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Ein Brief und einige Prospekte
Ich brauchte vierzig Minuten, um meine Universitätstermine der nächsten drei Tage abzusagen, und weitere zwanzig, um mein Motorrad für eine längere Fahrt startklar zu machen. Wieder in der Küche, hatte ich gerade Wasser aufgesetzt, als Katya nach Hause kam. Ich fing sie im Flur ab und machte ihr erst eine Tasse Tee, ehe ich ihr den Umschlag hinschob. Sie öffnete ihn vorsichtig - schließlich konnte sie nicht wissen, ob er gute oder schlechte Nachrichten enthielt.
Zwei Blätter lagen darin. Das erste war die grobkörnige Fotokopie eines Briefumschlags - die George-V.-Marke war deutlich zu erkennen, der Stempel verwischt und nicht zu entziffern, die kräftige schräge Schrift dagegen gut lesbar.
Miss Martha Ainsby,
The Old Manor,
Stamford,
Lincs
Das zweite war die Kopie eines Briefes in derselben schrägen Schrift.
Savoy Hotel, 17. Januar 1915
Meine liebe Martha,
Colonel Winstanley hat Wort gehalten, und ich bin jetzt in London. Leider musste alles sehr schnell gehen, sodass mir keine Zeit mehr blieb, Dir zu schreiben und Dich rechtzeitig zu verständigen, geschweige denn, Dich zu besuchen. Ich bin erst seit etwas über acht Stunden hier, aber die Papiere sind General Winters überbracht worden, und morgen bei Tagesanbruch breche ich auf, um wieder zum Regiment zu stoßen.
Dein Brief ist mir durch ganz Frankreich gefolgt und hat mich erst vor zwei Tagen erreicht. Was für eine traurige Nachricht! Der alte Mann war eine große Persönlichkeit und uns beiden ein guter Freund. Ich bin froh, dass er friedlich einschlafen durfte. Er hat es verdient.
Wie gut, dass du so umsichtig warst, seinen kostbaren Vogel in Sicherheit zu bringen. Du weißt ja, dass ich mich schon immer brennend dafür interessiert habe. Auch ohne die Verbindungen zu Cook und Banks und sogar ohne seine spätere Geschichte wäre er das ungewöhnlichste und romantischste Objekt, das man sich vorstellen kann.
Sobald mir ein längerer Besuch möglich ist, werden wir beide ihn in allen Einzelheiten beschreiben und unsere Beschreibung an das Natural History Museum schicken. Es ist nur recht und billig, dass man dort über die Existenz eines für die Wissenschaft einmaligen Objekts unterrichtet wird. Bis dahin hüte den Vogel wie deinen Augapfel - ich möchte bei meiner Rückkehr nicht erleben, dass dein junger Vulpes ihn mir entrissen hat!
Mein kurzer Blick auf London hat mir unendlich gut getan. Meine Stimmung könnte nicht besser sein, und ich bin sicher, meine Aufgabe wird nicht allzu viel Zeit in Anspruch nehmen, sodass ich bald zu dir zurückkehren kann.
 
Bis dahin grüße alle von mir.
Dein Dich liebender Bruder
John
Als Katya zu Ende gelesen hatte, sahen wir uns über den Tisch hinweg an. Sie saß ganz still, aber ich spürte ihre Anspannung.
»Der Ulieta-Vogel«, sagte sie leise. »Den meint er doch, oder?« Ihr Gesicht war eine einzige Frage.
»Könnte sein.«
Ein wenig ungeduldig sah sie auf den Brief hinab.
»Wieso könnte? Ein für die Wissenschaft einmaliges Objekt... Verbindungen zu Cook und Banks... Das muss er sein.«
»Nein, er könnte es sein. Und der Brief könnte das sein, was Anderson so in Aufregung versetzt hat. Er wäre ja verrückt, nach einem ausgestopften Vogel zu suchen, den seit zweihundert Jahren niemand mehr gesehen hat. Aber nach einem, der vor achtzig Jahren noch heil und unversehrt war...«
»Dann muss er auch zu finden sein!« Sie umklammerte meinen Arm. »Das bedeutet, dass wir genauso gute Chancen haben wie er!«
Ich hob die Hand. Ich wollte den Ball flach halten.
»Moment mal. Seit 1914 ist viel passiert: Luftangriffe, Erbschaftssteuern, feuchte Wände... Sicher ist gar nichts.«
»Aber damals war er noch intakt...«
»Ja, wenn er sich so lange gehalten hat, besteht die Möglichkeit, dass er noch existiert. Anderson scheint jedenfalls davon auszugehen. Aber wenn der Brief sein berühmter Anhaltspunkt ist, wer hat ihn uns dann zukommen lassen? Dass Anderson selbst es getan hat, nur um keinen unfairen Vorsprung zu haben, kann ich mir nicht vorstellen.«
Katya hielt die Fotokopien noch immer vor sich, als könnten sie meine Zweifel abwehren. »Ich weiß nicht«, sagte sie zögernd. »Wer hat sonst noch davon gewusst?«
Ich musste sofort an Gabriella denken. Sie hatte versprochen, alles, was sie fand, an mich weiterzugeben, und es sah so aus, als hätte sie Wort gehalten. Im Moment war sie irgendwo in Deutschland, aber ihr Regenmantel hing noch an der Tür. Ich nahm Katya die Kopien ab.
»Was willst du jetzt machen?«, fragte sie.
»Ganz einfach: Ich fahre nach Stamford und versuche herauszukriegen, ob die echt sind.«
»Sehr gut.« Sie strahlte. »Ich komme mit.«
 
Am nächsten Morgen brachen wir auf. Da wir nun zu zweit waren, musste ich das Motorrad stehen lassen, aber Geoff aus dem Hammer And Sickle hatte ein Auto, das ich mir des Öfteren auslieh, ein rostiges kleines Gefährt von der Farbe einer ausgebleichten Zitrone. Es war noch dunkel, als wir jeder eine Tasche packten und dann losfuhren, um uns in den Londoner Verkehr einzufädeln, gerade rechtzeitig zur Rushhour.
Wir kamen nur langsam voran, waren aber aufgekratzt wie kleine Kinder. Es schüttete, man sah kaum etwas, und wegen des Quietschens der Scheibenwischer mussten wir schreien, um uns zu verständigen. Das Radio ging nicht, und die Heizung wurde gerade so warm, dass die Scheiben nicht beschlugen. Am Stadtrand kapitulierten wir, fuhren an den Rand und zogen unsere Mäntel an. Katyas war lang und schwarz; der hochgeschlagene Kragen rahmte ihr Gesicht ein. Meiner war alt und abgetragen, und ich sah darin aus wie ein Statist aus Doktor Schiwago. Unter dem Mantel, in meinem Innern, pulsierte leise ein Optimismus, der sich nicht dämpfen lassen wollte. Wenn der Vogel nun tatsächlich all die Jahre überstanden hatte? Es war immerhin möglich. Es war durchaus möglich. Plötzlich war die Straße vor uns frei, ich trat das Gaspedal durch, und die Tachonadel kletterte ganz langsam auf hundert.
Als wir London hinter uns hatten, ließ der Regen nach, und nachdem ich die Scheibenwischer abgestellt hatte, ging der Lärm im Wagen in ein tiefes Brummen über.
»Das ist verrückt, was wir da machen, das ist dir doch klar, oder?«, fragte ich Katya, noch mit erhobener Stimme.
»Sicher.« Sie nickte lächelnd. »Aber es macht Spaß, loszufahren und was zu suchen.«
Ich musste lächeln, teils in ihre Richtung, teils zur Straße hin. »Das hab ich den Leuten auch immer gesagt. Ich war sechs Jahre im Regenwald und hab Sachen gesucht.«
»Was für Sachen?«
»Vögel, Pflanzen. Kontakte. Das war erblich bedingt. Bei meinem Großvater war es genauso. Und bei meinem Vater auch. Es sind sogar Käfer nach den beiden benannt worden, hast du das gewusst? Da konnte ich doch nicht zurückstehen.«
Ich musste lachen, und Katya lachte mit.
»Und was hast du gefunden?«
Ich zuckte die Schultern. »Nicht viel. Mit fünfundzwanzig hab ich einen Aufsatz über eine bestimmte Laubfroschart geschrieben, die durch Abholzungen fünfhundert Kilometer flussaufwärts schwer in Mitleidenschaft gezogen wurde. Das hat damals ziemlich viel Staub aufgewirbelt, jedenfalls in Fachkreisen. Ich hab auch ein paar Vorträge darüber gehalten. Nur, abgeholzt wurde weiter. Als ich das nächste Mal hinkam, waren keine Frösche mehr da.«
Katya sah mich an, durch meinen Ton verunsichert.
»Aber du hattest doch gute Arbeit geleistet, oder?«
»Wissenschaftlich schon. Den Fröschen hat das aber nicht viel genützt.« Ich schwieg einen Moment, weil ich nicht wusste, wie viel ich erzählen sollte. »Damals fingen, glaube ich, die Probleme zwischen Gabriella und mir an. Wir hatten uns dort kennen gelernt. Wir haben zusammengearbeitet und Regenwaldschutzgebiete eingerichtet. Aber nach der Sache mit den Fröschen hab ich mich gefragt, ob wir nicht alles falsch machten. Wir haben nur die Symptome behandelt. Die Krankheit selbst war so viel größer: Bevölkerungswachstum, Konsumnachfrage, all so was. Ich hab angefangen, den Leuten zu erzählen, dass Schutzgebiete nicht die Lösung sind, sondern nur Heftpflaster für unser Gewissen. Wir hätten die ganzen Gelder dafür verwenden sollen, die Ursachen zu bekämpfen.«
Katya sah mich unter ihrem Pony hervor unverwandt an. Mit einer Hand hielt sie sich den Mantel am Hals zu, den anderen Arm hatte sie um ihren Oberkörper geschlungen.
»Und deswegen habt ihr euch zerstritten? Ihr wart doch auf derselben Seite...«
»Nicht nur deswegen. Da kam eins zum anderen...« Ich wollte noch mehr sagen, aber ich war zu zögerlich oder zu schüchtern oder zu sehr aus der Übung. »So ist es ja immer, nicht?«, schloss ich lahm. »Jedenfalls haben sich unsere Wege getrennt. Gabriella ist im Regenwald geblieben, und ich hab mich mit meinen Notizbüchern aufgemacht, um die Überreste ausgestorbener Vögel aufzuspüren. Ich dachte mir, wenn wir sie ausrotten, dann sind wir es der Zukunft schuldig, wenigstens Beweise ihrer Existenz aufzubewahren, zu zeigen, wie sie ausgesehen haben.« Ich lächelte. »Ein bisschen manisch war ich schon. Es war eine schwierige Zeit. Nach ein paar Jahren hab ich mich wieder beruhigt und bin hierher zurückgekehrt, um mit mir ins Reine zu kommen. Aber das ist alles lange her.«
Ich lächelte ein wenig kläglich, und bevor Katya etwas sagen konnte, fing es wieder an zu regnen, und die Scheibenwischer beendeten das Gespräch.
Die Mittagszeit war schon fast um, als wir nach Stamford hineinfuhren. Noch immer von Optimismus beflügelt, fanden wir nahe dem Bahnhof ein Pub mit einem Schild, auf dem »Kleine Gerichte, Snacks, Übernachtung mit Frühstück« stand. Die Frau drinnen wirkte ein wenig überrascht, als wir zwei Zimmer verlangten - ob sie Mutmaßungen über unsere Beziehung anstellte oder sich einfach nur wunderte, dass überhaupt jemand hier übernachten wollte, war nicht zu erkennen. Wir ließen unsere Taschen vorerst unausgepackt, gingen zum Essen in ein Café und machten Pläne. Bevor das Essen kam, rief ich noch in der Universität an, um zu sagen, wo ich zu erreichen war, für den Fall, dass Gabriella mich sprechen wollte.
Noch immer von einer Welle der Zuversicht getragen und von zwei Tassen starken Kaffees beflügelt, kamen wir überein, uns zu trennen. Katya wollte ins Stadtarchiv, ich würde mir bei der Touristeninformation den Weg zum Old Manor erklären lassen. Dort stellte sich jedoch heraus, dass die Sache nicht so einfach war. Das Büro war genau so, wie ich es mir vorgestellt hatte: jede Menge falsches Kiefernholz, und ein Geruch nach Putzmitteln und billigem Teppichboden. An der Wand stand das übliche Regal mit all den Faltblättern und Broschüren. Dort fing ich an, halb in der Erwartung, auch gleich zu finden, wonach ich suchte. Mein Herumstöbern förderte jedoch nichts Brauchbares zutage, und so wartete ich höflich, bis ein potenzieller Bahnreisender, der die Frau hinter der Theke mit Beschlag belegt hatte, endlich ging. Sie sah hoch und fing meinen Blick auf, als er die Tür hinter sich zuknallen ließ.
»Für Zugverbindungen bin ich nicht zuständig«, sagte sie mit einem melancholischen Lächeln. »Ich wollte nur helfen.«
Als ich ihr sagte, dass ich auf der Suche nach einem Haus namens Old Manor sei, verschwand das Lächeln, und sie sah mich an, als wollte ich sie auf den Arm nehmen.
»Was soll das?«, fragte sie. »Vor ein paar Tagen war jemand hier, der wollte genau das Gleiche wissen.«
Eine leise Beunruhigung beschlich mich.
»Ist das so ungewöhnlich?«
»An sich nicht«, erwiderte sie, noch immer argwöhnisch. »Nur bin ich mir nicht sicher, ob es ein Old Manor überhaupt gibt.«
Ich weiß nicht, wie enttäuscht ich dreinschaute, jedenfalls sah sie sich veranlasst, mir von dem anderen Besucher zu erzählen. Sie illustrierte ihren Bericht mit einer Reihe von Faltblättern, und bald hielt ich ein Dutzend Prospekte von alten Häusern der Umgebung in der Hand.
»Das hier könnte es am ehesten sein.« Sie zeigte auf eines von ihnen. »Das Old Grange. Überwiegend Tudor. Gleich nördlich von hier.«
Ich nickte höflich. »War dieser Besucher ziemlich groß? Ein Skandinavier?«, fragte ich und glaubte die Antwort schon zu wissen.
»Nein, überhaupt nicht.« Wieder sah sie mich so seltsam an. »Er war Amerikaner. Sehr höflich. Mit Brille - so kleine runde Gläser. Schon älter. Sagen Sie mir jetzt, was das alles soll?«
Ich erklärte ihr, dass ich die Geschichte einer Familie namens Ainsby zurückverfolgte, die Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts in der Gegend gelebt habe. Der Name sagte ihr nichts, aber sie beschrieb mir den Weg zum Stadtarchiv. Den habe sie auch dem höflichen Amerikaner beschrieben.
 
Es regnete, von kurzen Pausen abgesehen, fast den ganzen Tag. Um sechs zogen Katya und ich uns ins Bahnhofspub zurück. Bei Dunkelheit sah es dort sehr viel besser aus: Im Kamin brannte ein Gasfeuer, und dank der vielen kleinen roten Lampenschirme sah man die Flecken an der Wand nicht so. Es war herrlich warm hier nach dem kalten Regen des Lincolnshire-Abends draußen, und wir gingen sogar das Risiko ein, an der Bar etwas zu essen zu bestellen. Dann setzten wir uns mit einem großen Glas Rotwein und einem Pint dunklem Bier aus der Gegend in eine Ecke neben dem Kamin.
Im Stadtarchiv hatte Katya erfahren, was ich schon befürchtet hatte. Für das Jahr 1914 und - so weit man es überblicken konnte - auch für keinen anderen Zeitraum war irgendetwas über eine Familie des Namens Ainsby in oder um Stamford zu finden. Katya hatte drei Stunden und das gute Zureden zweier Bibliothekarinnen gebraucht, um sich mit diesem Umstand abzufinden. Wir hatten entschieden die nichtigste Niete gezogen, die man sich vorstellen konnte.
Trotzdem verzehrten wir recht vergnügt unser Essen, ergingen uns in wilden Spekulationen und versuchten, zwei und zwei zusammenzuzählen. Waren die Fotokopien eine Fälschung? Das mochten wir beide nicht glauben. Von Hans Michaels’ Zeichnung abgesehen, waren sie der einzige Anhaltspunkt, den wir hatten. Wir nahmen uns vor, es am nächsten Tag noch einmal zu versuchen, ein bisschen tiefer zu graben. Danach überkam uns plötzlich eine gewisse Befangenheit, und als Katya beschloss, früh schlafen zu gehen, blieb ich mit einem weiteren Pint zurück. Ich erwog gerade die Möglichkeit eines dritten, als ein kalter Luftzug mich aufblicken ließ. Ein rundlicher kleiner Mann hatte das Pub betreten; nach dem Zustand seines Regenmantels zu schließen, hatte sich das Wetter draußen inzwischen noch weiter verschlechtert. Es wurde von Minute zu Minute angenehmer in der Bar, und das Gasfeuer neben mir loderte und zischte herzerwärmend. Ich holte die Prospektesammlung aus der Touristeninformation hervor und breitete sie auf dem Tisch aus.
»Die bringen alle nichts«, ertönte plötzlich eine amerikanische Stimme. Der Neuankömmling war an meinen Tisch getreten und schüttelte das Wasser von seinem Mantel.
»Bitte?«, fragte ich so kühl, wie man nur fragen kann, wenn man bei der Lektüre eines Prospekts, in dem von Koboldtälern und Elfengrotten die Rede ist, unterbrochen wird.
»Das ist alles nicht das, was Sie suchen.« Der Mann legte seinen Mantel über einen Stuhl. »Sie sind doch Fitzgerald«, fügte er hinzu. »Macht’s Ihnen was aus, wenn ich mich zu Ihnen setze?«
Er rückte bereits einen Stuhl heran. Unter seinem Mantel war ein dreiteiliger Anzug aus Wollstoff zum Vorschein gekommen, wie ihn Landärzte in den 1930er Jahren trugen. Er hatte graues, leicht gewelltes Haar und eine dicke, altmodische Brille, was ihn geradezu absurd unamerikanisch wirken ließ.
»Potts mein Name«, sagte er und streckte mir die Hand hin. »Ich habe in der Universität angerufen, und man hat mir mitgeteilt, dass ich Sie hier finden würde. Ich wohne im The George in der High Street.«
Während ich das zur Kenntnis nahm, zog er einen Stapel Prospekte, ähnlich meinen eigenen, aus der Tasche. Mit einem Glimmen in den Augen legte er sie der Reihe nach auf den Tisch.
»The Old Grange? Nein. Hawsley Manor? Nein. Thurley Hall? Schon gar nicht. Radnors? Herrje, da machen sie Käse. Unmöglich. Pulkington Hall? Nein. Und Pixie Glen« - er schauderte -, »Sie können ja zu Ihren Kobolden fahren, wenn Sie wollen, aber sagen Sie nachher nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt.«
Ich legte meine Broschüren auf seine.
»Ich glaube, Sie fangen besser noch mal von vorn an. Wer sind Sie?«
»Potts.« Er zwinkerte mir zu wie ein Onkel, der ein Geheimnis verrät. »Ich bin aus demselben Grund hier wie Sie, nehme ich an.«
»Sie suchen einen verschollenen Vogel?«
»Bitte sehr.«
Er fasste in seine Jacke und überreichte mir eine Karte. Sie verriet nicht viel.
Emeric Potts
Kunst, Antiquitäten, Varia
»Sie sind Kunsthändler?« Ich sah ihn mir genauer an.
Er schob die Lippen vor, als wollte er diesen Gedanken fortpusten.
»Nicht direkt. Aber ich mache mit Kunsthändlern Geschäfte, könnte man sagen. Ich mache die Sachen ausfindig, die sie verkaufen wollen. Sie suchen einen verschollenen van Dyke? Eine Erstausgabe von Ulysses? Dann bin ich Ihr Mann.«
Ich gab ihm die Karte zurück.
»Liegt das hier nicht etwas außerhalb Ihrer sonstigen Aktivitäten?«
»Oh, ich würde es eher als natürliche Diversifikation bezeichnen. Man könnte ja sagen, die Taxidermie ist eine Fortsetzung der Bildhauerei mit anderen Mitteln.«
»Dann kennen Sie jemanden, der den Ulieta-Vogel kaufen will?«
Potts verzog gequält das Gesicht.
»So direkt, Mr. Fitzgerald... Sagen wir, ich bin sehr daran interessiert, ihn zu finden. Und Sie können mir am ehesten dabei helfen, habe ich gehört. Ich habe Sie in den letzten Tagen mehrmals anzurufen versucht, aber Sie waren wohl nie da.«
Ich musterte sein Gesicht; ich war skeptisch.
»Und was machen Sie hier in Stamford? Sie suchen doch sicher nicht nur mich.«
Er fasste von neuem in die Tasche und holte ein zusammengefaltetes Blatt Papier hervor.
»Haben Sie das gesehen?«, fragte er.
»Hm, ich weiß nicht...«, log ich. Ich hatte die Fotokopie, die er vor mich hinlegte, sofort erkannt. Es war John Ainsbys Brief.
»Natürlich haben Sie.« Er lehnte sich zurück und zog die Kopie zu sich heran. »Ich hab’s Ihnen ja selbst geschickt.«
Ich muss gestehen, ich war überrumpelt, und das sah man mir wohl auch an.
»Was glauben Sie, von wem das kommt, Mr. Fitzgerald? Von Karl Anderson?«
»Nein. Das heißt...«
Er kicherte leise in sich hinein. »Jedenfalls ist es Andersons Brief. Deswegen ist er so schnell hergekommen, um den Vogel zu suchen.«
»Er hat gesagt, er wollte sowieso kommen. Wegen irgendwelcher Pflanzenmalereien. Das mit dem Ulieta-Vogel macht er nur nebenbei.«
Potts lächelte freundlich, aber ich merkte, dass er mich durch seine Brille genau beobachtete.
»So, das hat er gesagt? Na ja, wer weiß?« Er nahm die Brille ab und rieb sie an seiner Weste. Anderson und seine Motive schienen ihn nicht weiter zu interessieren, doch ich wollte noch mehr hören.
»Tut mir Leid, aber das macht keinen Sinn. Wieso sollten Sie mir den Brief zukommen lassen?«
Er zuckte die Schultern, als wollte er damit andeuten, dass die Antwort doch auf der Hand liege.
»Ich dachte, ich halte Ihnen den Brief mal vor die Nase und sehe, was passiert. Sie sind der Fachmann, Mr. Fitzgerald. Etwas wie diesen Vogel zu finden würde Ihnen viel bedeuten, hat man mir gesagt. Und da habe ich mir ausgerechnet, dass Sie John Ainsbys Brief entweder ignorieren würden - dann hätte ich gewusst, dass es sich um eine Sackgasse handelt -, oder aber dass Sie schleunigst hierher kommen würden, und dann könnte etwas an der Sache dran sein. Und nun sind Sie da.«
Ganz offensichtlich war er ein Mensch, der gern redete. Während er sich am Feuer aufwärmte, erzählte er mir, ohne dass ich ihn dazu ermuntert hätte, noch mehr über den Ainsby-Brief. Anderson sei anscheinend von einem Professor darauf aufmerksam gemacht worden, der über den Ersten Weltkrieg forsche. Ausgestorbene Vögel seien nicht unbedingt das Fachgebiet des Norwegers, aber er habe vom Ulieta-Vogel gewusst und die Bedeutung des Briefes sofort erkannt. Als Erstes habe er Ted Staest eine Kopie davon vorgelegt, und die beiden Männer seien zu einer Art Abmachung gelangt, was den Wert des Vogels angehe - was genau sie vereinbart hatten, darüber äußerte sich Potts allerdings nur vage. Erst als Gerüchte über den Vogel durchsickerten, hatte sich Potts eine eigene Kopie des Briefes beschafft.
»Wenn auch nicht über offizielle Kanäle, wenn Sie verstehen, Mr. Fitzgerald.«
»Sie meinen, Sie haben jemanden bestochen?«
Er wirkte gekränkt. »Bitte, Mr. Fitzgerald, wir müssen ja nun nicht in die Details gehen. Ich habe eine Kopie, das soll genügen. Und Sie haben jetzt auch eine.«
Er zeigte auf das Blatt.
»Ein hochinteressanter Brief, nicht wahr? Die Verbindungen zu Cook und Banks, das einmalige Objekt... Und außerdem war er nach Lincolnshire adressiert, Banks’ Grafschaft. Alles sehr viel versprechend. Eines allerdings... ›Ich möchte bei meiner Rückkehr nicht erleben, dass dein kleiner Vulpes ihn mir entrissen hat!‹ Was halten Sie davon? Konkurrenz für den Vogel?«
Ich zuckte die Schultern. »Vulpes heißt Fuchs - wahrscheinlich meint er jemanden, der schlau ist und ein bisschen räuberisch. Es klingt liebevoll, wie er das sagt, finden Sie nicht? Ich habe mich gefragt, ob es sich vielleicht um einen Verehrer seiner Schwester handelt, jemand, der um sie herumstrich, während er weg war.«
»Ein Verehrer. Ein Liebhaber...« Er spielte mit dem Gedanken. »Hm, ja. Interessant...« Seine Augen umwölkten sich gedankenvoll hinter den Brillengläsern, aber gleich darauf trug er wieder seine unerschütterliche Miene zur Schau und erzählte mir, wie ihn der Ainsby-Brief erst nach London und dann nach Stamford geführt hatte. Doch in Stamford hatte er eine Niete gezogen. Keine Spur von den Ainsbys, keine Spur vom Old Manor, kein ausgestopfter Vogel. Und keine Spur von Anderson.
»Das hat mich am meisten beunruhigt«, vertraute er mir an. »Ich dachte mir, wenn ich nicht da bin, wo Anderson ist, dann bin ich am falschen Ort. An meinem vierten Tag hier ist mir dann im The George ein Mann aufgefallen.« Er nahm eine Karte aus seiner Brieftasche.
Edward Smith
Diskretion garantiert
63 North Hill Road, London N17
»Dieser Smith arbeitet für Anderson, das hat er auf etwas Druck hin schnell zugegeben. Scheint sich seiner Sache ziemlich sicher zu sein. Hat angedeutet, das Ganze sei mehr oder weniger schon gelaufen. Aber trotzdem: Nachdem ich ihn kennen gelernt hatte, war mir wohler. Und noch wohler wäre mir, wenn ich wüsste, wo Anderson ist.«
»Was macht Smith hier?«
Potts zuckte die Schultern.
»Fährt früh weg, kommt spät zurück. Mit seinem Auto. Einmal wollte ich ihm folgen, aber er muss mich gesehen haben. Sechseinhalb Stunden sind wir in der Grafschaft herumgekurvt. Die Straßen hier - o Gott!«
Er lehnte sich zurück und sah mich freundlich an.
»Ohne Smith hätte ich längst aufgegeben, denn wenn hier etwas zu finden ist, dann finde ich es nicht, und das Wetter ist eine Katastrophe. Aber an dem Punkt kommen Sie ins Spiel. Wir können doch genauso gut offen miteinander reden.« Er beugte sich verschwörerisch und fast ein wenig verlegen vor. »Sie haben Recht, Mr. Fitzgerald: Die Sache liegt nicht auf meiner Linie. Aber ich bin ungeheuer scharf darauf, den Vogel zu finden, bevor Anderson es tut. Ich schlage Ihnen deshalb Folgendes vor: Sie beschaffen mir den Vogel, und dann gehen wir zusammen zu Staest. Sie können ruhig mit ihm direkt verhandeln. Alles, was ich verlange, ist ein kleiner Anteil, sagen wir fünf Prozent. Als Vermittlungsgebühr, wenn Sie so wollen.«
Da dämmerte mir allmählich, was Potts mit seinem onkelhaften Benehmen in Wahrheit bezweckte. Die nächsten zwanzig Minuten fragte er mich sehr behutsam und überaus höflich über den Verbleib des Ulieta-Vogels aus. Er hätte dafür nicht halb so viel Zeit investieren müssen, aber wie Anderson schien er nicht glauben zu wollen, dass ich so wenig wusste. Nicht einmal mein leeres Glas konnte seinen Fragen Einhalt gebieten, bis ich schließlich darauf bestand, an die Bar zu gehen und mir noch ein Pint zu holen. Er selbst wollte nichts mehr trinken, und als ich zurückkam, zwängte er sich gerade in seinen Regenmantel. Er gab mir die Hand.
»Denken Sie an meine Worte, Mr. Fitzgerald. Mein Job hier ist, den Vogel vor Anderson aufzuspüren. Sollten Sie aber schneller als wir beide sein, vergessen Sie nicht, dass ich Ihnen gern helfe, einen Höchstpreis dafür herauszuschlagen.«
Als er weg war und ich schweigend mein Pint trank, war ich mir sicher, dass bei der ganzen Sache irgendetwas im Spiel war, was ich nicht ganz begriff. Potts war zwar durchaus erpicht darauf, den Vogel an sich zu bringen, aber wie Anderson schien es ihn nicht allzu sehr zu kümmern, ob er etwas daran verdiente. Ging es den beiden wirklich nur darum, Ted Staest einen Gefallen zu tun? Wie viel war das Wohlwollen eines kanadischen Milliardärs wert? Oder war ich hier auf dem Holzweg? War der Vogel so unvorstellbar wertvoll, dass sie mich gern meinen Preis nennen ließen, weil sie wussten, dass ich mir seinen wahren Wert auch nicht annähernd vorstellen konnte? Ich überprüfte diese Theorie eine Weile und verwarf sie dann. Der Vogel konnte einfach nicht so viel wert sein. Es sei denn, diese DNA-Geschichte war sehr viel lukrativer, als ich dachte.
Vor mir auf dem Tisch lagen die beiden Prospektestapel, Potts’ und meiner. Ich sah sie noch einmal durch - andere Anhaltspunkte hatte ich schließlich nicht.
Erst viel später, als ich die Prospekte einstecken wollte, stieß ich wieder auf die Kopien, die ich im Natural History Museum für Katya gemacht hatte, die beiden Blätter über Joseph Banks’ Geliebte. Ich sah mich um. Es war noch warm im Raum, und die Bar war noch besetzt. Es wäre schade gewesen, schon schlafen zu gehen. Also nahm ich wieder Platz und las die Kopien erst jetzt genauer.
 
 
 
Der Tod ging um auf der Endeavour, als sie sich endlich heimwärts wandte. Nachdem sie Batavia verlassen hatten, schien die Luft von Fieber erfüllt zu sein, und fast täglich verloren sie Leute. Beinahe wäre Banks selbst unter ihnen gewesen, und auch Solanders Gesundheit war angegriffen. Dreiundzwanzig Mann starben zwischen Batavia und dem Kap der Guten Hoffnung, und als das Schiff atlantische Gewässer erreichte, waren Parkinson, Monkhouse und Molineux tot und mit ihnen ein Drittel der Besatzung. Die Überlebenden blickten nordwärts und hofften, die Heimat wiederzusehen.
Doch die letzten Tage einer Reise können die schwersten sein. Auf See hatte sich jeder an eine Ordnung zu halten, hatte klar umrissene Pflichten zu erfüllen. Man kannte die täglichen Abläufe, man hatte seine Befehle, und man hatte zu jeder Zeit ein Ziel vor sich. Doch als das Land näher rückte, schmolzen diese Gewissheiten dahin, und für manch einen versprach die Rückkehr schwierig zu werden. Je näher sie dem Ärmelkanal kamen, desto häufiger hielten die Männer in ihrer Arbeit inne und suchten den Horizont ab. So auch Banks. Schon jetzt, lange bevor sie London erreichten, wusste er, dass die Rückkehr von großer Tragweite sein würde. Sie hatten Dinge gesehen und aufgezeichnet, welche die Vorstellungen derer, die sie ausgesandt hatten, weit überstiegen. Er brachte eine Sammlung mit - Tiere, Pflanzen, Artefakte -, wie man sie nie zuvor gesehen hatte. Und er war zu jung, um die Vorfreude auf den Triumph nicht zu genießen, war zu sehr Mensch, um sich dadurch nicht ein wenig zu verändern.
Trotz allem aber war er unruhig. Er beneidete Cook, weil die Reputation des Mannes aus Yorkshire gesichert war, und er beneidete ihn um die Ehefrau, die zu Hause auf ihn wartete, darum, dass er so unerschütterlich wusste, wo er hingehörte. Was ihn selbst anging, so merkte Banks, dass sich die Bilder der Heimat, die ihm in der Südsee so teuer gewesen waren, kaum merklich veränderten, je mehr er sich der Realität näherte.
Es fiel ihm leicht, sich vorzustellen, wie er in den Londoner Salons von seiner Reise erzählen und mit den großen Philosophen der Zeit von gleich zu gleich verkehren würde. Vielleicht hatte er dieses Bild seit langem in sich getragen, so tief verborgen, dass nicht einmal er selbst es betrachten konnte, bis er seines Erfolges sicher war. Versuchte er jedoch, sich Harriet in dieser Welt vorzustellen, verblasste das Bild. Unbehaglich saß sie dann neben diesen Männern ernsthafter Wissenschaft, und er schämte sich dafür, dass er bei dem Gedanken an sie nicht ihr Gesicht vor sich sah; vielmehr schlug sein Herz höher bei der Erinnerung an einen Hals, so glatt wie helles Porzellan, an seine Fingerspitzen, die sacht die Linien weicher nackter Schultern nachzeichneten. Wollte er sich ihre Stimme oder ihr Lächeln ins Gedächtnis zurückrufen, waren es diese Bilder, die fortwährend wiederkehrten. Irritiert wischte er sie beiseite bis zu dem Tag, an dem er Harriet selbst sehen würde.
Als die Endeavour endlich in Deal vor Anker ging, waren sie fast drei Jahre fort gewesen.
Ihre Rückkehr wurde zu einem noch größeren Ereignis, als er auch nur hätte ahnen können, und sein Empfang in London überstieg seine kühnsten Träume. Binnen weniger Tage wurde er zum öffentlichen Gesicht der Expedition, er, der junge Mann, der Kühnheit und Abenteuerlust mit leidenschaftlichem Wissensdrang vereint hatte. Während Cook sang- und klanglos von der Routine der Nachbesprechungen bei der Admiralität verschluckt wurde, trug Banks dieselbe Botschaft in die vornehme Gesellschaft und eröffnete deren Einbildungskraft neue Welten. Hatte er befürchtet, die Einzigartigkeit dessen, was er erlebt hatte, würde nicht ohne weiteres gewürdigt werden, so hatte er sich getäuscht. Und wenn die Bilder und Gemälde der neu entdeckten Orte nicht ausreichten - die dort gesammelten Objekte waren allein schon Wunder genug. Banks hatte Pflanzenproben gesammelt, welche die Botaniker auf Jahre hinaus faszinieren sollten, und auch anderes, Spektakuläreres, galt es zu beschreiben. Man konnte schwerlich von Pflanzen und deren Vermehrung sprechen, wenn die Zuhörer Aussehen und Verhalten des Kängurus bestaunen wollten. Banks’ Berichte von all dem Neuen, all den Wagnissen machten ihn berühmt, atemlos eilte er von Salon zu Salon, von Speisezimmer zu Speisezimmer und konnte kaum glauben, welche Ehren ihm zuteil wurden.
Anfangs trieb er auf dieser Woge des Ruhms wie ein Boot auf dem sturmgepeitschten Meer, rastlos, von Welle zu Welle gehoben, ohne sein Ziel oder sein Schicksal noch in der Hand zu haben. Fünf Tage lang fand er sich nicht bei Harriet Blosset ein, dann sandte sie ihm einen gekränkten, vorwurfsvollen Brief, in dem sie sich über die so sichtbare Vernachlässigung beklagte. Da ging er schließlich zu ihr, jeder fand den anderen verändert, und es wurde eine peinliche, unbefriedigende Begegnung. War Banks früher locker und amüsant gewesen, so erschien er ihr nun angespannt und unsicher, auch interessierten Gespräche über ferne Inseln sie weniger als solche über eine Zukunft mit ihm in London und auf dem Land. Sie begrüßte ihn kühl, ohne zu ahnen, wie reizvoll gerade die Offenheit gewesen war, mit der sie ihm einst ihre Gefühle gezeigt hatte. Diese stolze, grollende Harriet war eine Fremde für ihn. Im Verlauf der Unterhaltung erschien sie ihm weniger beeindruckend, als er sie in Erinnerung hatte, das cremige Weiß ihrer Haut weniger vollkommen, ihr Gang weniger anmutig und natürlich. Gern hätte er sie berührt, um die Weichheit wieder zu spüren, deren er sich entsann, aber ihr förmliches Betragen ermutigte ihn nicht dazu. Nach einer quälenden, ergebnislosen halben Stunde entschuldigte er sich. Er sei nicht Herr seiner Zeit, sagte er, und in wenigen Tagen müsse er nach Revesby und sich um die Verwaltung seiner Güter kümmern. Nach seiner Rückkehr, so versprach er, werde er ihr erneut seine Aufwartung machen, dann würde Zeit sein, über die Zukunft zu sprechen.
Vielleicht setzte ihm noch der Trubel der Londoner Gesellschaft zu, vielleicht lag es auch an den Strapazen seiner Reise, dass er während der Fahrt nach Revesby kaum an seinen letzten Aufenthalt dort dachte. Seine Gedanken weilten bei den Verbesserungen, die er möglicherweise vornehmen würde, bei den Entscheidungen über Pacht und Zins, die zu treffen waren. Es erstaunte ihn, dass ihn bei seiner Ankunft Menschen und Gesichter grüßten, an die er drei Jahre lang nicht mehr gedacht hatte, alle lächelnd, alle bemüht, ihm zu Gefallen zu sein. Vorbehalte von einst hatte sein neu erworbener Ruhm und Reichtum hinweggefegt. Das ließ ihn innehalten und zurückdenken, und erst dieser Empfang in Revesby brachte ihn wirklich nach Hause. Doch inmitten all der Willkommensgrüße erlebte er auch einen traurigen Moment, als er erfuhr, dass Dr. Taylor zwei Jahre zuvor gestorben war. Seine Familie, so berichtete man ihm, sei verarmt, sie habe Revesby wenig später verlassen und sei zu Mrs. Taylors Verwandten nach Clerkenwell gezogen. Miss Taylor, die ältere der beiden Töchter, habe einen Kuraten geheiratet, ihre erst siebzehnjährige Schwester einen Mann von vierzig, der ein kleines Gut in den Fens besitze.
Wahre Trauer erfüllte Banks bei dieser Nachricht, doch er fand Trost darin, dass seine Güter während seiner Abwesenheit gut verwaltet worden waren. Drei Tage saß er über Wirtschafts- und Pachtbüchern, dann stellte er befriedigt fest, dass nirgends größere Versäumnisse zu beklagen waren, die der Abhilfe bedurft hätten. Anfangs hielt er sich lange Stunden im Dämmer der Abtei auf, doch an den Nachmittagen ging er mit Nicholson, seinem Verwalter, in die Sonne hinaus, um sich persönlich vom Stand der Dinge zu überzeugen. Die Pachtgüter, die Behausungen der Leute, der Wildpark und die Gärten - alles wurde inspiziert und für zufriedenstellend befunden.
Am Nachmittag des sechsten Tages, als er mit Nicholson von einem solchen Gang zurückkam, nahmen sie den Wald zwischen der Abtei und dem Dorf in Augenschein. Es war ein heißer Spätsommernachmittag, und beiden war der Schatten unter den Bäumen willkommen. Nach einigen Minuten blickte Banks sich um, als sei er überrascht, sich hier wiederzufinden. Mit Nicholson an seiner Seite hatte er nur an Geschäftliches gedacht, und es war wie ein Schock, als er erkannte, wo er sich befand.
»Hier entlang, mit Verlaub«, sagte er leise zu Nicholson und bog nach rechts ab. »Ich glaube, dort vorn ist eine kleine Lichtung.«
Der Verwalter folgte ihm, und sie gelangten an eine Stelle zwischen den Bäumen, an der sich das Blätterdach teilte und die Sonne durchließ. Banks lächelte still vor sich hin.
»Wie wenig sich die Dinge verändern«, murmelte er. »Es ist seltsam, nach so vielen Jahren die Pfade und selbst die Form bestimmter Bäume genauso vorzufinden wie damals, als ich zuletzt hier stand.«
Nicholson sah sich um. »Der Wald verändert sich nur langsam, das lässt sich nicht bestreiten, Sir. Eines Tages werden vielleicht Ihre Kinder diese Wege entlanglaufen und glauben, sie seien die Ersten, die sie entdecken.«
Banks nickte. Er mochte Nicholson.
»Sagen Sie«, begann er, »als ich das letzte Mal hier war, ist eine junge Dame in diesen Wäldern umhergestreift, als wären es ihre eigenen. Sie wohnte mit ihrem Vater in dem Haus am Ende des Dorfes. Er war so etwas wie ein Freidenker, immer skandalumwittert. Und er sprach gern dem Alkohol zu und beleidigte seine Nachbarn.«
»Ja, Sir, ich weiß, wen Sie meinen. Im Frühjahr vor zwei Jahren ist er gestorben. Ein unbeliebter Herr hier in der Gegend.«
»Und die Tochter? Wo ist sie jetzt? Ist sie verheiratet?«
»Sie ist weggegangen, Sir, wohin weiß ich nicht. Aber verheiratet ist sie ganz gewiss nicht. Nicht, wenn es stimmt, was man sich erzählt.«
Banks hatte auf der Lichtung umhergeblickt, doch bei Nicholsons Worten hielt er inne und sah den Mann neben sich scharf an.
»Worauf wollen Sie hinaus?«
»Nun, Sir«, erwiderte der Verwalter unbehaglich, »ich gebe nicht vor, irgendetwas mit Sicherheit zu wissen, aber die Frauen im Dorf waren immer der Meinung, dass sie als Tochter ihres Vaters... Sie wissen ja, Sir. Aus einer solchen Familie...<
Hatte er gehofft, sein Herr werde sich angesichts seiner Verlegenheit erbarmen, so sah er sich enttäuscht. Banks’ fragender Blick zwang ihn fortzufahren.
»Nun ja, es wurde viel geredet, Sir. Darüber, wohin sie ging und mit wem. Von einer Heirat hat man nichts gehört.«
»Also, wirklich, Nicholson! Das klingt wie vulgärer Klatsch.«
»Ich weiß auch nicht. Aber ich habe sie selbst gesehen, Sir, ein einziges Mal, seit sie Revesby verlassen hat. In Louth, am Markttag. So weit fahre ich sonst nicht, aber ich wollte mir ein paar Pferde anschauen. Ich konnte sie deutlich erkennen, in der Nähe der Kirche. Sie war sehr elegant gekleidet, Sir; in Revesby, als ihr Vater noch lebte, hat man sie nie so gesehen.<
Banks sah auf seine Füße hinab, während er diese Worte auf sich wirken ließ.
»War sie allein?«
»Nein, Martha war bei ihr, Sir, die Frau, die ihren Vater gepflegt hat.«
Banks blickte mit ernster, ein wenig strenger Miene auf.
»Danke, Nicholson, das ist sehr interessant. Nur führt es uns weit ab von einer angemessenen Schätzung der Holzbestände hier …<
Damit kehrten die beiden Männer auf den Weg zur Abtei zurück, um ihre Inspektion fortzusetzen, und auf der Lichtung blieben nur der Sonnenschein und zwei kleine Vögel zurück, die eilig auf den Waldboden hinabflatterten.
Weitere drei Tage vergingen, ehe Banks Zeit fand, nach Louth zu reiten. Viele Male sagte er sich, es gebe keinerlei Anlass für einen solchen Besuch, doch das hielt ihn nicht ab. Ihm war bewusst, dass die Geschicke seiner früheren Nachbarn ihn nichts angingen, aber sein Aufenthalt im Wald hatte Erinnerungen wachgerufen, und in nachdenklicher Stimmung lenkte er sein Pferd auf den Marktplatz von Louth. Mit gefurchter Stirn saß er ab.
Er sprach bei Freunden vor und erkundigte sich nach ihr. Sie waren hocherfreut, ihn zu sehen, und nötigten ihn zum Tee, zu einem Glas Wein oder zum Essen, doch keiner konnte ihm Auskunft geben. Als Nächstes versuchte er es bei einem Freund seines Vaters, einem Friedensrichter, der die Stadt und deren Umgebung besser kannte als irgendjemand sonst. Banks’ Frage schien ihn zu befremden.
»Höchstwahrscheinlich ist sie verheiratet«, meinte er. »Wahrscheinlich kenne ich sie unter einem anderen Namen. Du warst zu lange fort, Joseph, da ist vieles nicht mehr so, wie es einmal war. Vermutlich ist sie inzwischen Mutter zweier strammer Knaben. <
»In der Tat.« Banks lächelte unsicher. »Es war auch nur so ein Gedanke. Wäre Ihnen ihr Aufenthalt bekannt, hätte ich ihr gern mein Beileid zum Tode ihres Vaters ausgesprochen.<
»Gewiss«, erwiderte der Ältere. »Sehr anständig von dir. Wie wäre es, wenn wir nun von dem vorzüglichen Portwein kosten, den mir mein Neffe geschickt hat?«
Erst eine Stunde später war Banks wieder frei. Er wusste nicht recht, wie er weiter vorgehen sollte, und kam sich wegen der Unbedachtheit seines Unternehmens ein wenig närrisch vor. Er überquerte den Marktplatz und steuerte auf die Kirche zu, in deren Nähe Nicholson sie gesehen haben wollte. Es roch nach Hitze in der Stadt an diesem stickigen Spätnachmittag, und Banks war froh, eine Weile im kühleren Schatten des Friedhofstores sitzen zu können. Nach Marktschluss schien die ganze Stadt in der Hitze verstummt zu sein, und der Kirchhof versprach Schatten und Abgeschiedenheit. Das Gotteshaus war alt, es hatte einen eindrucksvollen Turm und war am Fuß der Mauern grün bemoost. Banks ließ den Blick über die Grabsteine schweifen, von denen einige schief und von Flechten überzogen, andere rein und markant waren. Ein lauschiger Ort. Er erhob sich und begann, um die Kirche herumzuschlendern. Vor einigen der Grabsteine blieb er stehen, um ihre Inschriften zu lesen, froh, an etwas anderes denken zu können als an seine Narretei. Dann kehrte er zu einem hohen grünen Stein zurück, der unweit des Tores ins Gras gesunken war. Er schien noch älter als die anderen zu sein, und seine Inschrift war nicht zu entziffern. Banks kauerte sich nieder und kratzte mit den Fingernägeln an der Flechte, welche die Namen der hier Ruhenden verbarg. Ganz in sein Tun vertieft, arbeitete er schnell, und ein erster Name war schon fast lesbar, als er hinter sich eine Stimme vernahm:
»Lichen pulmonarius
 
Nachmittags, wenn die Hitze auf der kleinen Stadt lastete und der Kirchhof Frieden versprach, kam sie häufig hierher. Um diese Stunde war es still hier, und nur selten begegnete sie einem Menschen.
Als sie jedoch an diesem ganz normalen Nachmittag im Juni, zu einer Zeit, da es in der Stadt ruhig war, das Tor durchschritt, sah sie eine Gestalt an einem Grabstein kauern. Sie erkannte Banks augenblicklich, tief aus ihrem Innern heraus, und der Schreck machte sie wehrlos. In den Tagen, bevor ihr Vater starb, hatte sie sich oft ausgemalt, wie es sein würde, wenn sie ihn wiedersah, sofern es je dazu kommen würde. Aber das war vor langer Zeit gewesen, in Revesby, bevor ihr Leben sich verändert hatte. Nie hatte sie sich vorgestellt, ihm hier in Louth zu begegnen. Selbst nachdem sie aus dritter Hand erfahren hatte, dass er wohlbehalten zurückgekehrt war, hatte sie ihn aus ihren Gedanken verbannt. Es war einfacher so.
Als sie ihn nun auf dem Kirchhof erblickte, konnte sie erst nur schauen. Er wandte ihr den Rücken zu, und seine Haartracht hatte sich verändert. Sie musste sich irren. Es war zu unwahrscheinlich, zu unmöglich. Jeder Gedanke an Flucht ging in ihrem Zögern unter. Keine acht Meter trennten sie von ihm, und der Drang, ihn zu beobachten, war übermächtig. Sie hörte Martha hinter sich herannahen und hob die Hand, um ihr Einhalt zu gebieten. Stumm stand sie da, schaute zu, wie er den grünen Stein bearbeitete, und erkannte mit einem Mal staunend, was er dort abschabte. Die Worte entschlüpften ihr, ehe sie überhaupt entschlossen war zu sprechen.
Beim Klang ihrer Stimme wandte er sich so unvermittelt um, dass er beinahe das Gleichgewicht verloren hätte. Sie stand am Friedhofstor, schlank und aufrecht, und sah zu ihm her. Schatten verbargen sie halb, und doch war ihm der Anblick sofort vertraut, Gestalt und Gesicht genau so, wie er sie in Erinnerung hatte. Ein schönes Gesicht, dachte er plötzlich, obgleich er es nicht immer so gesehen hatte. Dann bewegte sie sich, das Licht fiel anders auf sie, und im helleren Sonnenschein nahm er Veränderungen wahr. Sie war blasser als früher, und die Sommersprossen, nach denen er Ausschau hielt, waren weniger geworden und nicht mehr so ausgeprägt. Als hielte sie sich zu viel im Haus auf, dachte er.
Er ging auf sie zu, und sie wich zurück, verharrte dann aber mit ernster Miene, und ihre Augen begegneten den seinen. Er öffnete den Mund, setzte zum Sprechen an und wollte ihren Namen rufen, doch da schüttelte sie den Kopf und hob die Hand.
»Nein, Sie dürfen mich nicht so nennen. Ich trage hier einen anderen Namen.<
Er blieb stehen, nur einen Schritt von ihr entfernt.
»Sie sind verheiratet?«
Kaum merklich schüttelte sie erneut den Kopf.
»Nein, ich bin nicht verheiratet. Man kennt mich hier als Miss Brown.« Unverwandt hielt sie den Blick auf ihn gerichtet. Er sah sich verlegen um, unschlüssig, was er tun oder sagen sollte. Dann trafen sich ihre Blicke wieder.
»Unsere Bekanntschaft war sehr kurz, Miss Brown. Es gibt zu wenige Pflanzenmaler auf der Welt, als dass ich sie ignorieren dürfte, wenn ich ihnen begegne. Noch weniger als zu der Zeit, da ich Sie zuletzt sah. Ich würde sehr gern hören, wie es Ihnen ergangen ist.<
Einen Moment lang senkte sie den Blick.
»Martha«, sagte sie dann mit einer Geste zu der Bank am Friedhofstor. »Bitte warte dort. Ich habe Mr. Banks etwas zu sagen.«
Er bot ihr den Arm. Als sie ihn nahm, ließ ihn die Berührung ihrer Hand innehalten, dann setzte sie sich in Bewegung, und ein wenig befangen traten sie aus dem Schatten.