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Ein Brief und einige Prospekte
Ich brauchte vierzig Minuten, um meine
Universitätstermine der nächsten drei Tage abzusagen, und weitere
zwanzig, um mein Motorrad für eine längere Fahrt startklar zu
machen. Wieder in der Küche, hatte ich gerade Wasser aufgesetzt,
als Katya nach Hause kam. Ich fing sie im Flur ab und machte ihr
erst eine Tasse Tee, ehe ich ihr den Umschlag hinschob. Sie öffnete
ihn vorsichtig - schließlich konnte sie nicht wissen, ob er gute
oder schlechte Nachrichten enthielt.
Zwei Blätter lagen darin. Das erste war die
grobkörnige Fotokopie eines Briefumschlags - die George-V.-Marke
war deutlich zu erkennen, der Stempel verwischt und nicht zu
entziffern, die kräftige schräge Schrift dagegen gut
lesbar.
Miss Martha Ainsby,
The Old Manor,
Stamford,
Lincs
The Old Manor,
Stamford,
Lincs
Das zweite war die Kopie eines Briefes in
derselben schrägen Schrift.
Savoy Hotel, 17. Januar 1915
Meine liebe Martha,
Colonel Winstanley hat Wort gehalten, und ich
bin jetzt in London. Leider musste alles sehr schnell gehen, sodass
mir keine Zeit mehr blieb, Dir zu schreiben und Dich rechtzeitig zu
verständigen, geschweige denn, Dich zu besuchen. Ich bin erst seit
etwas über acht Stunden hier, aber die Papiere sind General Winters
überbracht worden, und morgen bei Tagesanbruch breche ich auf, um
wieder zum Regiment zu stoßen.
Dein Brief ist mir durch ganz Frankreich gefolgt
und hat mich erst vor zwei Tagen erreicht. Was für eine traurige
Nachricht! Der alte Mann war eine große Persönlichkeit und uns
beiden ein guter Freund. Ich bin froh, dass er friedlich
einschlafen durfte. Er hat es verdient.
Wie gut, dass du so umsichtig warst, seinen
kostbaren Vogel in Sicherheit zu bringen. Du weißt ja, dass ich
mich schon immer brennend dafür interessiert habe. Auch ohne die
Verbindungen zu Cook und Banks und sogar ohne seine spätere
Geschichte wäre er das ungewöhnlichste und romantischste Objekt,
das man sich vorstellen kann.
Sobald mir ein längerer Besuch möglich ist,
werden wir beide ihn in allen Einzelheiten beschreiben und unsere
Beschreibung an das Natural History Museum schicken. Es ist nur
recht und billig, dass man dort über die Existenz eines für die
Wissenschaft einmaligen Objekts unterrichtet wird. Bis dahin hüte
den Vogel wie deinen Augapfel - ich möchte bei meiner Rückkehr
nicht erleben, dass dein junger Vulpes ihn mir entrissen
hat!
Mein kurzer Blick auf London hat mir unendlich
gut getan. Meine Stimmung könnte nicht besser sein, und ich bin
sicher, meine Aufgabe wird nicht allzu viel Zeit in Anspruch
nehmen, sodass ich bald zu dir zurückkehren kann.
Bis dahin grüße alle von mir.
Dein Dich liebender Bruder
John
Dein Dich liebender Bruder
John
Als Katya zu Ende gelesen hatte, sahen wir uns
über den Tisch hinweg an. Sie saß ganz still, aber ich spürte ihre
Anspannung.
»Der Ulieta-Vogel«, sagte sie leise. »Den meint er
doch, oder?« Ihr Gesicht war eine einzige Frage.
»Könnte sein.«
Ein wenig ungeduldig sah sie auf den Brief
hinab.
»Wieso könnte? Ein für die Wissenschaft einmaliges
Objekt... Verbindungen zu Cook und Banks... Das muss er
sein.«
»Nein, er könnte es sein. Und der Brief
könnte das sein, was Anderson so in Aufregung versetzt hat.
Er wäre ja verrückt, nach einem ausgestopften Vogel zu suchen, den
seit zweihundert Jahren niemand mehr gesehen hat. Aber nach einem,
der vor achtzig Jahren noch heil und unversehrt war...«
»Dann muss er auch zu finden sein!« Sie umklammerte
meinen Arm. »Das bedeutet, dass wir genauso gute Chancen haben wie
er!«
Ich hob die Hand. Ich wollte den Ball flach
halten.
»Moment mal. Seit 1914 ist viel passiert:
Luftangriffe, Erbschaftssteuern, feuchte Wände... Sicher ist gar
nichts.«
»Aber damals war er noch intakt...«
»Ja, wenn er sich so lange gehalten hat, besteht
die Möglichkeit, dass er noch existiert. Anderson scheint
jedenfalls davon auszugehen. Aber wenn der Brief sein berühmter
Anhaltspunkt ist, wer hat ihn uns dann zukommen lassen? Dass
Anderson selbst es getan hat, nur um keinen unfairen Vorsprung zu
haben, kann ich mir nicht vorstellen.«
Katya hielt die Fotokopien noch immer vor sich, als
könnten sie meine Zweifel abwehren. »Ich weiß nicht«, sagte sie
zögernd. »Wer hat sonst noch davon gewusst?«
Ich musste sofort an Gabriella denken. Sie hatte
versprochen, alles, was sie fand, an mich weiterzugeben, und es sah
so aus, als hätte sie Wort gehalten. Im Moment war sie irgendwo in
Deutschland, aber ihr Regenmantel hing noch an der Tür. Ich nahm
Katya die Kopien ab.
»Was willst du jetzt machen?«, fragte sie.
»Ganz einfach: Ich fahre nach Stamford und versuche
herauszukriegen, ob die echt sind.«
»Sehr gut.« Sie strahlte. »Ich komme mit.«
Am nächsten Morgen brachen wir auf. Da wir nun zu
zweit waren, musste ich das Motorrad stehen lassen, aber Geoff aus
dem Hammer And Sickle hatte ein Auto, das ich mir des Öfteren
auslieh, ein rostiges kleines Gefährt von der Farbe einer
ausgebleichten Zitrone. Es war noch dunkel, als wir jeder eine
Tasche packten und dann losfuhren, um uns in den Londoner Verkehr
einzufädeln, gerade rechtzeitig zur Rushhour.
Wir kamen nur langsam voran, waren aber aufgekratzt
wie kleine Kinder. Es schüttete, man sah kaum etwas, und wegen des
Quietschens der Scheibenwischer mussten wir schreien, um uns zu
verständigen. Das Radio ging nicht, und die Heizung wurde gerade so
warm, dass die Scheiben nicht beschlugen. Am Stadtrand
kapitulierten wir, fuhren an den Rand und zogen unsere Mäntel an.
Katyas war lang und schwarz; der hochgeschlagene Kragen rahmte ihr
Gesicht ein. Meiner war alt und abgetragen, und ich sah darin aus
wie ein Statist aus Doktor Schiwago. Unter dem Mantel, in
meinem Innern, pulsierte leise ein Optimismus, der sich nicht
dämpfen lassen wollte. Wenn der Vogel nun tatsächlich all die Jahre
überstanden hatte? Es war immerhin möglich. Es war durchaus
möglich. Plötzlich war die Straße vor uns frei, ich trat das
Gaspedal durch, und die Tachonadel kletterte ganz langsam auf
hundert.
Als wir London hinter uns hatten, ließ der Regen
nach, und nachdem ich die Scheibenwischer abgestellt hatte, ging
der Lärm im Wagen in ein tiefes Brummen über.
»Das ist verrückt, was wir da machen, das ist dir
doch klar, oder?«, fragte ich Katya, noch mit erhobener
Stimme.
»Sicher.« Sie nickte lächelnd. »Aber es macht Spaß,
loszufahren und was zu suchen.«
Ich musste lächeln, teils in ihre Richtung, teils
zur Straße hin. »Das hab ich den Leuten auch immer gesagt. Ich war
sechs Jahre im Regenwald und hab Sachen gesucht.«
»Was für Sachen?«
»Vögel, Pflanzen. Kontakte. Das war erblich
bedingt. Bei meinem Großvater war es genauso. Und bei meinem Vater
auch. Es sind sogar Käfer nach den beiden benannt worden, hast du
das gewusst? Da konnte ich doch nicht zurückstehen.«
Ich musste lachen, und Katya lachte mit.
»Und was hast du gefunden?«
Ich zuckte die Schultern. »Nicht viel. Mit
fünfundzwanzig hab ich einen Aufsatz über eine bestimmte
Laubfroschart geschrieben, die durch Abholzungen fünfhundert
Kilometer flussaufwärts schwer in Mitleidenschaft gezogen wurde.
Das hat damals ziemlich viel Staub aufgewirbelt, jedenfalls in
Fachkreisen. Ich hab auch ein paar Vorträge darüber gehalten. Nur,
abgeholzt wurde weiter. Als ich das nächste Mal hinkam, waren keine
Frösche mehr da.«
Katya sah mich an, durch meinen Ton
verunsichert.
»Aber du hattest doch gute Arbeit geleistet,
oder?«
»Wissenschaftlich schon. Den Fröschen hat das aber
nicht viel genützt.« Ich schwieg einen Moment, weil ich nicht
wusste, wie viel ich erzählen sollte. »Damals fingen, glaube ich,
die Probleme zwischen Gabriella und mir an. Wir hatten uns dort
kennen gelernt. Wir haben zusammengearbeitet und
Regenwaldschutzgebiete eingerichtet. Aber nach der Sache mit den
Fröschen hab ich mich gefragt, ob wir nicht alles falsch machten.
Wir haben nur die Symptome behandelt. Die Krankheit selbst war so
viel größer: Bevölkerungswachstum, Konsumnachfrage, all so was. Ich
hab angefangen, den Leuten zu erzählen, dass Schutzgebiete nicht
die Lösung sind, sondern nur Heftpflaster für unser Gewissen. Wir
hätten die ganzen Gelder dafür verwenden sollen, die Ursachen zu
bekämpfen.«
Katya sah mich unter ihrem Pony hervor unverwandt
an. Mit einer Hand hielt sie sich den Mantel am Hals zu, den
anderen Arm hatte sie um ihren Oberkörper geschlungen.
»Und deswegen habt ihr euch zerstritten? Ihr wart
doch auf derselben Seite...«
»Nicht nur deswegen. Da kam eins zum anderen...«
Ich wollte noch mehr sagen, aber ich war zu zögerlich oder zu
schüchtern oder zu sehr aus der Übung. »So ist es ja immer,
nicht?«, schloss ich lahm. »Jedenfalls haben sich unsere Wege
getrennt. Gabriella ist im Regenwald geblieben, und ich hab mich
mit meinen Notizbüchern aufgemacht, um die Überreste ausgestorbener
Vögel aufzuspüren. Ich dachte mir, wenn wir sie ausrotten, dann
sind wir es der Zukunft schuldig, wenigstens Beweise ihrer Existenz
aufzubewahren, zu zeigen, wie sie ausgesehen haben.« Ich lächelte.
»Ein bisschen manisch war ich schon. Es war eine schwierige Zeit.
Nach ein paar Jahren hab ich mich wieder beruhigt und bin hierher
zurückgekehrt, um mit mir ins Reine zu kommen. Aber das ist alles
lange her.«
Ich lächelte ein wenig kläglich, und bevor Katya
etwas sagen konnte, fing es wieder an zu regnen, und die
Scheibenwischer beendeten das Gespräch.
Die Mittagszeit war schon fast um, als wir nach
Stamford hineinfuhren. Noch immer von Optimismus beflügelt, fanden
wir nahe dem Bahnhof ein Pub mit einem Schild, auf dem »Kleine
Gerichte, Snacks, Übernachtung mit Frühstück« stand. Die Frau
drinnen wirkte ein wenig überrascht, als wir zwei Zimmer verlangten
- ob sie Mutmaßungen über unsere Beziehung anstellte oder sich
einfach nur wunderte, dass überhaupt jemand hier übernachten
wollte, war nicht zu erkennen. Wir ließen unsere Taschen vorerst
unausgepackt, gingen zum Essen in ein Café und machten Pläne. Bevor
das Essen kam, rief ich noch in der Universität an, um zu sagen, wo
ich zu erreichen war, für den Fall, dass Gabriella mich sprechen
wollte.
Noch immer von einer Welle der Zuversicht getragen
und von zwei Tassen starken Kaffees beflügelt, kamen wir überein,
uns zu trennen. Katya wollte ins Stadtarchiv, ich würde mir bei der
Touristeninformation den Weg zum Old Manor erklären lassen. Dort
stellte sich jedoch heraus, dass die Sache nicht so einfach war.
Das Büro war genau so, wie ich es mir vorgestellt hatte: jede Menge
falsches Kiefernholz, und ein Geruch nach Putzmitteln und billigem
Teppichboden. An der Wand stand das übliche Regal mit all den
Faltblättern und Broschüren. Dort fing ich an, halb in der
Erwartung, auch gleich zu finden, wonach ich suchte. Mein
Herumstöbern förderte jedoch nichts Brauchbares zutage, und so
wartete ich höflich, bis ein potenzieller Bahnreisender, der die
Frau hinter der Theke mit Beschlag belegt hatte, endlich ging. Sie
sah hoch und fing meinen Blick auf, als er die Tür hinter sich
zuknallen ließ.
»Für Zugverbindungen bin ich nicht zuständig«,
sagte sie mit einem melancholischen Lächeln. »Ich wollte nur
helfen.«
Als ich ihr sagte, dass ich auf der Suche nach
einem Haus namens Old Manor sei, verschwand das Lächeln, und sie
sah mich an, als wollte ich sie auf den Arm nehmen.
»Was soll das?«, fragte sie. »Vor ein paar Tagen
war jemand hier, der wollte genau das Gleiche wissen.«
Eine leise Beunruhigung beschlich mich.
»Ist das so ungewöhnlich?«
»An sich nicht«, erwiderte sie, noch immer
argwöhnisch. »Nur bin ich mir nicht sicher, ob es ein Old Manor
überhaupt gibt.«
Ich weiß nicht, wie enttäuscht ich dreinschaute,
jedenfalls sah sie sich veranlasst, mir von dem anderen Besucher zu
erzählen. Sie illustrierte ihren Bericht mit einer Reihe von
Faltblättern, und bald hielt ich ein Dutzend Prospekte von alten
Häusern der Umgebung in der Hand.
»Das hier könnte es am ehesten sein.« Sie zeigte
auf eines von ihnen. »Das Old Grange. Überwiegend Tudor. Gleich
nördlich von hier.«
Ich nickte höflich. »War dieser Besucher ziemlich
groß? Ein Skandinavier?«, fragte ich und glaubte die Antwort schon
zu wissen.
»Nein, überhaupt nicht.« Wieder sah sie mich so
seltsam an. »Er war Amerikaner. Sehr höflich. Mit Brille - so
kleine runde Gläser. Schon älter. Sagen Sie mir jetzt, was das
alles soll?«
Ich erklärte ihr, dass ich die Geschichte einer
Familie namens Ainsby zurückverfolgte, die Anfang des zwanzigsten
Jahrhunderts in der Gegend gelebt habe. Der Name sagte ihr nichts,
aber sie beschrieb mir den Weg zum Stadtarchiv. Den habe sie auch
dem höflichen Amerikaner beschrieben.
Es regnete, von kurzen Pausen abgesehen, fast den
ganzen Tag. Um sechs zogen Katya und ich uns ins Bahnhofspub
zurück. Bei Dunkelheit sah es dort sehr viel besser aus: Im Kamin
brannte ein Gasfeuer, und dank der vielen kleinen roten
Lampenschirme sah man die Flecken an der Wand nicht so. Es war
herrlich warm hier nach dem kalten Regen des Lincolnshire-Abends
draußen, und wir gingen sogar das Risiko ein, an der Bar etwas zu
essen zu bestellen. Dann setzten wir uns mit einem großen Glas
Rotwein und einem Pint dunklem Bier aus der Gegend in eine Ecke
neben dem Kamin.
Im Stadtarchiv hatte Katya erfahren, was ich schon
befürchtet hatte. Für das Jahr 1914 und - so weit man es
überblicken konnte - auch für keinen anderen Zeitraum war
irgendetwas über eine Familie des Namens Ainsby in oder um Stamford
zu finden. Katya hatte drei Stunden und das gute Zureden zweier
Bibliothekarinnen gebraucht, um sich mit diesem Umstand abzufinden.
Wir hatten entschieden die nichtigste Niete gezogen, die man sich
vorstellen konnte.
Trotzdem verzehrten wir recht vergnügt unser Essen,
ergingen uns in wilden Spekulationen und versuchten, zwei und zwei
zusammenzuzählen. Waren die Fotokopien eine Fälschung? Das mochten
wir beide nicht glauben. Von Hans Michaels’ Zeichnung abgesehen,
waren sie der einzige Anhaltspunkt, den wir hatten. Wir nahmen uns
vor, es am nächsten Tag noch einmal zu versuchen, ein bisschen
tiefer zu graben. Danach überkam uns plötzlich eine gewisse
Befangenheit, und als Katya beschloss, früh schlafen zu gehen,
blieb ich mit einem weiteren Pint zurück. Ich erwog gerade die
Möglichkeit eines dritten, als ein kalter Luftzug mich aufblicken
ließ. Ein rundlicher kleiner Mann hatte das Pub betreten; nach dem
Zustand seines Regenmantels zu schließen, hatte sich das Wetter
draußen inzwischen noch weiter verschlechtert. Es wurde von Minute
zu Minute angenehmer in der Bar, und das Gasfeuer neben mir loderte
und zischte herzerwärmend. Ich holte die Prospektesammlung aus der
Touristeninformation hervor und breitete sie auf dem Tisch
aus.
»Die bringen alle nichts«, ertönte plötzlich eine
amerikanische Stimme. Der Neuankömmling war an meinen Tisch
getreten und schüttelte das Wasser von seinem Mantel.
»Bitte?«, fragte ich so kühl, wie man nur fragen
kann, wenn man bei der Lektüre eines Prospekts, in dem von
Koboldtälern und Elfengrotten die Rede ist, unterbrochen
wird.
»Das ist alles nicht das, was Sie suchen.« Der Mann
legte seinen Mantel über einen Stuhl. »Sie sind doch Fitzgerald«,
fügte er hinzu. »Macht’s Ihnen was aus, wenn ich mich zu Ihnen
setze?«
Er rückte bereits einen Stuhl heran. Unter seinem
Mantel war ein dreiteiliger Anzug aus Wollstoff zum Vorschein
gekommen, wie ihn Landärzte in den 1930er Jahren trugen. Er hatte
graues, leicht gewelltes Haar und eine dicke, altmodische Brille,
was ihn geradezu absurd unamerikanisch wirken ließ.
»Potts mein Name«, sagte er und streckte mir die
Hand hin. »Ich habe in der Universität angerufen, und man hat mir
mitgeteilt, dass ich Sie hier finden würde. Ich wohne im The George
in der High Street.«
Während ich das zur Kenntnis nahm, zog er einen
Stapel Prospekte, ähnlich meinen eigenen, aus der Tasche. Mit einem
Glimmen in den Augen legte er sie der Reihe nach auf den
Tisch.
»The Old Grange? Nein. Hawsley Manor? Nein. Thurley
Hall? Schon gar nicht. Radnors? Herrje, da machen sie Käse.
Unmöglich. Pulkington Hall? Nein. Und Pixie Glen« - er schauderte
-, »Sie können ja zu Ihren Kobolden fahren, wenn Sie wollen, aber
sagen Sie nachher nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt.«
Ich legte meine Broschüren auf seine.
»Ich glaube, Sie fangen besser noch mal von vorn
an. Wer sind Sie?«
»Potts.« Er zwinkerte mir zu wie ein Onkel, der ein
Geheimnis verrät. »Ich bin aus demselben Grund hier wie Sie, nehme
ich an.«
»Sie suchen einen verschollenen Vogel?«
»Bitte sehr.«
Er fasste in seine Jacke und überreichte mir eine
Karte. Sie verriet nicht viel.
Emeric Potts
Kunst, Antiquitäten, Varia
Kunst, Antiquitäten, Varia
»Sie sind Kunsthändler?« Ich sah ihn mir genauer
an.
Er schob die Lippen vor, als wollte er diesen
Gedanken fortpusten.
»Nicht direkt. Aber ich mache mit Kunsthändlern
Geschäfte, könnte man sagen. Ich mache die Sachen ausfindig, die
sie verkaufen wollen. Sie suchen einen verschollenen van Dyke? Eine
Erstausgabe von Ulysses? Dann bin ich Ihr Mann.«
Ich gab ihm die Karte zurück.
»Liegt das hier nicht etwas außerhalb Ihrer
sonstigen Aktivitäten?«
»Oh, ich würde es eher als natürliche
Diversifikation bezeichnen. Man könnte ja sagen, die Taxidermie ist
eine Fortsetzung der Bildhauerei mit anderen Mitteln.«
»Dann kennen Sie jemanden, der den Ulieta-Vogel
kaufen will?«
Potts verzog gequält das Gesicht.
»So direkt, Mr. Fitzgerald... Sagen wir, ich bin
sehr daran interessiert, ihn zu finden. Und Sie können mir am
ehesten dabei helfen, habe ich gehört. Ich habe Sie in den letzten
Tagen mehrmals anzurufen versucht, aber Sie waren wohl nie
da.«
Ich musterte sein Gesicht; ich war skeptisch.
»Und was machen Sie hier in Stamford? Sie suchen
doch sicher nicht nur mich.«
Er fasste von neuem in die Tasche und holte ein
zusammengefaltetes Blatt Papier hervor.
»Haben Sie das gesehen?«, fragte er.
»Hm, ich weiß nicht...«, log ich. Ich hatte die
Fotokopie, die er vor mich hinlegte, sofort erkannt. Es war John
Ainsbys Brief.
»Natürlich haben Sie.« Er lehnte sich zurück und
zog die Kopie zu sich heran. »Ich hab’s Ihnen ja selbst
geschickt.«
Ich muss gestehen, ich war überrumpelt, und das sah
man mir wohl auch an.
»Was glauben Sie, von wem das kommt, Mr.
Fitzgerald? Von Karl Anderson?«
»Nein. Das heißt...«
Er kicherte leise in sich hinein. »Jedenfalls ist
es Andersons Brief. Deswegen ist er so schnell hergekommen, um den
Vogel zu suchen.«
»Er hat gesagt, er wollte sowieso kommen. Wegen
irgendwelcher Pflanzenmalereien. Das mit dem Ulieta-Vogel macht er
nur nebenbei.«
Potts lächelte freundlich, aber ich merkte, dass er
mich durch seine Brille genau beobachtete.
»So, das hat er gesagt? Na ja, wer weiß?« Er nahm
die Brille ab und rieb sie an seiner Weste. Anderson und seine
Motive schienen ihn nicht weiter zu interessieren, doch ich wollte
noch mehr hören.
»Tut mir Leid, aber das macht keinen Sinn. Wieso
sollten Sie mir den Brief zukommen lassen?«
Er zuckte die Schultern, als wollte er damit
andeuten, dass die Antwort doch auf der Hand liege.
»Ich dachte, ich halte Ihnen den Brief mal vor die
Nase und sehe, was passiert. Sie sind der Fachmann, Mr. Fitzgerald.
Etwas wie diesen Vogel zu finden würde Ihnen viel bedeuten, hat man
mir gesagt. Und da habe ich mir ausgerechnet, dass Sie John Ainsbys
Brief entweder ignorieren würden - dann hätte ich gewusst, dass es
sich um eine Sackgasse handelt -, oder aber dass Sie schleunigst
hierher kommen würden, und dann könnte etwas an der Sache dran
sein. Und nun sind Sie da.«
Ganz offensichtlich war er ein Mensch, der gern
redete. Während er sich am Feuer aufwärmte, erzählte er mir, ohne
dass ich ihn dazu ermuntert hätte, noch mehr über den Ainsby-Brief.
Anderson sei anscheinend von einem Professor darauf aufmerksam
gemacht worden, der über den Ersten Weltkrieg forsche.
Ausgestorbene Vögel seien nicht unbedingt das Fachgebiet des
Norwegers, aber er habe vom Ulieta-Vogel gewusst und die Bedeutung
des Briefes sofort erkannt. Als Erstes habe er Ted Staest eine
Kopie davon vorgelegt, und die beiden Männer seien zu einer Art
Abmachung gelangt, was den Wert des Vogels angehe - was genau sie
vereinbart hatten, darüber äußerte sich Potts allerdings nur vage.
Erst als Gerüchte über den Vogel durchsickerten, hatte sich Potts
eine eigene Kopie des Briefes beschafft.
»Wenn auch nicht über offizielle Kanäle, wenn Sie
verstehen, Mr. Fitzgerald.«
»Sie meinen, Sie haben jemanden bestochen?«
Er wirkte gekränkt. »Bitte, Mr. Fitzgerald, wir
müssen ja nun nicht in die Details gehen. Ich habe eine Kopie, das
soll genügen. Und Sie haben jetzt auch eine.«
Er zeigte auf das Blatt.
»Ein hochinteressanter Brief, nicht wahr? Die
Verbindungen zu Cook und Banks, das einmalige Objekt... Und
außerdem war er nach Lincolnshire adressiert, Banks’ Grafschaft.
Alles sehr viel versprechend. Eines allerdings... ›Ich möchte bei
meiner Rückkehr nicht erleben, dass dein kleiner Vulpes ihn mir
entrissen hat!‹ Was halten Sie davon? Konkurrenz für den
Vogel?«
Ich zuckte die Schultern. »Vulpes heißt
Fuchs - wahrscheinlich meint er jemanden, der schlau ist und ein
bisschen räuberisch. Es klingt liebevoll, wie er das sagt, finden
Sie nicht? Ich habe mich gefragt, ob es sich vielleicht um einen
Verehrer seiner Schwester handelt, jemand, der um sie herumstrich,
während er weg war.«
»Ein Verehrer. Ein Liebhaber...« Er spielte mit dem
Gedanken. »Hm, ja. Interessant...« Seine Augen umwölkten sich
gedankenvoll hinter den Brillengläsern, aber gleich darauf trug er
wieder seine unerschütterliche Miene zur Schau und erzählte mir,
wie ihn der Ainsby-Brief erst nach London und dann nach Stamford
geführt hatte. Doch in Stamford hatte er eine Niete gezogen. Keine
Spur von den Ainsbys, keine Spur vom Old Manor, kein ausgestopfter
Vogel. Und keine Spur von Anderson.
»Das hat mich am meisten beunruhigt«, vertraute er
mir an. »Ich dachte mir, wenn ich nicht da bin, wo Anderson ist,
dann bin ich am falschen Ort. An meinem vierten Tag hier ist mir
dann im The George ein Mann aufgefallen.« Er nahm eine Karte aus
seiner Brieftasche.
Edward Smith
Diskretion garantiert
63 North Hill Road, London N17
Diskretion garantiert
63 North Hill Road, London N17
»Dieser Smith arbeitet für Anderson, das hat er
auf etwas Druck hin schnell zugegeben. Scheint sich seiner Sache
ziemlich sicher zu sein. Hat angedeutet, das Ganze sei mehr oder
weniger schon gelaufen. Aber trotzdem: Nachdem ich ihn kennen
gelernt hatte, war mir wohler. Und noch wohler wäre mir, wenn ich
wüsste, wo Anderson ist.«
»Was macht Smith hier?«
Potts zuckte die Schultern.
»Fährt früh weg, kommt spät zurück. Mit seinem
Auto. Einmal wollte ich ihm folgen, aber er muss mich gesehen
haben. Sechseinhalb Stunden sind wir in der Grafschaft
herumgekurvt. Die Straßen hier - o Gott!«
Er lehnte sich zurück und sah mich freundlich
an.
»Ohne Smith hätte ich längst aufgegeben, denn wenn
hier etwas zu finden ist, dann finde ich es nicht, und das Wetter
ist eine Katastrophe. Aber an dem Punkt kommen Sie ins Spiel. Wir
können doch genauso gut offen miteinander reden.« Er beugte sich
verschwörerisch und fast ein wenig verlegen vor. »Sie haben Recht,
Mr. Fitzgerald: Die Sache liegt nicht auf meiner Linie. Aber ich
bin ungeheuer scharf darauf, den Vogel zu finden, bevor Anderson es
tut. Ich schlage Ihnen deshalb Folgendes vor: Sie beschaffen mir
den Vogel, und dann gehen wir zusammen zu Staest. Sie können ruhig
mit ihm direkt verhandeln. Alles, was ich verlange, ist ein kleiner
Anteil, sagen wir fünf Prozent. Als Vermittlungsgebühr, wenn Sie so
wollen.«
Da dämmerte mir allmählich, was Potts mit seinem
onkelhaften Benehmen in Wahrheit bezweckte. Die nächsten zwanzig
Minuten fragte er mich sehr behutsam und überaus höflich über den
Verbleib des Ulieta-Vogels aus. Er hätte dafür nicht halb so viel
Zeit investieren müssen, aber wie Anderson schien er nicht glauben
zu wollen, dass ich so wenig wusste. Nicht einmal mein leeres Glas
konnte seinen Fragen Einhalt gebieten, bis ich schließlich darauf
bestand, an die Bar zu gehen und mir noch ein Pint zu holen. Er
selbst wollte nichts mehr trinken, und als ich zurückkam, zwängte
er sich gerade in seinen Regenmantel. Er gab mir die Hand.
»Denken Sie an meine Worte, Mr. Fitzgerald. Mein
Job hier ist, den Vogel vor Anderson aufzuspüren. Sollten Sie aber
schneller als wir beide sein, vergessen Sie nicht, dass ich Ihnen
gern helfe, einen Höchstpreis dafür herauszuschlagen.«
Als er weg war und ich schweigend mein Pint trank,
war ich mir sicher, dass bei der ganzen Sache irgendetwas im Spiel
war, was ich nicht ganz begriff. Potts war zwar durchaus erpicht
darauf, den Vogel an sich zu bringen, aber wie Anderson schien es
ihn nicht allzu sehr zu kümmern, ob er etwas daran verdiente. Ging
es den beiden wirklich nur darum, Ted Staest einen Gefallen zu tun?
Wie viel war das Wohlwollen eines kanadischen Milliardärs wert?
Oder war ich hier auf dem Holzweg? War der Vogel so unvorstellbar
wertvoll, dass sie mich gern meinen Preis nennen ließen, weil sie
wussten, dass ich mir seinen wahren Wert auch nicht annähernd
vorstellen konnte? Ich überprüfte diese Theorie eine Weile und
verwarf sie dann. Der Vogel konnte einfach nicht so viel wert sein.
Es sei denn, diese DNA-Geschichte war sehr viel lukrativer, als ich
dachte.
Vor mir auf dem Tisch lagen die beiden
Prospektestapel, Potts’ und meiner. Ich sah sie noch einmal durch -
andere Anhaltspunkte hatte ich schließlich nicht.
Erst viel später, als ich die Prospekte einstecken
wollte, stieß ich wieder auf die Kopien, die ich im Natural History
Museum für Katya gemacht hatte, die beiden Blätter über Joseph
Banks’ Geliebte. Ich sah mich um. Es war noch warm im Raum, und die
Bar war noch besetzt. Es wäre schade gewesen, schon schlafen zu
gehen. Also nahm ich wieder Platz und las die Kopien erst jetzt
genauer.
Der Tod ging um auf der Endeavour, als sie
sich endlich heimwärts wandte. Nachdem sie Batavia verlassen
hatten, schien die Luft von Fieber erfüllt zu sein, und fast
täglich verloren sie Leute. Beinahe wäre Banks selbst unter ihnen
gewesen, und auch Solanders Gesundheit war angegriffen.
Dreiundzwanzig Mann starben zwischen Batavia und dem Kap der Guten
Hoffnung, und als das Schiff atlantische Gewässer erreichte, waren
Parkinson, Monkhouse und Molineux tot und mit ihnen ein Drittel der
Besatzung. Die Überlebenden blickten nordwärts und hofften, die
Heimat wiederzusehen.
Doch die letzten Tage einer Reise können die
schwersten sein. Auf See hatte sich jeder an eine Ordnung zu
halten, hatte klar umrissene Pflichten zu erfüllen. Man kannte die
täglichen Abläufe, man hatte seine Befehle, und man hatte zu jeder
Zeit ein Ziel vor sich. Doch als das Land näher rückte, schmolzen
diese Gewissheiten dahin, und für manch einen versprach die
Rückkehr schwierig zu werden. Je näher sie dem Ärmelkanal kamen,
desto häufiger hielten die Männer in ihrer Arbeit inne und suchten
den Horizont ab. So auch Banks. Schon jetzt, lange bevor sie London
erreichten, wusste er, dass die Rückkehr von großer Tragweite sein
würde. Sie hatten Dinge gesehen und aufgezeichnet, welche die
Vorstellungen derer, die sie ausgesandt hatten, weit überstiegen.
Er brachte eine Sammlung mit - Tiere, Pflanzen, Artefakte -, wie
man sie nie zuvor gesehen hatte. Und er war zu jung, um die
Vorfreude auf den Triumph nicht zu genießen, war zu sehr Mensch, um
sich dadurch nicht ein wenig zu verändern.
Trotz allem aber war er unruhig. Er beneidete Cook,
weil die Reputation des Mannes aus Yorkshire gesichert war, und er
beneidete ihn um die Ehefrau, die zu Hause auf ihn wartete, darum,
dass er so unerschütterlich wusste, wo er hingehörte. Was ihn
selbst anging, so merkte Banks, dass sich die Bilder der Heimat,
die ihm in der Südsee so teuer gewesen waren, kaum merklich
veränderten, je mehr er sich der Realität näherte.
Es fiel ihm leicht, sich vorzustellen, wie er in
den Londoner Salons von seiner Reise erzählen und mit den großen
Philosophen der Zeit von gleich zu gleich verkehren würde.
Vielleicht hatte er dieses Bild seit langem in sich getragen, so
tief verborgen, dass nicht einmal er selbst es betrachten konnte,
bis er seines Erfolges sicher war. Versuchte er jedoch, sich
Harriet in dieser Welt vorzustellen, verblasste das Bild.
Unbehaglich saß sie dann neben diesen Männern ernsthafter
Wissenschaft, und er schämte sich dafür, dass er bei dem Gedanken
an sie nicht ihr Gesicht vor sich sah; vielmehr schlug sein Herz
höher bei der Erinnerung an einen Hals, so glatt wie helles
Porzellan, an seine Fingerspitzen, die sacht die Linien weicher
nackter Schultern nachzeichneten. Wollte er sich ihre Stimme oder
ihr Lächeln ins Gedächtnis zurückrufen, waren es diese Bilder, die
fortwährend wiederkehrten. Irritiert wischte er sie beiseite bis zu
dem Tag, an dem er Harriet selbst sehen würde.
Als die Endeavour endlich in Deal vor Anker
ging, waren sie fast drei Jahre fort gewesen.
Ihre Rückkehr wurde zu einem noch größeren
Ereignis, als er auch nur hätte ahnen können, und sein Empfang in
London überstieg seine kühnsten Träume. Binnen weniger Tage wurde
er zum öffentlichen Gesicht der Expedition, er, der junge Mann, der
Kühnheit und Abenteuerlust mit leidenschaftlichem Wissensdrang
vereint hatte. Während Cook sang- und klanglos von der Routine der
Nachbesprechungen bei der Admiralität verschluckt wurde, trug Banks
dieselbe Botschaft in die vornehme Gesellschaft und eröffnete deren
Einbildungskraft neue Welten. Hatte er befürchtet, die
Einzigartigkeit dessen, was er erlebt hatte, würde nicht ohne
weiteres gewürdigt werden, so hatte er sich getäuscht. Und wenn die
Bilder und Gemälde der neu entdeckten Orte nicht ausreichten - die
dort gesammelten Objekte waren allein schon Wunder genug. Banks
hatte Pflanzenproben gesammelt, welche die Botaniker auf Jahre
hinaus faszinieren sollten, und auch anderes, Spektakuläreres, galt
es zu beschreiben. Man konnte schwerlich von Pflanzen und deren
Vermehrung sprechen, wenn die Zuhörer Aussehen und Verhalten des
Kängurus bestaunen wollten. Banks’ Berichte von all dem Neuen, all
den Wagnissen machten ihn berühmt, atemlos eilte er von Salon zu
Salon, von Speisezimmer zu Speisezimmer und konnte kaum glauben,
welche Ehren ihm zuteil wurden.
Anfangs trieb er auf dieser Woge des Ruhms wie ein
Boot auf dem sturmgepeitschten Meer, rastlos, von Welle zu Welle
gehoben, ohne sein Ziel oder sein Schicksal noch in der Hand zu
haben. Fünf Tage lang fand er sich nicht bei Harriet Blosset ein,
dann sandte sie ihm einen gekränkten, vorwurfsvollen Brief, in dem
sie sich über die so sichtbare Vernachlässigung beklagte. Da ging
er schließlich zu ihr, jeder fand den anderen verändert, und es
wurde eine peinliche, unbefriedigende Begegnung. War Banks früher
locker und amüsant gewesen, so erschien er ihr nun angespannt und
unsicher, auch interessierten Gespräche über ferne Inseln sie
weniger als solche über eine Zukunft mit ihm in London und auf dem
Land. Sie begrüßte ihn kühl, ohne zu ahnen, wie reizvoll gerade die
Offenheit gewesen war, mit der sie ihm einst ihre Gefühle gezeigt
hatte. Diese stolze, grollende Harriet war eine Fremde für ihn. Im
Verlauf der Unterhaltung erschien sie ihm weniger beeindruckend,
als er sie in Erinnerung hatte, das cremige Weiß ihrer Haut weniger
vollkommen, ihr Gang weniger anmutig und natürlich. Gern hätte er
sie berührt, um die Weichheit wieder zu spüren, deren er sich
entsann, aber ihr förmliches Betragen ermutigte ihn nicht dazu.
Nach einer quälenden, ergebnislosen halben Stunde entschuldigte er
sich. Er sei nicht Herr seiner Zeit, sagte er, und in wenigen Tagen
müsse er nach Revesby und sich um die Verwaltung seiner Güter
kümmern. Nach seiner Rückkehr, so versprach er, werde er ihr erneut
seine Aufwartung machen, dann würde Zeit sein, über die Zukunft zu
sprechen.
Vielleicht setzte ihm noch der Trubel der Londoner
Gesellschaft zu, vielleicht lag es auch an den Strapazen seiner
Reise, dass er während der Fahrt nach Revesby kaum an seinen
letzten Aufenthalt dort dachte. Seine Gedanken weilten bei den
Verbesserungen, die er möglicherweise vornehmen würde, bei den
Entscheidungen über Pacht und Zins, die zu treffen waren. Es
erstaunte ihn, dass ihn bei seiner Ankunft Menschen und Gesichter
grüßten, an die er drei Jahre lang nicht mehr gedacht hatte, alle
lächelnd, alle bemüht, ihm zu Gefallen zu sein. Vorbehalte von
einst hatte sein neu erworbener Ruhm und Reichtum hinweggefegt. Das
ließ ihn innehalten und zurückdenken, und erst dieser Empfang in
Revesby brachte ihn wirklich nach Hause. Doch inmitten all der
Willkommensgrüße erlebte er auch einen traurigen Moment, als er
erfuhr, dass Dr. Taylor zwei Jahre zuvor gestorben war. Seine
Familie, so berichtete man ihm, sei verarmt, sie habe Revesby wenig
später verlassen und sei zu Mrs. Taylors Verwandten nach
Clerkenwell gezogen. Miss Taylor, die ältere der beiden Töchter,
habe einen Kuraten geheiratet, ihre erst siebzehnjährige Schwester
einen Mann von vierzig, der ein kleines Gut in den Fens
besitze.
Wahre Trauer erfüllte Banks bei dieser Nachricht,
doch er fand Trost darin, dass seine Güter während seiner
Abwesenheit gut verwaltet worden waren. Drei Tage saß er über
Wirtschafts- und Pachtbüchern, dann stellte er befriedigt fest,
dass nirgends größere Versäumnisse zu beklagen waren, die der
Abhilfe bedurft hätten. Anfangs hielt er sich lange Stunden im
Dämmer der Abtei auf, doch an den Nachmittagen ging er mit
Nicholson, seinem Verwalter, in die Sonne hinaus, um sich
persönlich vom Stand der Dinge zu überzeugen. Die Pachtgüter, die
Behausungen der Leute, der Wildpark und die Gärten - alles wurde
inspiziert und für zufriedenstellend befunden.
Am Nachmittag des sechsten Tages, als er mit
Nicholson von einem solchen Gang zurückkam, nahmen sie den Wald
zwischen der Abtei und dem Dorf in Augenschein. Es war ein heißer
Spätsommernachmittag, und beiden war der Schatten unter den Bäumen
willkommen. Nach einigen Minuten blickte Banks sich um, als sei er
überrascht, sich hier wiederzufinden. Mit Nicholson an seiner Seite
hatte er nur an Geschäftliches gedacht, und es war wie ein Schock,
als er erkannte, wo er sich befand.
»Hier entlang, mit Verlaub«, sagte er leise zu
Nicholson und bog nach rechts ab. »Ich glaube, dort vorn ist eine
kleine Lichtung.«
Der Verwalter folgte ihm, und sie gelangten an eine
Stelle zwischen den Bäumen, an der sich das Blätterdach teilte und
die Sonne durchließ. Banks lächelte still vor sich hin.
»Wie wenig sich die Dinge verändern«, murmelte er.
»Es ist seltsam, nach so vielen Jahren die Pfade und selbst die
Form bestimmter Bäume genauso vorzufinden wie damals, als ich
zuletzt hier stand.«
Nicholson sah sich um. »Der Wald verändert sich nur
langsam, das lässt sich nicht bestreiten, Sir. Eines Tages werden
vielleicht Ihre Kinder diese Wege entlanglaufen und glauben, sie
seien die Ersten, die sie entdecken.«
Banks nickte. Er mochte Nicholson.
»Sagen Sie«, begann er, »als ich das letzte Mal
hier war, ist eine junge Dame in diesen Wäldern umhergestreift, als
wären es ihre eigenen. Sie wohnte mit ihrem Vater in dem Haus am
Ende des Dorfes. Er war so etwas wie ein Freidenker, immer
skandalumwittert. Und er sprach gern dem Alkohol zu und beleidigte
seine Nachbarn.«
»Ja, Sir, ich weiß, wen Sie meinen. Im Frühjahr vor
zwei Jahren ist er gestorben. Ein unbeliebter Herr hier in der
Gegend.«
»Und die Tochter? Wo ist sie jetzt? Ist sie
verheiratet?«
»Sie ist weggegangen, Sir, wohin weiß ich nicht.
Aber verheiratet ist sie ganz gewiss nicht. Nicht, wenn es stimmt,
was man sich erzählt.«
Banks hatte auf der Lichtung umhergeblickt, doch
bei Nicholsons Worten hielt er inne und sah den Mann neben sich
scharf an.
»Worauf wollen Sie hinaus?«
»Nun, Sir«, erwiderte der Verwalter unbehaglich,
»ich gebe nicht vor, irgendetwas mit Sicherheit zu wissen, aber die
Frauen im Dorf waren immer der Meinung, dass sie als Tochter ihres
Vaters... Sie wissen ja, Sir. Aus einer solchen
Familie...<
Hatte er gehofft, sein Herr werde sich angesichts
seiner Verlegenheit erbarmen, so sah er sich enttäuscht. Banks’
fragender Blick zwang ihn fortzufahren.
»Nun ja, es wurde viel geredet, Sir. Darüber, wohin
sie ging und mit wem. Von einer Heirat hat man nichts
gehört.«
»Also, wirklich, Nicholson! Das klingt wie vulgärer
Klatsch.«
»Ich weiß auch nicht. Aber ich habe sie selbst
gesehen, Sir, ein einziges Mal, seit sie Revesby verlassen hat. In
Louth, am Markttag. So weit fahre ich sonst nicht, aber ich wollte
mir ein paar Pferde anschauen. Ich konnte sie deutlich erkennen, in
der Nähe der Kirche. Sie war sehr elegant gekleidet, Sir; in
Revesby, als ihr Vater noch lebte, hat man sie nie so
gesehen.<
Banks sah auf seine Füße hinab, während er diese
Worte auf sich wirken ließ.
»War sie allein?«
»Nein, Martha war bei ihr, Sir, die Frau, die ihren
Vater gepflegt hat.«
Banks blickte mit ernster, ein wenig strenger Miene
auf.
»Danke, Nicholson, das ist sehr interessant. Nur
führt es uns weit ab von einer angemessenen Schätzung der
Holzbestände hier …<
Damit kehrten die beiden Männer auf den Weg zur
Abtei zurück, um ihre Inspektion fortzusetzen, und auf der Lichtung
blieben nur der Sonnenschein und zwei kleine Vögel zurück, die
eilig auf den Waldboden hinabflatterten.
Weitere drei Tage vergingen, ehe Banks Zeit fand,
nach Louth zu reiten. Viele Male sagte er sich, es gebe keinerlei
Anlass für einen solchen Besuch, doch das hielt ihn nicht ab. Ihm
war bewusst, dass die Geschicke seiner früheren Nachbarn ihn nichts
angingen, aber sein Aufenthalt im Wald hatte Erinnerungen
wachgerufen, und in nachdenklicher Stimmung lenkte er sein Pferd
auf den Marktplatz von Louth. Mit gefurchter Stirn saß er ab.
Er sprach bei Freunden vor und erkundigte sich nach
ihr. Sie waren hocherfreut, ihn zu sehen, und nötigten ihn zum Tee,
zu einem Glas Wein oder zum Essen, doch keiner konnte ihm Auskunft
geben. Als Nächstes versuchte er es bei einem Freund seines Vaters,
einem Friedensrichter, der die Stadt und deren Umgebung besser
kannte als irgendjemand sonst. Banks’ Frage schien ihn zu
befremden.
»Höchstwahrscheinlich ist sie verheiratet«, meinte
er. »Wahrscheinlich kenne ich sie unter einem anderen Namen. Du
warst zu lange fort, Joseph, da ist vieles nicht mehr so, wie es
einmal war. Vermutlich ist sie inzwischen Mutter zweier strammer
Knaben. <
»In der Tat.« Banks lächelte unsicher. »Es war auch
nur so ein Gedanke. Wäre Ihnen ihr Aufenthalt bekannt, hätte ich
ihr gern mein Beileid zum Tode ihres Vaters
ausgesprochen.<
»Gewiss«, erwiderte der Ältere. »Sehr anständig von
dir. Wie wäre es, wenn wir nun von dem vorzüglichen Portwein
kosten, den mir mein Neffe geschickt hat?«
Erst eine Stunde später war Banks wieder frei. Er
wusste nicht recht, wie er weiter vorgehen sollte, und kam sich
wegen der Unbedachtheit seines Unternehmens ein wenig närrisch vor.
Er überquerte den Marktplatz und steuerte auf die Kirche zu, in
deren Nähe Nicholson sie gesehen haben wollte. Es roch nach Hitze
in der Stadt an diesem stickigen Spätnachmittag, und Banks war
froh, eine Weile im kühleren Schatten des Friedhofstores sitzen zu
können. Nach Marktschluss schien die ganze Stadt in der Hitze
verstummt zu sein, und der Kirchhof versprach Schatten und
Abgeschiedenheit. Das Gotteshaus war alt, es hatte einen
eindrucksvollen Turm und war am Fuß der Mauern grün bemoost. Banks
ließ den Blick über die Grabsteine schweifen, von denen einige
schief und von Flechten überzogen, andere rein und markant waren.
Ein lauschiger Ort. Er erhob sich und begann, um die Kirche
herumzuschlendern. Vor einigen der Grabsteine blieb er stehen, um
ihre Inschriften zu lesen, froh, an etwas anderes denken zu können
als an seine Narretei. Dann kehrte er zu einem hohen grünen Stein
zurück, der unweit des Tores ins Gras gesunken war. Er schien noch
älter als die anderen zu sein, und seine Inschrift war nicht zu
entziffern. Banks kauerte sich nieder und kratzte mit den
Fingernägeln an der Flechte, welche die Namen der hier Ruhenden
verbarg. Ganz in sein Tun vertieft, arbeitete er schnell, und ein
erster Name war schon fast lesbar, als er hinter sich eine Stimme
vernahm:
»Lichen pulmonarius.«
Nachmittags, wenn die Hitze auf der kleinen Stadt
lastete und der Kirchhof Frieden versprach, kam sie häufig hierher.
Um diese Stunde war es still hier, und nur selten begegnete sie
einem Menschen.
Als sie jedoch an diesem ganz normalen Nachmittag
im Juni, zu einer Zeit, da es in der Stadt ruhig war, das Tor
durchschritt, sah sie eine Gestalt an einem Grabstein kauern. Sie
erkannte Banks augenblicklich, tief aus ihrem Innern heraus, und
der Schreck machte sie wehrlos. In den Tagen, bevor ihr Vater
starb, hatte sie sich oft ausgemalt, wie es sein würde, wenn sie
ihn wiedersah, sofern es je dazu kommen würde. Aber das war vor
langer Zeit gewesen, in Revesby, bevor ihr Leben sich verändert
hatte. Nie hatte sie sich vorgestellt, ihm hier in Louth zu
begegnen. Selbst nachdem sie aus dritter Hand erfahren hatte, dass
er wohlbehalten zurückgekehrt war, hatte sie ihn aus ihren Gedanken
verbannt. Es war einfacher so.
Als sie ihn nun auf dem Kirchhof erblickte, konnte
sie erst nur schauen. Er wandte ihr den Rücken zu, und seine
Haartracht hatte sich verändert. Sie musste sich irren. Es war zu
unwahrscheinlich, zu unmöglich. Jeder Gedanke an Flucht ging in
ihrem Zögern unter. Keine acht Meter trennten sie von ihm, und der
Drang, ihn zu beobachten, war übermächtig. Sie hörte Martha hinter
sich herannahen und hob die Hand, um ihr Einhalt zu gebieten. Stumm
stand sie da, schaute zu, wie er den grünen Stein bearbeitete, und
erkannte mit einem Mal staunend, was er dort abschabte. Die Worte
entschlüpften ihr, ehe sie überhaupt entschlossen war zu
sprechen.
Beim Klang ihrer Stimme wandte er sich so
unvermittelt um, dass er beinahe das Gleichgewicht verloren hätte.
Sie stand am Friedhofstor, schlank und aufrecht, und sah zu ihm
her. Schatten verbargen sie halb, und doch war ihm der Anblick
sofort vertraut, Gestalt und Gesicht genau so, wie er sie in
Erinnerung hatte. Ein schönes Gesicht, dachte er plötzlich,
obgleich er es nicht immer so gesehen hatte. Dann bewegte sie sich,
das Licht fiel anders auf sie, und im helleren Sonnenschein nahm er
Veränderungen wahr. Sie war blasser als früher, und die
Sommersprossen, nach denen er Ausschau hielt, waren weniger
geworden und nicht mehr so ausgeprägt. Als hielte sie sich zu viel
im Haus auf, dachte er.
Er ging auf sie zu, und sie wich zurück, verharrte
dann aber mit ernster Miene, und ihre Augen begegneten den seinen.
Er öffnete den Mund, setzte zum Sprechen an und wollte ihren Namen
rufen, doch da schüttelte sie den Kopf und hob die Hand.
»Nein, Sie dürfen mich nicht so nennen. Ich trage
hier einen anderen Namen.<
Er blieb stehen, nur einen Schritt von ihr
entfernt.
»Sie sind verheiratet?«
Kaum merklich schüttelte sie erneut den Kopf.
»Nein, ich bin nicht verheiratet. Man kennt mich
hier als Miss Brown.« Unverwandt hielt sie den Blick auf ihn
gerichtet. Er sah sich verlegen um, unschlüssig, was er tun oder
sagen sollte. Dann trafen sich ihre Blicke wieder.
»Unsere Bekanntschaft war sehr kurz, Miss Brown. Es
gibt zu wenige Pflanzenmaler auf der Welt, als dass ich sie
ignorieren dürfte, wenn ich ihnen begegne. Noch weniger als zu der
Zeit, da ich Sie zuletzt sah. Ich würde sehr gern hören, wie es
Ihnen ergangen ist.<
Einen Moment lang senkte sie den Blick.
»Martha«, sagte sie dann mit einer Geste zu der
Bank am Friedhofstor. »Bitte warte dort. Ich habe Mr. Banks etwas
zu sagen.«
Er bot ihr den Arm. Als sie ihn nahm, ließ ihn die
Berührung ihrer Hand innehalten, dann setzte sie sich in Bewegung,
und ein wenig befangen traten sie aus dem Schatten.