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Freitag im Mecklenburg Hotel
Es schüttete, als ich am Mecklenburg Hotel ankam. Ich hatte den Bus bis Oxford Circus genommen und war nass und außer Atem, aber wenigstens pünktlich. Das Hotel war ein hässlicher Kasten, außen Beton und hinter der Drehtür teurer, pseudoedwardianischer Stil. Etwas enttäuscht blieb ich einen Moment in der Lobby stehen und tropfte den Teppich voll. Dann folgte ich in plötzlicher Verlegenheit dem Schild zur Herrentoilette, wo ich mir die Haare abtrocknete und wieder halbwegs in Form strich. Als ich damit fertig war, sah ich zwar besser aus, war aber immer noch zu salopp gekleidet. Im Vergleich zu meinen Kollegen an der Universität fand ich mich meistens einigermaßen schick, hier aber wirkte ich wie jemand, der womöglich Handtücher klaute.
Ich blieb eine Weile vor dem Spiegel stehen, um mich zu sammeln. Was mochte Anderson von mir wollen? Der Vogel von Ulieta war ein Rätsel, ein Zaubertrick der Natur, ein Wesen, das wie auf einen Wink hin verschwunden war. Und es war ein endgültiges Verschwinden, eines ohne Wiederkehr. Das Publikum konnte nur noch nach Federn suchen, die längst nicht mehr existierten. Daran vermochte nicht einmal Anderson etwas zu ändern.
Oben in der Rosebery Bar roch es trotz des Zigarettenrauchs nach Parfüm und Leder. Aber nicht nach dem ausgedörrten Leder meiner Jacke und meiner Schuhe - das hier war neues, teures Leder, weich duftend. Es machte mir den Regengeruch bewusst, den ich mit hereingebracht hatte. Unter den trockenen, gepflegten Leuten hier war es der Geruch des Nicht-Dazugehörens.
Gabriella war nicht zu übersehen. Sie saß im warmen Lampenschein in einer Ecke, filmreif umrahmt von gekräuseltem Rauch. Sie war noch so schlank wie früher und geradezu makellos gepflegt. Sie trug ein enges schwarzes Kleid im Stil der Fünfzigerjahre, das an ihr jedoch alles andere als deplatziert wirkte. Mit derselben aufreizenden Anmut, mit der sie in ein Taxi glitt, war sie in diese Epoche geschlüpft. Neben ihr, hinter dem Rauch, saß ein hoch gewachsener, blonder, gerade gebauter Mann Anfang fünfzig, eindeutig ein Skandinavier. Ein gut aussehender Mann. Er hatte sich Gabriella zugewandt, und während ich mich zögernd näherte, redete er eindringlich an einer Gruppe von Amerikanern vorbei, die vor dem Theaterbesuch noch einen Drink nahmen.
Gabriella schaute auf, und ihr Blick fiel auf mich.
»Hallo, Fitz«, sagte sie leise, als ich an ihren Tisch trat, und plötzlich ärgerte ich mich über sie, weil sie sich nicht verändert hatte, und über mich selbst, weil ich es bemerkte. Und darüber, dass mir irgendwo rechts ein Arm in feinem Tuch die Hand entgegenstreckte.
»Fitz, das ist Karl Anderson«, sagte sie, als wäre damit alles gut.
Ich nickte ihm eher desinteressiert zu und sah wieder Gabriella an. Sie war so erschreckend vertraut, dass mir die Luft wegblieb.
»Vielleicht sollten wir alle Platz nehmen«, sagte Anderson ruhig. »Mr. Fitzgerald möchte sicher einen Drink.«
Er hatte Recht. Ein Drink war genau das, was ich jetzt brauchte, und so setzte ich mich an den kleinen runden Tisch und beteiligte mich an einer schrecklich wohl erzogenen Unterhaltung, die jede Peinlichkeit vorsichtig umschiffte. Der Ober brachte mir ein Bier, und es wurden weitere Getränke bestellt. Gabriella saß so dicht neben mir, dass meine Hand, hätte ich sie vom Tisch rutschen lassen, ohne weiteres auf ihre hätte fallen können. Die Drinks kamen fast sofort - Anderson trank ebenso schnell wie ich und ließ immer gleich nachschenken. Ich beobachtete ihn, während Gabriella von den Vorträgen erzählte, die sie in Edinburgh und München halten wollte. Ein großer, wohl proportionierter Mann, sieben oder acht Jahre älter als ich, was man ihm aber nicht ansah - ein Querdenker, ein Charmeur, eine Koryphäe in einer verstaubten Disziplin.
Gabriella wirkte winzig neben ihm, wie ein Vögelchen. Es schien, als sei sie reibungslos durch die Jahre geglitten, in ungebrochener Frische und Lebendigkeit. Sie musste zehn Jahre jünger sein als der große Mann an ihrer Seite, und doch passten sie zusammen. Sie waren ein schönes Paar.
»Und was machen Sie zurzeit so, Mr. Fitzgerald? Dass Sie sich aus der Feldforschung zurückgezogen haben, ist ein großer Verlust für uns alle.« Er war Norweger, sprach aber ein fast akzentfreies, präzise artikuliertes Englisch.
»Oh, ich habe genug zu tun. Ich lehre hauptsächlich. ›Naturkunde im historischen Kontext‹ - Griechen, Römer, frühe Naturforscher, die Darwin-Kontroverse. Solche Dinge. Eine Pflichtveranstaltung - die Studenten müssen erscheinen, auch wenn ich nicht gut bin.«
»Und sind Sie gut?«
»Na, jedenfalls bin ich umstritten, was das Zweitbeste ist. Das Thema meiner ersten Vorlesung lautet ›Der Präparator als Held‹. Die macht mir immer viel Spaß.«
In diesem Moment wurde Anderson vom Ober abgelenkt, und Gabriella fing meinen Blick ein.
»Ich bin froh, dass du gekommen bist, Fitz«, sagte sie, und es klang, als meinte sie es ernst. Ich selbst enthielt mich eines Urteils. Erst als der dritte Drink zu wirken begann, schnitt Anderson das Thema an, auf das wir alle gewartet hatten.
»Sie fragen sich sicher, warum ich hier bin, Mr. Fitzgerald, und dieses Treffen alter Freunde störe.«
Ich gab ihm mit hochgezogener Braue zu verstehen, dass ich seine Worte zur Kenntnis genommen hatte, erwiderte aber nichts, und so fuhr er fort:
»Vor ein paar Jahren hatte ich das Glück, einen Vortrag von Gabriella in Prag zu hören, und seitdem sind wir Freunde. Von ihr weiß ich, dass Sie auf einem Gebiet, für das ich mich interessiere, über ein umfangreiches Wissen verfügen. Und ich kenne natürlich die Arbeit Ihres Großvaters.«
Er hielt inne und stellte sein Glas sorgsam auf den Untersetzer. Ich wartete auf die abgedroschene Bemerkung, die üblicherweise auf die Erwähnung meines Großvaters folgte, aber sie kam nicht. Stattdessen beugte sich Anderson vor und sagte mit gesenkter Stimme:
»Ich bin Sammler, Mr. Fitzgerald. Und ich bin hier, weil ich nach etwas außerordentlich Seltenem suche. Nach etwas, das möglicherweise gar nicht mehr existiert. Gabriella meint, Sie könnten mir dabei helfen. Sie sind ja bekanntlich eine Autorität auf dem Gebiet ausgestorbener Vögel.« Sein Blick verweilte einen Moment auf meinem Gesicht. »Was wissen Sie über diesen Vogel von den Gesellschaftsinseln, den man den Rätselhaften Vogel von Ulieta nennt?«
»Nicht viel«, antwortete ich wahrheitsgemäß. »Eine ziemlich kuriose Bezeichnung, fand ich immer.«
Wieder dieser eindringlich forschende Blick.
»So kurios vielleicht auch wieder nicht.« Er lehnte sich zurück und rieb sich mit den Fingerspitzen über den Nacken. »Unterhalten wir uns doch ein bisschen darüber.«
Er senkte den Arm und ließ seine Fingerspitzen nun weich auf der Tischkante ruhen. Wieder kreuzten sich unsere Blicke.
»Der seltenste Vogel, der je beschrieben wurde, Mr. Fitzgerald. Nur ein einziges Mal gesichtet, 1774, auf Kapitän Cooks zweiter Expedition. Bei einem Routinesammelgang auf einer Südseeinsel mit dem damaligen Namen Ulieta. Ein einziges eingefangenes Exemplar einer noch nie gesehenen Spezies. Von Johann Forster präpariert und nach England gebracht. Kein Vogel dieser Art wurde je wieder gefunden, weder auf Ulieta noch irgendwo sonst. Ausgestorben, bevor er richtig entdeckt wurde.«
Er verstummte, senkte den Blick auf den Tisch, strich mit dem Finger nachdenklich über einen Tropfen und formte daraus ein X.
»Das alles dürfte Ihnen nicht neu sein, Mr. Fitzgerald. Nach seiner Rückkehr hat Johann Forster den präparierten Vogel verschenkt. Das einzige Exemplar. Das einzige je aufgefundene Exemplar. Wie selten es ist, konnte er damals natürlich nicht wissen. Genauso wenig wie der junge Mann, dem er es schenkte, der Naturforscher Joseph Banks.«
Wieder sah er zu mir auf, und jetzt lag eine Erregung in seinem Blick, die vorher nicht da gewesen war.
»Ja, Mr. Fitzgerald. Es ist zweihundert Jahre her, dass dieses einzige Exemplar aus Banks’ Sammlung verschwunden ist. Niemand weiß, wo es geblieben ist. Es wird Zeit, dass es wieder auftaucht, finde ich - Sie nicht auch?«
 
 
Später erkannte er, dass Entdeckung keine Wissenschaft ist. In diesem Sommer verlief seine Reise nach Revesby langsam und mühselig, doch trotz der großen Hitze dachte er an die Südsee. Die Endeavour stand kurz vor dem Auslaufen, und seine Gedanken wanderten immer wieder zu der bevorstehenden Reise. Nach und nach aber, Meile um Meile, holten ihn die Formen und Schatten seiner Heimat zurück. Auf den letzten Meilen begann sein Herz ein wenig schneller zu schlagen, und seine Augen hielten nach dem alten Haus seiner Familie Ausschau.
Endlich tauchte es auf, es erwartete ihn schon, öffnete weit die Arme, als wollte es einen verlorenen Sohn empfangen. Erst schienen die lehmfarbenen Mauern ganz verwaist vor den Bäumen zu stehen, doch beim Geräusch der Kutsche strömten die Menschen heraus: vertraute, freundliche Gesichter, in deren Willkommensgrüßen schon der Abschied mitschwang. In den folgenden Tagen war seine Reise Gegenstand jeglicher Unterhaltung, und keiner ließ es sich nehmen, bereits voll Zuversicht von seiner Rückkehr zu sprechen. Revesby schien gleichermaßen stolz und besorgt zu sein. Der Abend war erfüllt von Tanz und Lichtern. Herren klopften ihm auf den Rücken, die Gesichter gerötet von Musik und Wein, wünschten ihm Glück und stellten fest, wie hochgestimmt er sei. Das war er auch. Er fühlte sich stark und lebendig, erzählte von großen Entdeckungen, und wenn die Musik spielte, tanzte er ausgelassen. Die Töchter der Herren nahm er nur flüchtig wahr; leuchtender Satin, zarte Hände und immer auch ein Flüstern in seinem Rücken, aufgeregt spekulierend. Tagsüber, wenn das Haus in der Hitze döste, ließ er die Gespräche hinter sich und wanderte hinaus in die Kühle der Wälder.
 
Er wusste, dass sie dort war, im Wald, noch ehe er sie sah. Erst war sie nur eine Bewegung, ein Stück entfernt, als huschte ein Reh aus seinem Augenwinkel davon. Später fand er zerbrochene Zweige und Gras, das eine Mulde auspolsterte. Und dann, an einem strahlenden Tag, sah er sie vor dem Hintergrund der Bäume, am Rand einer Wiese, zu weit entfernt, als dass er ihr Gesicht hätte erkennen können. Leichtfüßig und geschmeidig schritt sie durchs hohe Gras, glitt zwischen Sonne und Schatten hin und her, gleich einem weißen Faden, der die Bäume an die Wiese nähte.
Später erkundigte er sich nach ihr, und man nannte ihm ihren Namen. Am Abend auf dem Heimweg dachte er wieder daran, wie sie am Waldrand entlanggegangen war, und Neugier regte sich in ihm. Die Nacht war warm und hüllte ihn in betäubenden Sommerduft. Im Gehen dachte er an sie.
Wenn sie von seiner Ankunft wusste, so nahm sie keine Notiz davon. Ihr Sommer und ihre Zuflucht waren die Wälder. Tag für Tag zeichnete sie mit flinken Fingern, was sie dort fand, und scharte mit diesen kleinen Rettungsversuchen die Dinge um sich, die sie am besten kannte. Sie erwartete nicht, bemerkt zu werden. Entdeckung ist keine Wissenschaft; zu viel Zufall ist dabei im Spiel.