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Die Gen-Arche
Anderson hatte sich kundig gemacht. Er wusste alles, was es über den Vogel von Ulieta zu wissen gab. Was allerdings nicht eben viel war. Im Mai 1774 war Kapitän Cook mit seinem Schiff, der Resolution, auf der Insel Ulieta gelandet. Ulieta war klein, eine der verstreuten Inseln im blauen Pazifik, die später unter dem Namen Gesellschaftsinseln bekannt wurden. Cook hielt sich einige Tage dort auf, um Reparaturen durchzuführen und mit den Eingeborenen Tauschhandel zu treiben. Am 1. Juni bestand Johann Forster, der Naturforscher des Schiffs, ein schwieriger Mensch, trotz brütender Hitze und einer durch Magenbeschwerden geschwächten Mannschaft darauf, dass eine Expedition an Land geschickt wurde, um Tier- und Pflanzenexemplare zu sammeln. Viele Vögel wurden an diesem Tag geschossen, aber nur einer war Forster unbekannt. Nachdem er eine Beschreibung des Vogels festgehalten hatte, reichte er ihn an seinen Sohn Georg weiter, einen der mitreisenden Künstler, der eine Farbzeichnung davon anfertigte. Gleich anschließend wurde der Vogel gereinigt und sein Balg zum Präparieren vorbereitet.
Das war kein ungewöhnliches Tagewerk für Vater und Sohn. Sie hatten auf dieser Reise zahlreiche neue Arten entdeckt, zahlreiche Lebewesen beschrieben, gezeichnet und präpariert. Der Tag auf Ulieta wäre für niemanden weiter von Interesse gewesen, gäbe es da nicht einen besonderen Umstand: Jenes von Forster entdeckte Exemplar blieb bis heute der einzige Vogel dieser Art, der je registriert wurde. Andrew Garrett fand keine Spur mehr von ihm, als er 1850 nach Ulieta kam. Später versuchten es noch andere, ebenfalls ohne Erfolg. Wir werden nie erfahren, ob es sich einst um eine weit verbreitete Art gehandelt hat; ihr Gesang, die Form ihrer Nester, ihre Paarungsrituale werden im Dunkeln bleiben. Alles, was wir wissen, ist, dass Forsters Exemplar eines der allerletzten seiner Art war. Hätte die Expedition an jenem Morgen einen anderen Weg eingeschlagen oder hätte ein einzelner Matrose nicht so genau gezielt, wäre ohne unser Wissen eine ganze Spezies ausgestorben, wäre von der Menschheit unbemerkt vom Erdball verschwunden.
Wir können uns nicht einmal über ihren Namen einig werden. Forster nannte sie Turdus badius, Latham, ein anderer Naturforscher, der die Art in London studierte, bezeichnete und registrierte sie präziser als Turdus ulietensis. James Greenway schrieb zweihundert Jahre später, er sei keineswegs überzeugt, dass es sich bei dem Vogel überhaupt um eine Drosselart handle. Er verzeichnete sie schlicht als den »Rätselhaften Vogel von Ulieta«. Ein Name so gut wie jeder andere.
Als die Forsters im Jahr darauf nach England zurückkehrten, konnten sie über die Objekte, die sie von Cooks Expedition mitgebracht hatten, frei verfügen. Johann Forster steckte ständig in finanziellen Schwierigkeiten und wandte sich um Hilfe an Joseph Banks, den Naturforscher, der auf Cooks vorhergehender Fahrt dabei gewesen war. Banks war ein junger Mann mit Geld und Zukunft und zeigte sich Forster gegenüber großzügig. Als Gegenleistung machte Forster ihm seine Funde zum Geschenk. Einer davon war der Vogel von Ulieta - das wissen wir, weil ein Mann namens Latham ihn irgendwann in den Siebzigerjahren des achtzehnten Jahrhunderts in Banks’ Sammlung entdeckte und in sein Werk Allgemeine Übersicht der Vögel aufnahm. Er tat gut daran, denn seitdem wird das Exemplar nirgendwo mehr erwähnt. Es verschwand - so wie die ganze Spezies.
Es wäre verlockend, Lathams und Forsters Beweise anzuzweifeln und darüber zu spekulieren, ob es sich bei dem Vogel nicht einfach um eine Spielart einer anderen, verbreiteteren Art handelte - aber so leicht können wir ihn nicht wegdiskutieren, denn Forsters Zeichnung existiert noch, wohl verwahrt im Londoner Museum of Natural History. Man kann jederzeit hingehen und sie sich ansehen.
Als Anderson geendet hatte, war es in der Rosebery Bar noch genauso voll wie zuvor, aber die Atmosphäre hatte sich verändert. Die Gäste, die dort nach der Arbeit etwas tranken und dann zu ihrem Zug eilten, waren gegangen und hatten anderen Platz gemacht, die sich für den Abend entspannten. Irgendwo spielte unsichtbar ein Pianist, und dazu passend hatte man an der Bar das Licht gedämpft. Anzugjacken hingen über Couchlehnen, Krawatten waren gelockert worden, Beine in schwarzen Strumpfhosen aus den Schuhen geschlüpft und dezent abgewinkelt auf den roten Ledersofas platziert.
Ich leerte langsam mein Glas und sah erst Gabriella und dann Anderson an. Beide beobachteten mich, doch wenn sie auf eine Reaktion gewartet hatten, so war eine hochgezogene Braue alles, was sie zu sehen bekamen. Ich kann nicht leugnen, dass mich eine leise kribbelnde Erregung erfasst hatte, als ich Andersons Geschichte hörte - aber ich war auch irritiert. Wer sich für ausgestorbene Vögel interessierte, wusste, dass das einzige jemals bekannt gewordene Exemplar des Ulieta-Vogels im achtzehnten Jahrhundert verschwunden war. Vielleicht wurde sogar darüber gewitzelt, dass es doch noch irgendwo aufzustöbern sei, wie ein verschollener Botticelli auf einem Dachboden, aber niemand glaubte ernstlich, es könne noch existieren. Die Taxidermie steckte damals noch in den Kinderschuhen, und Vögel waren bekanntlich schwer zu präparieren. Die Bestandslisten der Museen sind voll von Objekten aus dem achtzehnten Jahrhundert, die nach etwa siebzig oder achtzig Jahren schlicht zerfielen. Jede Sammlung hat ihren Schwund. Der Ulieta-Vogel war nur einer von tausenden, die es nicht schafften.
»Sagen Sie, Anderson«, fragte ich, »wieso entschließt sich ein Mann wie Sie plötzlich, nach so etwas zu suchen?«
»Vielleicht aus Enthusiasmus.«
»Das glaube ich Ihnen nicht. Sie sind Geschäftsmann. Sie suchen Dinge auf Provisionsbasis, für Leute, die sich nur dann über etwas freuen können, wenn sie es besitzen. Überreste von Dinosauriern gegen Cash, gefährdete Arten auf Bestellung, so etwas in der Art. Weshalb sollten Sie Zeit darauf verwenden, etwas aufzuspüren, das wahrscheinlich vor zweihundert Jahren zu Staub zerfallen ist?«
Er lächelte in sich hinein, ein stilles, selbstsicheres Lächeln.
»Vielleicht existiert es ja noch. Es gibt so alte Exemplare.«
»Aber nur ganz wenige. Wie viele? Ein Dutzend vielleicht. Schwer vorzustellen, dass der Vogel eines davon ist. Joseph Banks war der herausragendste Wissenschaftler seiner Generation. Er hat nicht einfach seltene Vögel verloren. Wenn dieser eine irgendwann vom Radarschirm verschwunden ist, dann deshalb, weil er sich aufgelöst hat. Gäbe es ihn noch, dann wäre das irgendwo vermerkt. Irgendjemand hätte in den letzten zweihundert Jahren bestimmt einmal verlauten lassen, dass er den seltensten Vogel der Welt besitzt.«
Anderson hatte den Blick des Obers eingefangen, und wir bekamen neue Drinks.
»Sie mögen ja Recht haben, Mr. Fitzgerald. Trotzdem beabsichtige ich ihn zu finden. Der Finderlohn wäre... beträchtlich.«
»So?« Das erschien mir unwahrscheinlich. »Wer interessiert sich denn heute noch für ausgestopfte Vögel? Ja, sicher, es wäre ein Geniestreich, das will ich nicht leugnen, die Fachwelt wäre begeistert. Aber die Museen haben kein Geld.«
»Traurig, aber wahr, Mr. Fitzgerald. Allerdings sind die Museen nicht der Markt, an den ich dachte.«
Anderson nahm einen Schluck und lehnte sich dann zurück, als sei alles zu dem Thema gesagt. Weitere Erklärungen blieben Gabriella überlassen.
»Hast du schon mal von dem Arche-Projekt gehört, Fitz?«
Einen Moment lang dachte ich, sie meine irgendetwas aus unserer Vergangenheit, und ich musste den Regenwald wegzwinkern, der vor meinen Augen aufblitzte. Doch ihr Ton und ihr Blick verrieten, dass ihre Gedanken fest in der Gegenwart verankert waren. Anderson hatte die Beine ausgestreckt und ergriff wieder das Wort.
»Die Gen-Arche, um es genau zu sagen. Sie wurde in Kanada von Ted Staest ins Leben gerufen. Kennen Sie Ted Staest?«
Nur vage. Ein Kanadier. Ein Mann, der für seinen Reichtum berühmt war. Ich musste passen.
»Ted Staest besitzt eines der großen nordamerikanischen Pharmaunternehmen, das seine Produkte in die ganze Welt exportiert, Sie kennen das ja. Staests Generalthema ist neuerdings die DNS. Das Arche-Projekt ist im Grunde seine private DNS-Bank, Mr. Fitzgerald. Er sammelt genetisches Material von seltenen, aussterbenden Arten und bewahrt es auf. Die Idee ist, in rares Erbgut zu investieren, so wie Sie oder ich in Kunstgegenstände oder Antiquitäten investieren würden. Staest setzt auf potenzielle Wertsteigerungen.«
Gabriella spürte meinen Hohn.
»Im Ernst, Fitz. Es klingt verrückt, ich weiß, aber alle Welt ist neuerdings auf der Jagd nach genetischen Codes. Die Pharmaunternehmen wissen selbst nicht, was davon zu halten ist, aber keiner will, dass die anderen die Nase vorn haben, und deshalb geben sie jetzt das Geld aus und stellen die Fragen später. Das Interesse der Öffentlichkeit halten sie mit Sensationsberichten über die Neuzüchtung ausgestorbener Arten und dergleichen wach. Aber worum es ihnen geht, das sind die Möglichkeiten des Bio-Engineering.«
Die Rosebery Bar begann seltsam fremd zu wirken. Die Menge der Gäste hatte sich ein wenig gelichtet, der Pianist unter prasselndem Applaus eine Pause eingelegt. Ich sah mich um, wer noch da war - Leute zwischen zwanzig und dreißig, mit Getränken, die ich mir nicht leisten konnte, in einer Welt, für die ich keine Zeit hatte.
»Aber der Ulieta-Vogel wäre zweihundert Jahre alt. Er wäre nichts weiter als ein vertrocknetes Ding. So etwas kann doch unmöglich Material von irgendwelchem Wert liefern, oder?«
Gabriella und Anderson sahen sich an. Anderson zuckte die Schultern.
»Wer weiß? Die Techniken werden ständig weiterentwickelt. Und offen gestanden, Mr. Fitzgerald, glaube ich nicht, dass das Ted Staest groß kümmert. Er ist ein Mann, der weiß, was Publicity wert ist, und er ist ziemlich fasziniert von der Sache mit diesem verschwundenen Vogel, dem seltensten Vogel aller Zeiten. ›Der Rätselhafte Vogel von Ulieta‹ - das gäbe gute Schlagzeilen, meinen Sie nicht? Wenn ein solches Exemplar auftauchen würde, käme das Arche-Projekt in die Nachrichten. Der seltenste Vogel der Welt, patentiert von Ted Staest.«
»Und er bezahlt Sie dafür, dass Sie ihn finden?«
»Er bezahlt mich dafür, dass ich ihn als Erster finde. So etwas lässt sich nicht unter Verschluss halten. Wo ein Markt ist, gibt es immer auch andere, die abkassieren wollen.«
»Okay.« Ich versuchte, das alles unter einen Hut zu bringen. »Ein reicher Kanadier möchte eine nicht existierende Vogelart finden, weil er meint, das treibt seinen Aktienkurs in die Höhe. Das ist verrückt, aber so ungefähr läuft’s. Was ich allerdings nicht verstehe: Warum erzählen Sie mir das alles?«
Wieder sah Anderson mich prüfend an. Die Antwort gab Gabriella.
»Karl wird nicht der Einzige bleiben, der Kontakt mit dir aufnimmt, Fitz. Deine Arbeiten über ausgestorbene Vögel sind bekannt. Die Leute werden Informationen von dir haben wollen.«
Anderson nickte.
»Vor fünfzehn Jahren, Mr. Fitzgerald, waren Ihre Forschungen jedem, der auf dem Gebiet gearbeitet hat, bekannt. Man weiß, dass Sie sich Museen und Sammlungen überall auf der Welt angesehen haben, Sammlungen, die niemand sonst je richtig studiert hat. Sie haben Landkarten gesammelt, Zeichnungen, Bestandslisten, Briefe - alles in Ihrer berühmten Holztruhe. Wir alle haben darauf gewartet, dass Sie publizieren würden, aber Sie haben es nicht getan. Wenn jemand über Informationen verfügt, die zum Ulieta-Vogel führen könnten, dann Sie.«
»Sie meinen also, ich könnte Ihnen bei der Suche helfen?«
»Sie haben Beziehungen. Sie wissen, welche Leute Gerüchte aufgeschnappt haben könnten. Es wäre Ihnen sicher möglich, ein paar Telefonate zu führen und zu hören, ob Sie etwas herausbekommen.«
»Und wenn ich nichts herausbekomme?«
Er wirkte nicht weiter beunruhigt und nahm gelassen einen Schluck von seinem Drink.
»Um ehrlich zu sein, Mr. Fitzgerald: Ich habe bereits einen Anhaltspunkt, aber ich dachte, Sie könnten daran interessiert sein, mit mir zusammenzuarbeiten. Und wenn das die Sache beschleunigt und erleichtert, umso besser.«
»Und wieso nehmen Sie an, ich könnte ein Interesse daran haben, nach dem Vogel zu suchen?«
Er schwieg einen Moment und sah mir gerade in die Augen.
»Weil Sie noch nie einen Fund wie den Ulieta-Vogel gemacht haben, Mr. Fitzgerald. Die ganzen Jahre haben Sie Exemplare ausgestorbener Vögel gesucht, aber so einen haben Sie nie gefunden. Sicher, Sie haben einige seltene Objekte aufgespürt, aber nie ein Exemplar eines spurlos verschwundenen Vogels. Und das einzige je bekannt gewordene Exemplar eines Vogels zu finden, der nur ein einziges Mal gesichtet wurde... Überlegen Sie doch! Das ist Ihre Chance, Mr. Fitzgerald.« Er lehnte sich zurück und ließ seine Worte wirken. »Die Schlagzeilen können Sie gern haben, Hauptsache, ich bekomme den Vogel. Den Zeitaufwand würde ich Ihnen natürlich vergüten. Ich dachte an fünfzigtausend Dollar.«
Ich traute meinen Ohren nicht, versuchte aber, meine Verblüffung nicht zu zeigen. Nach einem tiefen Zug aus meinem Bierglas stellte ich in aller Eile ein paar Berechnungen an. Fünfzigtausend waren für jemanden wie mich eine recht beachtliche Summe. Wenn Anderson bereit war, mir so viel Geld zukommen zu lassen, wie viel würde dann für ihn rausspringen? Hundertfünfzigtausend Dollar? Zweihunderttausend? Nein, unmöglich. Niemand würde so viel zahlen. Ausgestopfte Vögel waren nicht in Mode.
Ich setzte mein Glas ab. Um Andersons Blick nicht zu begegnen, sah ich mich nach dem Ober um. Vielleicht lebte ich ja hinterm Mond. Der Vogel wäre immerhin etwas Einzigartiges, eine einmalige Rarität...
»Ich verstehe nicht«, sagte ich. »Wenn Sie eigens von so weit her kommen, auf die vage Möglichkeit hin, dass der Vogel noch existieren könnte, dann muss man Ihnen doch einiges an Geld dafür bieten. Wie kann der Vogel so viel wert sein?«
Anderson schüttelte lächelnd den Kopf. »Wir wollen mal nicht übertreiben. Es wäre ein erstaunlicher Fund, sicher, und Ted Staest würde gut dafür zahlen. Aber ich bin in anderen Geschäften hier; dass ich nach dem Ulieta-Vogel suche, ist eigentlich nur ein Gefallen, den ich Staest tue. Als Kunde könnte er auf lange Sicht sehr wichtig für mich werden. Wenn ich die Angelegenheit also ohne allzu großen Aufwand für ihn erledigen kann, ist das ein gutes Geschäft. Ich mache mir nicht mal groß Gedanken darüber, ob meine Kosten wieder hereinkommen.«
Ich beobachtete ihn genau, während er den Ober durch ein Zeichen aufforderte, uns nachzuschenken. Er wirkte ganz locker, aber ich blieb misstrauisch.
»Was führt Sie dann hierher, wenn es nicht der Ulieta-Vogel ist?«, fragte ich.
»Ach, Verschiedenes. Pflanzenmalerei hauptsächlich. Kennen Sie sich in der Pflanzenmalerei des achtzehnten Jahrhunderts aus, Mr. Fitzgerald?«
»Nicht besonders.«
»Die steht im Moment ganz hoch im Kurs, besonders in den USA. Es gibt ein paar Stücke, die ich gern erwerben würde, solange ich hier bin, sehr wertvolle Stücke, wie ich vermute. Absolut dem Zeitgeschmack entsprechend und extrem selten. Die bestmögliche Kombination.«
Es klang, als seien die Bilder von keinerlei Interesse für ihn, Hauptsache, sein Profit war gesichert. Ich schaute Gabriella an und dann wieder ihn.
»Was ist los mit Ihnen, Anderson?«, fragte ich leise. »Früher waren Sie ein Pionier. Ich habe einmal ein Interview mit Ihnen gesehen, als Sie diese Plesiosaurus-Reste gefunden hatten. Sie haben förmlich gestrahlt vor Freude. Und damals war kein Geld im Spiel.«
Zum ersten Mal an diesem Abend wirkte er etwas verärgert, doch seine Stimme klang vollkommen gelassen.
»Wir alle treffen unsere Wahl, Mr. Fitzgerald. Sie waren ja auch einmal ein ernsthafter Wissenschaftler.«
Er ließ seine Hand auf den Tisch fallen, direkt neben Gabriellas Arm.
Ich könnte sagen, das war sein erster Fehler, aber schon bevor seine Hand die ihre berührte, wusste ich, dass ich ihm nicht helfen würde. Das machte die Sache einfacher. Ich stand auf. Gabriella zuliebe beschloss ich, ehrlich zu sein.
»Hören Sie, Anderson, in meinen Aufzeichnungen steht nichts, was Ihnen oder sonst jemandem helfen könnte. Schon vor fünfzehn Jahren ist eine Art Mythos um diese Notizen entstanden, aber es ist alles nur Papier, eine Menge Material über alte Objekte, für die sich heute niemand mehr interessiert. Ich würde Ihr Geld unter Vorspiegelung falscher Tatsachen annehmen.«
Ich musste schlucken und bemühte mich, leise weiterzusprechen.
»Und da ist noch etwas«, fuhr ich fort. »Ich glaube nicht, dass der Vogel noch existiert, aber sollte das wie durch ein Wunder doch der Fall sein, dann graut mir bei der Vorstellung, dass er im Interesse irgendeines genetischen Zaubertricks in einem Labor auseinander genommen, untersucht, analysiert und mit Chemikalien gereinigt wird.« Ich hielt inne und sah ihn so ruhig an wie möglich. »Ich glaube, Sie selbst sind sich nicht über seinen Wert im Klaren, Mr. Anderson.«
Ich nickte Gabriella zu, als ich mich abwandte, schaute aber nicht mehr zurück. Vierzehn Jahre waren vergangen, und sie übte immer noch dieselbe Wirkung auf mich aus. Im Hinausgehen sah ich wieder das alte Bild vor mir: ein kahles Zimmer mit einem zerwühlten Bett, ein Ventilator, der die Hitze quirlte, und dazu immer, ungebeten, aber unentrinnbar, Gabriellas Stimme. Nur dass sie jetzt mit Anderson zusammen war. Ich war froh, dass ich nichts tun konnte, um den beiden zu helfen.
Vor der Drehtür des Mecklenburg Hotels hatte der Regen fast aufgehört, und die Straßen lagen glänzend unter den Laternen. Die Busse fuhren noch, aber ich zog es vor, zu Fuß nach Hause zu gehen. Alles, was ich seit Beginn des Abends gehört hatte, spukte mir im Kopf herum. Auf halbem Weg betrat ich ein Café. Es war noch leer, wartete noch auf die Leute aus den Pubs. In zwei Stunden würde es brechend voll sein. Ich nahm eine Ecke für mich allein in Beschlag und dachte an Gabriella - wie sie gewesen war, wie sie ausgesehen hatte, wie ich mich fühlte. Wie Anderson so behaglich neben ihr gesessen hatte. Nach einer Weile - es hatte wieder angefangen zu regnen - wanderten meine Gedanken zu dem verschollenen Vogel, der ihn hierher geführt hatte. Andersons Suche nach ihm schien zu bizarr, um wahr zu sein. Ein einzigartiger Vogel, ein unerklärliches Verschwinden, eine minimale Möglichkeit, dass das einzige Exemplar noch irgendwo existieren könnte. Es war ein unglaublicher Gedanke, die Sorte Entdeckung, von der ich früher geträumt hatte. Aber doch sicher ausgeschlossen? Ich hätte darüber lachen sollen - nur war Anderson nicht der Mann, der zum Lachen reizte.
Der Gedanke beschäftigte mich noch, als ich das Café verließ und in den Regen hinaustrat. Ich brauchte einige Zeit bis nach Hause, und als ich dort angekommen war, dauerte es noch einmal eine Weile, bis ich erfasste, was die eingeschlagene Scheibe in der Haustür zu bedeuten hatte. Die Scherben lagen im Flur, und dahinter saß Katya am Fuß der Treppe und betrachtete sie.
 
 
 
Als er zum ersten Mal ihr Gesicht erblickte, fand er sie nicht eben schön.
Sie sah genauso aus, wie die Leute in Revesby sie beschrieben hatten: braunes Haar, schlank, die Züge hübsch, aber gewöhnlich.
Seine Enttäuschung ließ ihn einen Moment lang im kühlen Schatten der Eichen am Rande der Lichtung innehalten. Von dort, wo die Frau saß und zeichnete, wehte der Geruch der sonnenwarmen Erde herüber. Das Nachmittagslicht zeigte sie überdeutlich: eine zarte Gestalt in weißem Musselin, ein paar Sommersprossen, die Stirn beim Zeichnen in tiefe, konzentrierte Falten gelegt. Durch den Schatten der Bäume betrachtet, war sie ihm überaus anmutig erschienen, und mehr als einmal hatte ihn die Verheißung dieses Anblicks wieder in den Wald geführt, in der Hoffnung, seine Neugier befriedigen zu können. Jetzt aber, da seine Waldnymphe sich als ein sonnengebräuntes Mädchen erwies, zögerte er und wollte sich eben wieder abwenden, hätte sie nicht in diesem Augenblick geradewegs zu ihm hergeschaut.
Ihr Blick machte ihn verlegen. Sie war allein im Wald, und er hatte sie recht unverhohlen beobachtet. Ein Gentleman, dachte er, würde sich verneigen und sich zurückziehen.
Dessen ungeachtet trat er in den Sonnenschein hinaus, räusperte sich und senkte den Blick, um seine Verlegenheit zu verbergen. Als er wieder aufsah, hatte sie sich erhoben, hielt das geschlossene Zeichenbuch an sich gedrückt und schaute ihm entgegen.
»Ich bitte um Vergebung, wenn ich Sie gestört habe«, sagte er und trat weiter vor. »Ich komme oft hier vorbei und habe nicht erwartet, diesen entlegenen Ort so reizend besetzt zu finden.« Er streckte ihr die Hand entgegen. »Mein Name ist Joseph Banks.«
Einen Moment lang sah sie auf seine Hand nieder, ergriff sie aber nicht. Als sie zu sprechen anhob, klang ihre Stimme ruhig.
»Ich weiß, wer Sie sind, Mr. Banks. Revesby ist zu klein, als dass es anders sein könnte. Selbst wenn man sich dort aus dem Wege gehen möchte, vermag man es nicht immer.«
»Dann freut es mich, dass dies heute nicht der Fall ist.« Lächelnd wies er auf ihr Zeichenbuch. »Sie sind Künstlerin, wie ich sehe.«
Sie senkte die Lider, und Banks betrachtete ihr Gesicht. Als er merkte, dass sie nicht zu antworten beabsichtigte, verneigte er sich und lächelte in die Stille hinein, die sie hatte entstehen lassen.
»Wir werden uns gewiss bald wieder begegnen. Vielleicht sind Sie zu Hause, wenn ich Ihrem Vater meine Aufwartung mache.«
Unvermittelt hob sie den Blick und sah ihm ins Gesicht. Sie sprach sehr deutlich, und ihre Stimme klang ungleich härter als zuvor.
»Möglicherweise wissen Sie nicht, wer ich bin, Sir. Meine Familie empfängt keine Besuche. Unsere Nachbarn kommen nicht zu uns, und wir erwarten sie auch nicht.«
Er lächelte und verbeugte sich abermals.
»Leben Sie wohl«, sagte er. »Bis wir uns wieder sehen.«
 
Aus Gründen, die ihm unklar blieben, ging sie ihm nicht mehr aus dem Sinn. Vielleicht war es der ungewöhnliche Umstand, dass sie allein war, vielleicht auch ihr Verhalten beim Zeichnen. Noch mehr aber lag es daran, dass sie den Eindruck einer Person erweckte, die sich den Blicken der anderen entzog, und er ertappte sich dabei, dass er Mutmaßungen über die Gefühle anstellte, die sie in ihrem Innern wie hinter einem Schutzwall verbarg.
 
Am nächsten Morgen machte Banks mit seiner Schwester Sophia Besuche im Dorf. Die Sonne schien, und die Wiesen waren erfüllt vom Duft des Sommers. Er spürte die frische Luft und den Sonnenschein auf seinen Wangen. Angesichts der drohenden Gefahren seiner großen Reise hatte er sich nie lebendiger gefühlt.
Wohl gelaunt absolvierten sie ihre Besuche. Banks freute sich, mit seiner Schwester zusammen zu sein, und sie freute sich, den Bruder ihren Nachbarn vorzustellen. Die sommerliche Stimmung dauerte bis zum Dorfrand an. Als Sophia umkehren wollte, hielt Banks sie zurück und deutete auf ein kleines Steinhaus vor ihnen.
»Ich habe gehört, das schwarze Schaf der Gemeinde ist unwohl, Sophia. Der Mann liegt im Sterben, heißt es. Ich würde gern bei ihm vorsprechen, um zu sehen, wie es ihm geht.«
»Aber nein, Joseph!« Sie zog ihn am Arm zurück, und ihre Miene war plötzlich ernst. »Seit diesem Vorfall ziemt es sich nicht mehr, dorthin zu gehen. Zudem hat er einen Anfall erlitten und nimmt seither nichts mehr von seiner Umgebung wahr, nicht einmal seine eigene Schande, fürchtet man.«
Doch Banks ließ sich nicht beirren. Mit fester Hand führte er seine Schwester so lange weiter auf das Haus zu, bis eine Umkehr wie eine bewusste Brüskierung ausgesehen hätte und nicht mehr in Betracht kam. Eine ältere Frau öffnete die Tür und sagte ihnen, die Tochter des Hauses sei nicht anwesend und der Herr nicht in der Lage, Besucher zu empfangen.
»Ob Sie ihm wohl meine Karte geben könnten, Schwester, damit er weiß, dass ich da war?«, bat Banks die Pflegerin.
»Ich fürchte, er wird nichts davon erfassen, Sir.«
Banks nickte, die Karte noch in der Hand. Er wollte noch mehr sagen, doch der Druck von Sophias Hand auf seinem Arm bewog ihn, sich mit einem erneuten Nicken zu entfernen.
Als sie durch einen Wald namens Slipper Wood nach Hause zurückkehrten, bemerkte Banks eine Bewegung zwischen den Schatten. Sie hielten inne und blickten in die Richtung, bis sie erkannten, dass es sich um die weiß gekleidete Gestalt einer Frau handelte. An einem Baumstamm blieb sie stehen und betrachtete ihn. Eine Weile verharrte sie so, dann begann sie den Stamm zu umrunden, das Gesicht immer nahe an der Rinde. Wieder an ihrem Ausgangspunkt angelangt, ging sie zum nächsten Baum und wiederholte das Ritual.
»Das ist die Tochter des Kranken, fürchte ich«, sagte Sophia. »Man sieht sie häufig allein im Wald. Das trägt nicht eben dazu bei, den Ruf der Familie bei den Leuten im Dorf wiederherzustellen.«
»Wie alt ist sie?«, wollte Banks wissen.
»Sie muss sechzehn oder siebzehn sein.«
Er beobachtete sie noch eine Weile. An seinem Gesicht war gegen die Sonne nichts abzulesen.
»Was macht sie hier im Wald?«, fragte er.
»Ich habe keine Ahnung. Vielleicht hofft sie, die Aufmerksamkeit eines vorbeikommenden Gentlemans von empfänglichem Naturell auf sich zu ziehen. Dabei sieht sie ganz und gar gewöhnlich aus und hat keinerlei Aussichten.«
 
Am Abend gesellte sich Dr. Taylor aus dem Dorf zu der Gesellschaft in der Abtei. Sophia berichtete, was sie im Slipper Wood gesehen hatten, und wandte sich dem Arzt zu, um sich seiner Unterstützung ihrer Missbilligung zu versichern.
»In der Tat. Das junge Mädchen ist äußerst schwierig«, sagte er. »Seit dem schändlichen Auftritt ihres Vaters geht sie uns allen in auffälligster Weise aus dem Weg. Als hätte das Unglück sie altern und hart werden lassen. Ich fürchte, sie ist allzu viel allein.«
Banks nickte, und das Gespräch wandte sich anderen Themen zu.
Am nächsten Morgen holte er ein Vergrößerungsglas aus seinem Arbeitszimmer und kehrte zu der Stelle im Wald zurück, an der er sie zuletzt gesehen hatte. So versunken stand er dort, dass seine Geschäftskorrespondenz unerledigt und ein Brief, der mit den Worten »Meine liebste H…« begann, unvollendet auf seinem Schreibtisch liegen blieb.