnen jedoch
versichern, dass meine geschäftlichen Angelegenheiten nicht
annähernd so interessant sind wie die überraschende Miss Burnett.
Ich werde weiter nach Ihnen Ausschau halten. Für eine so große
Stadt versteht London es erstaunlich schlecht, Geheimnisse zu
wahren.«
Mit einer erneuten Verbeugung wandte er sich ab und
ging davon. Die beiden Frauen blieben stumm zurück.
Sie versuchte, Joseph zu warnen. Sie schrieb ihm
eine Nachricht, in der sie von der Begegnung berichtete und ihm
sagte, sie befürchte einen Skandal, wenn Maddox die Geschichte
ihrer Reise publik mache. Um ihm die Gefahr vor Augen zu führen,
bat sie ihn dringend zu kommen. Dann wartete sie. Fünf Tage ließ er
sich nicht blicken. Er sei nicht in der Stadt gewesen, sagte er,
als er endlich erschien, er habe ihre Nachricht nicht erhalten. Wie
ein schmollender Jüngling stand er vor ihr, bewusst verspätet,
ungehalten, weil man ihn herbeizitiert hatte, und zugleich beschämt
über seinen Ärger. Als sie das alles sah, wandte sie sich ab und
wollte hinausgehen, doch diese Zurückweisung verstimmte ihn noch
mehr, und ehe sie an der Tür war, hielt er sie auf.
»Ich bin hier, weil du mit mir zu reden
wünschtest.«
»Es hat keinen Sinn«, erwiderte sie. »Ich sehe,
dass nicht mit dir zu reden ist.«
»Das ist beleidigend. Ich komme gerade von sehr
guten Freunden, die mich als Gesprächspartner nicht so gering
schätzen.«
»Ach, Joseph!« Sie sah ihm in die Augen und
schüttelte, plötzlich ermattet, den Kopf. »Dann geh und rede mit
ihnen. Das wäre besser für uns beide. Du hast mir einmal dein Wort
gegeben, dass du mich niemals gegen meinen Willen halten würdest.
Heute erinnere ich dich daran.«
Die Schärfe ihrer Worte erschreckte beide, und sie
verstummten. In dem Schweigen, das darauf folgte, trat er zur
Seite, sodass sie den Raum jederzeit verlassen konnte.
»Du hast Recht«, murmelte er. »Ich werde dich nicht
gegen deinen Willen festhalten.«
In diesem Augenblick sah sie in seinem traurigen
Gesicht zum letzten Mal den jungen Mann, den sie liebte, sah ihn
verletzt und verwirrt und ihrer nicht mehr sicher. Für diesen
kurzen Moment geriet ihre Entschlossenheit ins Wanken. Sie berührte
sein Gesicht.
»Mein Liebster«, sagte sie. »So sollte es nicht
sein.«
Er nahm ihre Hand und drückte sie mit geschlossenen
Augen an seine Lippen. So standen sie, bis sie ihm ihre Hand
entzog.
»Wie ist es nur so weit gekommen?«, fragte er. »Ich
weiß, dass ich dich liebe, wie ich dich nur je geliebt habe. Doch
mitunter vergesse ich es. Ich gebe dir die Schuld daran, dass es
nicht mehr so ist, wie es einmal war. Ich hege solchen Groll.
Zugleich aber denke ich mit solchem Stolz und solcher Sehnsucht an
dich, dass ich mich schließlich selbst hasse.«
»Vielleicht ist Liebe am Ende immer ehrlich.«
»Ist das wahr?«
»Ich weiß es nicht. Ich wünschte, es wäre
so.«
»Die Welt drückt mich so sehr nieder. Es gibt so
viel zu tun, dass es mir vorkommt, als könnte ich nichts wirklich
gut machen. Und es scheint, als wäre darin kein Raum für dich. Doch
manchmal, wenn ich müde und allein bin, verstehe ich mich selbst
nicht mehr, weil ich nicht bei dir bin.«
»Und doch bist du immer seltener hier.«
Er wandte den Blick ab, dann sah er sie wieder an.
»Ich möchte so vieles sein. Wenn ich nicht bei dir bin, ist es
manchmal leichter, so zu tun, als wäre ich dieses viele. Du kennst
mich zu gut.«
»Du kannst alles sein, das habe ich dir immer
gesagt.«
»Ja, ich kann alles sein. Du lässt mich daran
glauben. Aber es hat seinen Preis.«
Da lehnte sie sich an ihn und legte leicht die
Stirn an seine Brust.
»Ja«, sagte sie. »Alles hat seinen Preis.«
In dieser Nacht schlief er eng an sie geschmiegt.
Auch sie schlief, wenn auch mit Unterbrechungen; von Zeit zu Zeit
weckte seine Hand, die im Schlaf nach ihr tastete, oder seine bloße
Nähe sie auf. Sein Schlaf war ruhig und gleichmäßig, und schlafend
schien er wieder jung, sein Gesicht glatt wie einst in den Wäldern
um Revesby. Sie spürte wieder die Wärme, die sie stets erfüllte,
wenn sie nachts zusammen waren. Als der Tag anbrach, legte sich die
Morgendämmerung wie ein eisiger Hauch auf ihre Haut.
Die Sonne stieg höher, und sie fiel in einen
tieferen Schlaf. Er erwachte und betrachtete sie. Schon wollte er
sie wecken, doch dann erschien ihr Schlaf ihm zu vollkommen, um ihn
zu stören. Hätte er gewusst, dass er sie zum letzten Mal schlafen
sah, wäre er niemals gegangen. Doch die Nacht mit ihr hatte ihn
beruhigt. Ein strahlender Morgen war angebrochen, ein neuer Tag
winkte, und er eilte ihm entgegen. Als sie erwachte, war das Zimmer
von Licht durchflutet, und er war fort.
Ihr Brief erreichte ihn drei Tage später in seinem
Haus in der New Burlington Street.
»Mein Liebster«, schrieb sie, und ihre Worte waren
tief in das Papier eingegraben. »Ich habe meine Madeira-Bilder
verkauft. Ich tat es, während du fort warst, und ich habe dir
nichts davon gesagt. Sie befinden sich jetzt im Ausland. Keines von
ihnen ist signiert, sie werden dich also, sollten sie je wieder
auftauchen, keinesfalls in Verlegenheit bringen. Die Bedingungen
waren großzügig, und ich habe Aufträge für weitere Bilder - darauf
bin ich doch ein wenig stolz. Von dem Geld habe ich unserer Tochter
ein Heim bereitet, an einem ruhigen Ort, an dem sie aufwachsen und
geliebt werden wird. Sie wird ihr Leben lang geliebt werden. So
lautet mein Versprechen.
Leb wohl, Joseph. Ich werde dich ewig
lieben.«
Als er in die Orchard Street kam, sah er, dass sie
alles zurückgelassen hatte. Sie und Martha waren fort, und Sophias
Bettchen war leer, aber sie hatte nicht einmal ihre Kleider
mitgenommen. Die Dienstboten waren so überrascht wie er und standen
vor einem Rätsel. Erst später, als das Licht schwand, bemerkte er
die leere Stelle an der Wand, dort, wo das Bild mit den
Eichenblättern gehangen hatte.