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Donnerstagabend beim Präparator
An jenem Donnerstagabend arbeitete ich bis
spätabends. Ich war dabei, den Schädel einer toten Eule zu
entfernen. Es war November, aber die Lampe an meiner Werkbank
brannte so heiß, dass meine Hände schwitzten. Ich war beim
schwierigsten Teil der Operation angelangt: den Schädel ganz
behutsam den Hals hinabzuschieben, ohne die Haut zu verletzen. Als
ich ihn abzulösen begann, musste ich vor lauter Konzentration
blinzeln. Aber ich spürte, dass es gelingen würde, dass ich es
richtig machte, und als hinten in der Werkstatt das Telefon
schrillte, ging ich nicht dran. Es war zu spät für eine
Aufforderung, ins Pub zu kommen. Obwohl ich das Schild abmontiert
und mich aus den Gelben Seiten hatte streichen lassen, meldeten
sich die Kneipenwitzbolde (»Ich hätte da ein Huhn, das soll
ausgestopft werden...«) noch ab und zu. Meist riefen sie um diese
Zeit an, aber heute Abend hatte ich keine Lust, mich auf das Spiel
einzulassen. Doch da fiel mir Katya ein, und ich überlegte es mir
anders.
Katya war die Studentin, der ich die Wohnung oben
vermietet hatte. Es waren immer Studenten, denn wegen der toten
Tiere, auf die sie im Flur stoßen konnten, verlangte ich nur eine
geringe Miete. Sie waren bereit, darüber hinwegzusehen, weil die
Wohnung zentral gelegen war und weil meine Studenten am
naturwissenschaftlichen Institut die Hand für mich ins Feuer
legten. Studenten sehen über vieles hinweg, wenn man einen Ruf als
Rebell genießt, und an einem so furchtbar ernsten
Rettet-die-Welt-Institut qualifizierte ich mich auch dadurch, dass
ich Motorrad fuhr und mich weigerte, der Marschrichtung der
Universität hinsichtlich der aktuellen Konservierungstheorie zu
folgen. So einfach war das.
Es war eine separate Wohnung. Haustür und
Treppenhaus, aber nur sehr wenig sonst hatten Katya und ich
gemeinsam, und in den paar Monaten, seit sie eingezogen war, hatten
wir nur ab und zu ein höfliches Lächeln und fast noch weniger Worte
gewechselt. Ungefähr alle zehn Tage rief ihre Mutter aus Schweden
an, und ich schrieb getreulich eine Nachricht auf einen gelben
Block, den ich dann unten an die Treppe legte, zusammen mit dem
Hinweis, Katya könne ihrer Mutter ja die Nummer des Telefons oben
geben. Am nächsten Tag war die Nachricht weg, aber ihre Mutter rief
weiterhin unten an. Sie war eine höfliche Frau, die ein wenig mit
ihrem Englisch kämpfte und bemüht war, sich keine Besorgnis
anmerken zu lassen. Sie tat mir Leid. Und deshalb zog ich, obwohl
die Eule gerade Gestalt anzunehmen begann, meine Handschuhe aus und
nahm den Hörer ab.
Es war nicht Katyas Mutter.
Es war eine Stimme, die ich vierzehn Jahre nicht
mehr gehört hatte. Eine fast vergessene, unendlich vertraute
Stimme.
»Fitz«, fragte sie, »bist du’s?«
»Gabriella.« Eine rhetorische Feststellung, wenn es
so etwas gibt.
»Ja, ich bin’s. Es ist lange her, Fitz.«
Ob das ein Vorwurf oder eine Entschuldigung war,
blieb unklar.
»Ja, sehr lange.« Es klang, als würde ich mich
verteidigen. »Aber deine Briefe hab ich bekommen.«
»Du hast nicht geantwortet.«
»Ich bin kein großer Briefschreiber, das weißt du
ja.«
Das konnte sie nicht leugnen. Ich war berühmt
dafür.
»Hör mal, Fitz, ich bin ein paar Tage in London und
würde dich gern mit jemandem bekannt machen. Er ist Sammler und hat
etwas ziemlich Interessantes zu erzählen. Ich glaube, es wird dich
interessieren. Was hast du morgen Abend vor?«
Ich betrachtete die Reste der Eule auf der
Werkbank. Sie würde ihr Heil im Kühlschrank suchen müssen.
»Nichts Besonderes.«
»Gut. Dann um sieben im Mecklenburg, in der Bar?
Das ist nicht weit von der Oxford Street, gleich bei
Selfridges.«
Typisch Gabriella: Sie wusste, dass das Mecklenburg
Hotel nicht zu meinen üblichen Trinklokalitäten zählte.
»Okay, dann morgen um sieben...«
»Ich freu mich darauf, dich zu sehen. Ich habe Karl
gesagt, wenn jemand ihm helfen kann, dann du.«
»Karl?«
»Karl Anderson.«
»Ah, ja. Der Sammler. Ich hab was über ihn gelesen.
Und was für eine Art von Hilfe soll das sein?«
Sie schwieg einen Moment. Sie hatte nie gern etwas
am Telefon besprochen.
»Nicht jetzt. Warte bis morgen. Aber die Sache wird
dich interessieren, Fitz, das verspreche ich dir. Es geht um den
Rätselhaften Vogel von Ulieta.«
Sie hatte natürlich Recht. Mein Interesse war
geweckt. In jeder Hinsicht. Ich ließ die Eule im Dunkeln zurück und
stieg die Treppe hinauf zu dem Zimmer, in dem ich überwiegend
lebte. Es war ein unaufgeräumter, gemütlicher Raum mit warmer
Beleuchtung, in dem es nach altem Papier roch. Das Bett war
notorisch ungemacht, der Schreibtisch mit Notizen für ein Buch
übersät, an dem ich gar nicht richtig schrieb. Einige der Zettel
waren ziemlich eingestaubt. Eine ganze Wand wurde von Regalen mit
sorgfältig geordneten Büchern eingenommen, aber ich brauchte
nirgendwo nachzuschlagen, um zu wissen, dass Gabriella nicht
übertrieb. Trotz seines Namens war der Vogel sehr real, zumindest
war er es einmal gewesen. Ich hatte mir sogar schon Stichworte für
einen Artikel über ihn gemacht, damals, als ich im Begriff stand,
berühmt zu werden.
Und jetzt, all die Jahre später, wollte sie mit mir
darüber reden. Sie und ihr Freund Karl Anderson. Ich hatte einmal
ein Foto von den beiden gesehen, das ein gemeinsamer Freund vor
ungefähr drei Jahren bei einer der großen Sommervorlesungen in
Salzburg aufgenommen hatte. Sie stand darauf ganz leicht auf seinen
Arm gestützt, noch immer dunkel, schlank und ruhig, noch immer mit
dem vertrauten, halb fragenden Lächeln.
Ich setzte mich aufs Bett und betrachtete
nachdenklich die kleine Truhe in der Ecke. Was die beiden wissen
wollten, war vermutlich darin, zusammen mit all dem anderen: dem
Dodo, dem Präriehuhn, der Wandertaube, dem Verschwundenen und
Vergessenen - alles durcheinander, Jahre hingeworfener Notizen und
Beobachtungen, die noch darauf warteten, Gestalt anzunehmen.
Doch anstatt daran zu denken, dachte ich an
Gabriella und den Mann, dem sie mich vorstellen wollte. Ich hatte
im Lauf der Jahre viel über ihn gelesen, aber alles, was ich
wusste, lief im Grunde auf dreierlei hinaus: Karl Anderson war
berühmt dafür, dass er Dinge aufspürte; er war gewohnt zu bekommen,
was er wollte; und inzwischen war er viel zu erfolgreich, um seine
Forschungen noch selbst durchzuführen, es sei denn, der Einsatz war
sehr hoch.
Ich war mir nicht sicher, ob mir das gefiel.
Ich schaute auf die Uhr: gerade noch Zeit fürs
Pub.
Reisen beginnen auf vielerlei Art. Cook selbst,
ein Mann, der wusste, was es hieß, sich auf eine lange
See-Expedition vorzubereiten, redete Joseph Banks zu, noch einmal
nach Revesby zurückzukehren, bevor das Schiff auslief. Und so begab
sich Banks im Sommer 1768, zwei Monate vor seiner Abreise, nach
Lincolnshire, heim zu den Wäldern und Feldern, die er vor sich
sehen sollte, wenn er in den folgenden drei Jahren an zu Hause
dachte.
Die Sommer, ehe die Endeavour in See stach,
erschienen ihr einsamer als die Winter. Jeder Sommertag, den sie
allein verbrachte, war von einem Gefühl vergeudeter Freude geprägt.
Da begann sie, gegen ihre ungewisse Zukunft anzumalen, als könnte
sie die Tage mithilfe von Einzelheiten einfangen und bewahren. Der
Venusdurchgang, den zu beobachten Banks die weite Reise unternahm,
bedeutete ihr weniger als das Vorüberziehen der Jahreszeiten in den
Wäldern von Revesby.