12
Ein Name an zwei Stellen
Wir verabredeten uns für den Nachmittag in einem Café bei Queensway.
Gabriella hatte das Café nicht zufällig gewählt. Wir kannten es aus unserer Anfangszeit, als wir das Projekt in Angriff nahmen, das später ihr Projekt wurde. Damals waren wir unbestreitbar bis über beide Ohren verliebt gewesen. Jeder Schritt, den wir zusammen taten, schien zwangsläufig und selbstverständlich zu sein, von unserer ersten Begegnung bei den Überresten eines Spix-Ara bis hin zu unserer Zeit in London, als wir Leute für das Projekt zu gewinnen und Mittel aufzutreiben suchten und uns in eine gemeinsame Zukunft aufmachten, die wir fünfzehn Jahre später noch immer nicht wieder ganz entwirrt hatten.
Heute konnte ich mir das alles kaum noch vorstellen, dachte ich, als ich die Bayswater Road hinaufging. Das Ende kam, als wir Differenzen zwischen uns feststellten, die all das Gute in den Hintergrund rückten. Ich war derjenige, der ging, aber zutiefst enttäuscht war Gabriella: Sie hatte geglaubt, sie würde ihr Leben mit einem ganz ähnlichen anderen Leben verbinden. Die Wahrheit erkannte sie erst, als ihr grausam und zweifelsfrei bewusst wurde, dass ich ihre Zielstrebigkeit nicht teilte. Ich ärgerte mich grün und blau darüber. Ich war emotional, wo sie professionell war, ich war sprunghaft, wo sie objektiv war. Als ich unsere Arbeit im Regenwald infrage zu stellen begann, war die Kluft zwischen uns schon unüberbrückbar geworden.
Trotz allem hatten wir es nicht fertig gebracht, die Brücken zwischen uns ganz abzubrechen. Gabriella schrieb mir noch, ich dachte noch an sie. Und ich dachte auch jetzt an sie, als ich etwas verspätet in dem Café ankam, in dem wir uns früher immer getroffen hatten. Ich hatte den Vormittag damit zugebracht, meine Notizen wieder in die Truhe zu packen und den zerbrochenen Fensterriegel notdürftig zu reparieren, und jetzt wollte ich wissen, warum.
Das Café war klein: eine Theke, eine Kaffeemaschine und fünf oder sechs von der Tür aus nicht einsehbare Tischchen. Sie saß am anderen Ende des Raumes, an unserem alten Platz, und als sie mich kommen sah, stand sie auf.
»Hallo, John«, sagte sie, mehr nicht, doch als ich zu ihr trat, drückte sie ihre Wange an meine. Ich nahm den Duft ihrer Haare wahr, vertraut und ein klein wenig verwirrend.
Wir bestellten Kaffee und nahmen Platz, und dann sahen wir uns über den kleinen runden Tisch hinweg an. Sie war gepflegt wie immer, das Haar zurückgebunden, was ihre Augen größer erscheinen ließ. Keiner sagte etwas, und schließlich legte sie den Kopf ein wenig schräg und lächelte ihr halbes Lächeln.
»Seltsam, dich schon so bald wieder zu treffen. Nachdem wir uns so lange nicht gesehen haben.<
Mir erschien es nicht seltsam. Allenfalls kam es mir erschreckend normal vor, wieder hier mit ihr zu sitzen. Alles war anders geworden seit damals, aber diese ungebetene, unwillkürliche Vertrautheit war irgendwie noch da.
Sie sah gut aus, und das sagte ich ihr auch, aber eigentlich meinte ich damit, dass sie sich nicht verändert hatte.
Ihre Augen führten eine rasche Inspektion meines Gesichts durch. »Du siehst auch gut aus. Du wirkst lockerer.«
»Na ja, ich hatte fünfzehn Jahre Zeit, mir zu überlegen, was ich vom Leben will.<
Sie nickte. Ich war froh, dass sie mich nicht fragte, was.
Eine Weile schwieg sie, und als sie wieder aufsah, hatte sich ihr Gesichtsausdruck verändert.
»Was ich dich fragen wollte…« Sie suchte nach Worten. »Denkst du noch an...?«
Es war das Thema, das zwischen uns immer gegenwärtig war. Und immer sein würde. Der Ventilator, das zerwühlte Bett, Gabriellas Stimme unten …
»Ja«, antwortete ich langsam. »Ich denke die ganze Zeit an sie.«
Einen Moment lang wandte sie den Blick ab. Draußen spritzten Autos und Busse durch den trüben Novembertag.
»Ich weiß, wie viel sie dir bedeutet hat, John«, sagte sie leise. Ein verlegenes Schweigen trat ein. »Das ist alles so lange her«, fuhr sie dann fort. »Wir hätten längst darüber reden sollen. Hast du seitdem niemanden mehr kennen gelernt?«
»Ich glaube, ich wollte nicht. Und du?«
Sie sah achselzuckend auf ihren Kaffee hinab. »Ich hatte so viel zu tun.<
»Karl Anderson scheint dich zu mögen.«
»Ja.« Es klang hart, abwehrend, aber sie hatte sich schnell wieder im Griff. »Er ist ein guter Kerl, Fitz«, fuhr sie ruhiger fort. »Ja, ich weiß, er ist kommerziell geworden, und das finden manche unverzeihlich. Aber sie haben ihn selbst dazu getrieben - all die Universitätsleute, die ihm keine Chance gegeben haben. Insgeheim macht ihm das schon noch zu schaffen. Er kann es sich nur nicht erlauben, es zu zeigen.«
»Will er dich heiraten?«
Wieder zuckte sie die Schultern. »Das ist kein Thema.«
»Für ihn?<
»Für uns beide.«
Ich stellte meine Tasse ab und sah sie an.
»Hör zu, Gabriella, du musst mir unbedingt sagen, was los ist.«
»Wie - zwischen Karl und mir?<
»Mit dem Ulieta-Vogel. Irgendwas verschweigst du mir doch.«
Sie pustete über ihren Kaffee.
»Ich weiß nicht, wovon du redest. Karl will ihn finden, das ist alles.«
Ich stellte meine Tasse ab und sah sie durchdringend an.
»An dem Abend, an dem wir uns getroffen haben, ist bei mir eingebrochen worden. Und gestern wieder; meine Notizen wurden durchwühlt. Irgendjemand legt sich mächtig ins Zeug, um diesen Vogel zu finden. Warum? Was ist er wirklich wert? Ich komm nicht dahinter, aber ich müsste nicht ganz bei Trost sein, um nicht zu wissen, dass er sehr viel mehr wert ist, als alle behaupten.«
Gabriella schüttelte den Kopf und hielt meinem Blick unbeirrt stand.
»Nein, Fitz. Was Karl gesagt hat, stimmt. Dieses Exemplar ist eine Menge wert, aber nicht viel mehr, als Karl dir geboten hat.«
»Warum sind dann alle so scharf drauf?« Ich wurde allmählich wütend. »Hör mal, ich werde nicht wie ein Idiot hier herumsitzen. Ich will wissen, was los ist. Irgendwas muss doch an dem Vogel sein, was ihn so wertvoll macht, und ich will wissen, was. Sonst...<
Sie zog die Brauen hoch, bewusst provokativ.
»Sonst wende ich mich an die Presse. Die wissenschaftlichen Zeitschriften. Dann weiß alle Welt, dass Anderson auf der Jagd nach dem einzigen Exemplar des Ulieta-Vogels ist. Und wenn es wirklich existiert, wird er es niemandem verkaufen können. Jedenfalls sehr lange nicht. Man wird es auf der Stelle mit einem Ausfuhrverbot belegen, und es bleibt noch Jahre hier, während sich die Leute darum streiten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Anderson das gefallen würde.<
Ich weiß nicht, was für eine Reaktion ich erwartet hatte, aber Gabriella wirkte weder ängstlich noch trotzig, als sie sich vorbeugte und meine Hand nahm.
»Ach, Fitz, du kapierst es wirklich nicht, oder?« Sie schüttelte den Kopf. »Verstehst du denn nicht? Hier geht es um mehr als nur um deinen kostbaren Vogel. Der interessiert im Grunde niemanden. Ja, ich weiß, dich schon, und es stimmt auch, dass Ted Staest ein paar tausend Dollar dafür zahlen will. Vielleicht auch mehr, wer weiß? Das gibt eine ziemlich gute Story. Aber deswegen ist Karl nicht mitten im Winter hierher gekommen. Er ist nicht hinter dem Vogel her.«
»Hinter was dann…?« Ich zwinkerte ihr zu und kam mir dumm vor, und es war mir peinlich, dass es mir anzumerken war. »Hinter was ist er dann her?«
Gabriella löste meine Finger von meiner Tasse und nahm sie zwischen ihre Hände. Erst wollte ich sie wegziehen, aber dann ließ ich sie gewähren.
»Ich sollte es dir nicht sagen«, begann sie. »Ich hab’s versprochen. Nur Karl weiß es und vielleicht noch ein paar andere Leute, die Wind davon bekommen haben.<
»Von was?« Ich schloss meine Hand um ihre.
»Das ist eine längere Geschichte. Hast du mal von einem französischen Künstler namens Roitelet gehört?«
In meinem Gedächtnis regte sich etwas.
»Der Name kommt mir irgendwie bekannt vor.«
»Niemand kennt ihn so richtig. Er war Pflanzenmaler, in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts, aber das ist schon so ziemlich alles, was man weiß. An einer der großen Expeditionen hat er offenbar nicht teilgenommen, aber er muss gereist sein, denn er kam mit einer Sammlung ganz erstaunlicher botanischer Bilder zurück. Zwanzig insgesamt. Früchte, Blumen. Brillant, intelligent, wunderbar beobachtet. Sie waren anscheinend etwas ganz Besonderes. Die Pflanzenmalerei florierte damals ohnehin, aber Roitelet war der Beste weit und breit.«
»Wieso ›anscheinend‹?«
»Der Besitzer bewahrte die Sammlung in seinem Haus in Paris auf, und während der Pariser Aufstände wurde das Haus geplündert. Nur drei Bilder sind erhalten geblieben, und die sind unglaublich begehrt. Eines davon wurde letztes Jahr in New York versteigert. Es hat über hunderttausend Dollar gebracht.<
Das war zwar eine stattliche Summe, aber kein Grund für einen solchen Wirbel.
»Okay... Und was hat das mit dem Ulieta-Vogel zu tun?«
Gabriella lächelte.
»Da wird die Sache kompliziert. Das ganze neunzehnte Jahrhundert über kursierten Gerüchte über eine weitere Sammlung von Roitelet-Bildern, eine komplette zweite Mappe, die irgendwie nach England gelangt sein sollte. Es gibt verschiedene Quellen für diese Gerüchte, aber die wichtigste ist ein Brief, den ein gewisser Finchley um die Mitte des Jahrhunderts verfasst hat. Dieser Finchley war ein Landadliger in den Midlands und auch eine Art Gelehrter. Um 1850 schrieb er an einen Freund, der botanische Bilder sammelte.<
Sie löste ihre Hand aus meiner und trank von ihrem Kaffee.
»Weiter.« Mir war noch nicht klar, worauf sie hinauswollte.
»Der Brief erzählt scherzhaft von etwas, das Finchley auf einer Fahrt durch Lincolnshire erlebt hat. Er hatte von einem Mann gehört, der ein präpariertes Exemplar eines seltenen Vogels besitzen sollte, und aus Neugier machte er den Mann ausfindig und schaute sich den Vogel an. Nach seiner Beschreibung und dem, was er darüber erfuhr, scheint es so gut wie sicher zu sein, dass es sich um den Ulieta-Vogel handelte - der offenbar noch intakt war. Aber darum geht es in dem Brief nur nebenbei. Das Faszinierende für Finchley war ein Vorfall, der sich ereignete, nachdem er den Vogel inspiziert hatte. Der Besitzer bestand darauf, die Vitrine zu öffnen, in der er ihn aufbewahrte, und Finchley einige Papiere zu zeigen, die unter dem grünen Tuch versteckt waren, auf dem der Vogel stand. Finchley konnte es kaum fassen: Es waren Bilder von Roitelet, zwölf Stück, in tadellosem Zustand, alles Studien von englischen Wildblumen. Der Mann hatte offenbar keine Ahnung, was sie wert waren, und er zeigte sich anscheinend auch nicht besonders interessiert, als Finchley es ihm mitteilte. Der Vogel sei ein Familienerbstück, erklärte er, genau wie die Bilder, und sie könnten sehr gut da bleiben, wo sie seien. Seinem Brief nach zu schließen, fand Finchley das Ganze sehr amüsant. Er versichert seinem Freund, die Sturheit des alten Mannes hätte seine großzügigen Angebote für die Bilder weit in den Schatten gestellt, und er lässt keinen Zweifel daran, dass wohl kein Reichtum der Welt die Bilder von der Stelle bewegen könnte.<
»Verstehe...« Gabriella hatte mir gesagt, was ich wissen wollte, aber es stellte mich nicht sonderlich zufrieden. »Ist das nicht alles ein bisschen dürftig? Selbst wenn irgendwo im hintersten Lincolnshire tatsächlich eine Sammlung französischer Bilder aufgetaucht ist, dann wird sie doch auf keinen Fall noch dort sein. Und auch nicht bei dem Vogel. Generationen hatten seitdem Gelegenheit, sie zu verkaufen. Da kann alles Mögliche passiert sein. Wenn jemand über Finchley von ihnen gehört hat, hätte er dann nicht geschaut, dass er sie in die Finger kriegt?«
Gabriella nickte, die Hände noch um ihre Tasse gelegt.
»Sollte man meinen, nicht wahr? Nur sind nie irgendwelche anderen Roitelets aufgetaucht. Es gibt nur diese Gerüchte. Wenn irgendein Sammler sie ergattert hätte, dann müsste die Kunstwelt doch davon wissen. Es sieht auch so aus, als hätte sich Finchley bewusst nicht näher dazu geäußert, wo er den Vogel gefunden hat und wem er gehört hat. Fast als wollte er seinen Freund damit ärgern. Also können die Bilder immer noch irgendwo sein. Und ein Weg, sie zu finden, würde über den Vogel führen.<
»Man wollte mich also benutzen, um die Bilder aufzuspüren.« Das ergab einen Sinn, und der gefiel mir nicht besonders.
»Nicht benutzen, Fitz. Karl wusste, dass du an der Sache interessiert sein würdest, und er wollte dir das Geld für den Vogel gern überlassen. Er hat etwas entdeckt, das ihm verraten könnte, wo er sich befindet.<
»Ich weiß. Einen Brief.« Ich sah sie an. »Was du mir da erzählt hast - diese Gerüchte über verschollene Bilder -, klingt alles ein bisschen vage, findest du nicht? Anderson ist Geschäftsmann. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er für so etwas Geld ausgibt. Seine Chancen, überhaupt auf irgendetwas zu stoßen, müssen minimal sein.<
»Zwölf Bilder von Roitelet, Fitz. Wenn sie nur halb so gut sind wie die bekannten, wären sie immer noch eine Sensation. Und wenn jedes für hunderttausend Dollar verkauft wird... Na, du kannst es dir ja ausrechnen. Die ganze Mappe, als Sammlung, wäre wahrscheinlich noch mehr wert. Die Sache hat nur einen Haken.«
»Und welchen?«
»Karl hat Probleme, den Vogel zu finden.«
Mein Herz machte einen Satz. »Was für Probleme?«
»Er erlebt immer wieder Rückschläge.« Gabriella beugte sich ein wenig näher zu mir, ernst und eindringlich; schön auf eine Art, wie man sie in den Cafés von Bayswater normalerweise nicht findet. »Es hängt mit einem Hausverkauf zusammen. Karl hat die Spur des Vogels bis zu irgendeinem großen Haus verfolgt, das nach dem Krieg abgerissen wurde. Er dachte schon, er wäre am Ziel, aber der Vogel war nicht da, wo er ihn vermutet hat. Jetzt gehen seine Leute noch mal alle Verkaufsunterlagen durch, um herauszufinden, was sie übersehen haben.<
»Interessant. Weißt du, wo dieses Haus war?«
»Nein, Karl hat es mir nicht gesagt. Aber ich weiß, dass er im Moment in Lincolnshire ist.« Sie sah auf ihre Hände hinab. »Ist dir eigentlich irgendetwas eingefallen, das dich weiterbringen könnte?<
Ich beschloss, ihr zu vertrauen. »Hör zu, Gabriella, ich behaupte nicht, ich hätte was Brauchbares gefunden, aber ich habe eine Idee, der ich nachgehen möchte. Es geht um eine Frau, die Joseph Banks als junger Mann gekannt hat. Ich weiß nicht, was sie mit dem Vogel zu tun hatte, aber ich glaube, es gibt da eine Verbindung. Vielleicht kommt auch nichts dabei raus, aber das werde ich ja sehen.<
»Und wenn du findest, was du suchst?«
Ich senkte einen Moment lang den Blick. »Erst mal muss ich es finden. Dann können wir darüber reden.«
Sie lehnte sich zurück und zog die Brauen hoch. »Wer weiß, John, vielleicht steckt doch ein bisschen was von deinem Großvater in dir.« Sie hob die Hände hinter den Kopf, begann, ihr Haar neu festzustecken, und warf mir ein warmes, liebevolles Lächeln zu. »Und da es in deinem Leben niemanden gibt, der eifersüchtig sein könnte, könntest du mich heute Abend eigentlich zum Essen einladen.«
 
Gabriellas Einstellung zu meinem Großvater hatte mich immer fasziniert. Eigentlich war er ein Mensch von der Sorte, die sie zutiefst verachtete, ein reicher, arroganter Angelsachse, der den Rest der Welt als Erlebnispark betrachtete und nach Tier- und Pflanzenexemplaren ausplünderte, als sei es ein Spiel. Schwer vorstellbar, dass er für ihre überkorrekte Art der Konservierung Zeit gehabt hätte. Trotzdem hatte ich bei Gabriella immer so etwas wie einen widerwilligen Respekt für ihn gespürt. Vielleicht weil beide bereit gewesen wären, ihr Leben ganz in den Dienst der Verwirklichung ihrer Träume zu stellen.
Mein Großvater Hugh Fitzgerald nahm sich schon früh eine Frau. Der Krieg hatte ihn gezwungen, seine Pläne hinsichtlich des afrikanischen Pfaus auf Eis zu legen, und nach vier Jahren an der Westfront lernte er meine Großmutter kennen, eine ziemlich scheue Siebzehnjährige, zwölf Jahre jünger als er. Wenn nicht gleich Kinder kamen, wie es damals erwartet wurde, so vermutlich deshalb, weil er ein weitgehend abwesender Ehemann war. Nach der Hochzeit brachte er sie ins Haus seiner Mutter in Devon und reiste fast unmittelbar danach als Teilnehmer einer Expedition, die fast zwei Jahre dauerte, nach Mittelamerika. Nach seiner Rückkehr hielt er sich viel in seinem Londoner Club auf und versuchte sein nächstes Unternehmen vorzubereiten.
Doch zu seinem Unglück veränderte sich dieser gewohnte Gang der Dinge allmählich. Während seiner Besuche in London erzählte er jedem, der es hören wollte, des Langen und Breiten von seiner Überzeugung, dass es in Afrika Pfauen geben müsse, und bald haftete ihm ein entsprechender Ruf an. Das Establishment war Exzentrikern gegenüber misstrauisch, aber mein Großvater merkte nicht, wie er zum Fanatiker wurde. 1926 verstärkte sich dieser Eindruck noch, als er den Auftrag erhielt, einen Trupp Bergbauingenieure nach Westafrika zu bringen. Seine Hauptaufgabe bestand darin, sie wohlbehalten ins Landesinnere und wieder zurück zu führen, und nach allem, was man hörte, erfüllte er diese Pflicht auch recht kompetent. Am Ende der Expedition fuhr er jedoch nicht nach England zurück, sondern machte kehrt und zog mit nur wenigen einheimischen Führern wieder in den Urwald. Obwohl Hunderte von Meilen vom Fundort der geheimnisvollen Feder entfernt, hatte er es sich in den Kopf gesetzt, die Suche wieder aufzunehmen.
Fast zehn Monate hörte man nichts mehr von ihm, und als er endlich wieder aus dem Urwald auftauchte, war er vom Fieber zerrüttet. Eine Zeit lang schwebte er zwischen Leben und Tod, dann wurde er nach Devon zurückgebracht, wo seine Frau ihn geduldig pflegte. Unter ihrer Obhut überstand er die Krise, auch wenn er wohl nie wieder ganz zu Kräften kam. Erst knapp drei Jahre später fand er sich wieder in London ein, doch inzwischen hatte sich die Situation grundlegend geändert. Jedermann wusste von seinem ungeplanten Ausflug in den westafrikanischen Urwald, und man sah darin den Beweis dafür, dass ihm nicht mehr zu trauen sei. Zudem war die recht draufgängerische viktorianische Tradition der Entdeckungsreisen, die er verkörperte, mittlerweile aus der Mode gekommen.
Wenn ich aus alldem etwas zu lernen hatte, so genügte die Aussicht auf einen Abend mit Gabriella, um es auf später zu verschieben. Wir trafen uns in Soho in einem schicken französischen Restaurant mit abgebeiztem Kiefernholzmobiliar, wo wir hinter riesigen Speisekarten saßen und uns über Themen unterhielten, die nichts mit Karl Anderson zu tun hatten. Gabriella war schon immer eine gute Gesellschafterin gewesen, und an diesem Abend übertraf sie sich selbst. Wir tranken Weißwein, und im Verlauf des Abends wurde sie ziemlich kühn und erzählte mir alle möglichen skandalösen und wahrscheinlich verleumderischen Geschichten über gemeinsame Bekannte. Auch als wir auf den Naturschutz zu sprechen kamen, änderte sich die Stimmung nicht. Sie beugte sich vor und spann ihre Träume, und ich fand in ihren Worten die Laute und Farben des Regenwaldes wieder. Der Wein stimmte mich wohl sentimental, denn ich merkte, dass ich sie vermisste.
Gabriella strahlte. Es gab nach wie vor Unstimmigkeiten zwischen uns, aber an diesem Abend spielten sie keine Rolle mehr. Ungehindert strömte die alte Wärme zwischen uns. Später, als wir uns vor dem Mecklenburg Hotel verabschiedeten, kam ein Moment, den ich nicht hätte beschreiben können, eine kurze Stille, in der eine unausgesprochene Frage zwischen uns stand. Ich zögerte, und Gabriella lächelte ein wenig traurig und küsste mich dann auf die Wange.
»Gute Nacht, Fitz«, sagte sie und ging davon. Ich stand im Dunkeln und blickte ihr nach, als sie hinter den einladenden Lichtern des Hotels verschwand.
 
Am nächsten Tag kam Katya zurück. Da sie vorher nicht angerufen hatte, wusste ich von nichts, bis ich am Abend ihren Schlüssel im Schloss hörte. Sie wirkte müde, fast ein wenig ausgelaugt, und auch älter, was möglicherweise an ihrer Kleidung lag: In Rock und Bluse, das Haar zu einem straffen Knoten hochgesteckt, sah sie so anders aus als die Katya, die ich kannte, dass ich erst einmal zwinkern musste.
»Was ist?«, fragte sie, als sie meine Miene sah. »Ach so, das. Mein Vater ist der Meinung, dass er mich seinen Freunden nur dann vorstellen kann, wenn ich so aussehe.<
»Tut mir Leid«, sagte ich etwas verlegen. »Komm, setz dich, ich hol dir ein Bier.<
»Klingt gut.« Sie löste ihr Haar, sodass es locker um ihr Gesicht fiel, ergriff dann ein paar Strähnen und hielt sie hoch, um sie zu betrachten. »Die Kleider waren schon schlimm genug, aber dann musste ich mir auch noch Vorträge über meine Haare anhören. Die sind schwarz gefärbt. In Wirklichkeit sind sie ganz unscheinbar braun.<
In der Küche ließ sie sich auf einen Stuhl fallen und schaute zu, wie ich die Bierflaschen öffnete. Plötzlich bemerkte sie den kaputten Fensterriegel. Sie sprang auf.
»Was ist passiert?<
»Es hat sich ein bisschen was getan. Ich erzähl’s dir gleich.«
»Hat schon wieder jemand eingebrochen? Hat er was mitgenommen?«
Ich schüttelte den Kopf und lächelte.
»Hier gibt’s nichts mitzunehmen.«
»Wieso dann?<
»Offenbar steckt hinter der Sache mit dem Vogel sehr viel mehr, als wir dachten. Das ist eine lange Geschichte. Aber keine Sorge, es ist alles in Ordnung. Erzähl erst mal, was du so getrieben hast. Hier, nimm einen Schluck. Es sei denn, du bist zu fein angezogen, um aus der Flasche zu trinken.«
Da lachte sie wie die Katya, die ich kannte.
»Okay, ich zuerst.« Sie reckte sich vergnügt. »Das Beste weißt du schon. Das, was ich dir am Telefon gesagt habe. Ich dachte, ich finde noch viel mehr, und war schon ganz aufgeregt, aber ich glaube, diese Papiere geben nichts mehr her, was wir wissen müssten. Deswegen hab ich auch nicht mehr angerufen. Ich hab darauf gewartet, dass ich noch auf was ganz Tolles stoße, aber da war nichts.<
»Du hast doch was Tolles gefunden. Es beweist, dass der Vogel Banks’ Sammlung überlebt hat. Und wir wissen jetzt genauer, wo wir suchen müssen.<
Sie konnte es kaum erwarten, mir von den Fabricius-Papieren zu erzählen. Ihre Müdigkeit schwand beim Reden, und sie lebte wieder auf. Die Korrespondenz, die sie durchgesehen hatte, drehte sich größtenteils um wissenschaftliche Themen. Nur sehr wenig bezog sich auf Fabricius’ Zeit in England - über diesen Teil seines Lebens hatte er sich offenbar nicht weiter geäußert -, und Banks wurde überhaupt nicht erwähnt. Außer dem Brief über den Ulieta-Vogel gab es noch zwei andere vom selben Verfasser, einem Franzosen namens Martin. In beiden ging es um Zeichnungen, die Fabricius kaufen wollte, aber der Ulieta-Vogel kam darin nicht mehr vor.
»Stört’s dich, dass ich das auf eigene Faust gemacht habe?«
»Nein, natürlich nicht.<
»Mir war nicht ganz wohl dabei. Eigentlich ist es ja deine Suchaktion. Es kam mir ein bisschen so vor, als würde ich da einfach reinplatzen...« Ihr Blick streifte mich. »Aber jetzt erzähl mal, was hier los war.<
»Hm, wo fang ich da am besten an? Die Offenbarung kam gestern, als ich mich mit Gabriella getroffen habe.«
»Ach, ja?« Sie trank von ihrem Bier, ohne mich anzusehen.
»Aber davor war ich in Lincolnshire. Und rate mal, was ich da gefunden habe?«
Katya saß ganz still, als ich ihr erzählte, wie ich in Lincoln gelandet und im Gästebuch des Hotels auf Karl Anderson gestoßen war. Sie hörte höflich zu, schien aber nicht so interessiert zu sein, wie ich erwartet hatte.
»Jedenfalls«, schloss ich, »kam am Ende nichts Großartiges dabei heraus...« Ich fasste in meine Jacke, die über meiner Stuhllehne hing. »Einmal hab ich schon gedacht, ich hätte was - hier, schau dir das an. Das ist meine Liste in Revesby geborener Frauen, deren Name mit B anfängt.<
Ich legte das Blatt auf den Tisch.
1. Jan. 1750 Mary, uneheliche Tochter von [keine Angaben]
29. Sept. 1753 Mary, Tochter von Richard Burnett & Ehefrau Elizabeth
18. April 1756 Mary, Tochter von James Browne & Ehefrau Susanna
20. Feb. 1757 Mary, Tochter von William Burton & Ehefrau Anne
18. Jan. 1761 Elizabeth, Tochter von James Browne & Ehefrau Susanna
»Ich war schon ganz aus dem Häuschen wegen Mary Burton, obwohl sie etwas später geboren ist, als ich gehofft hatte. Als ich dann noch gesehen habe, dass ihr Vater während Banks’ Reise gestorben war, dachte ich allen Ernstes, ich hätte eine heiße Spur...«
Ich sah auf und merkte, dass Katya gar nicht zuhörte. Ihre distanzierte Miene hatte sich verflüchtigt, sie starrte auf das Blatt, und ihre Lippen bewegten sich, als stellte sie irgendwelche Berechnungen an.
»Da, Fitz, schau mal!«, sagte sie aufgeregt und zeigte auf den zweiten Namen der Liste. »Das Jahr stimmt doch ungefähr, oder? Dann wäre sie sechzehn gewesen, als Banks abgereist ist, und neunzehn, als er zurückkam.<
»Ja...« Ich wusste nicht, worauf sie hinauswollte.
»Mary Burnett. Verstehst du?<
»Aber Burnett hört nicht mit N auf.«
»Dieser Brief...« Sie sah sich hilflos um. »In welchem Buch war der noch gleich? Der Brief, den Kapitän Cook zu Anfang seiner zweiten Reise geschrieben hat. Von einer Frau, die sich als Mann ausgegeben hat. Erinnerst du dich?«
Ich erinnerte mich an den Brief, sah aber nicht den Zusammenhang.
»Burnett. So nannte sich die Frau doch. Mr. Burnett.«
Ich war erst überzeugt, als wir nach oben gegangen waren und das Buch herausgesucht hatten. Katya hatte Recht gehabt.
Drei Tage vor unserer Ankunft verließ ein Mann des Namens Burnett die Insel. Er hatte etwa drei Monate auf Mr. Banks’ Ankunft gewartet; erst sagte er, er sei wegen der Wiederherstellung seiner Gesundheit hier, dann sagte er, seine Absicht sei es, mit Mr. Banks zu reisen, zu einigen sagte er, er sei diesem Herrn unbekannt, zu anderen sagte er, er sei auf dessen Geheiß gekommen, da man ihn in England nicht mehr an Bord habe nehmen können. Als er erfuhr, dass Mr. Banks nicht mit uns reiste, ergriff er die erste sich bietende Gelegenheit, die Insel zu verlassen. Er war von seinem Äußeren her ein eher gewöhnlicher Mensch und verbrachte seine Zeit mit Botanisieren etc. - Jeder Teil von Mr. Burnetts Betragen und jede seiner Handlungen deuteten darauf hin, dass er eine Frau war, ich bin keiner Person begegnet, die Vermutungen gegenteiliger Natur gehegt hätte.
»Was sagst du dazu?«, fragte sie triumphierend.
»Schwer zu sagen. Könnte auch Zufall sein.<
»Und sieh mal, da.« Katya nahm das Blatt, das ich auf den Tisch gelegt hatte. »Ihr Vater ist gestorben, als Banks unterwegs war. Es könnte doch sein, dass sie und Banks aus Gründen der Diskretion einen anderen Namen für sie benutzt haben, als sie seine Geliebte wurde. Das würde einleuchten. Und von Burnett zu Brown ist es nicht so weit.«
Ich lehnte mich zurück und betrachtete sie, bevor ich antwortete. »Das wird denen an der Universität aber nicht gefallen«, sagte ich. »Wir müssen noch mal nach Lincoln. Wann kannst du los?«
 
Wir fuhren durch das graue Licht eines Tages, der gar nicht richtig anzufangen schien, nach Norden. Die Ebene um Lincolnshire glitt in diversen Ocker- und Brauntönen vorüber. Die meiste Zeit schwiegen wir, während der Motor sich heiser abmühte, und fühlten uns durchaus wohl dabei, dass jeder seinen eigenen Gedanken nachhing. Ich fragte mich, wie viel Zeit uns noch blieb, bis wir diese wenig aussichtsreiche Jagd aufgeben und ins wirkliche Leben zurückkehren mussten. Ich brach bereits Brücken hinter mir ab, die ich später wahrscheinlich noch brauchen würde, aber solange dieses seltsame Intermezzo dauerte, war es einfacher, nicht an die praktischen Dinge zu denken, die ich hinter mir gelassen hatte. Katyas Gedanken schienen in eine ähnliche Richtung zu gehen, denn nach langem Schweigen fing sie plötzlich an zu lachen.
»Kaum zu glauben, was?«
Ich nickte. »Ja. Wir sind ganz schön verrückt.«
Sie lächelte nur und berührte meinen Arm, doch als ich sie ansah, war sie schon wieder in Gedanken und schaute auf die weiten Felder hinaus.
Wir kamen mitten am Nachmittag an, aber es schien schon später zu sein. Die Lampen im Hotel brannten bereits, und die Wärme drinnen versprach sofortige Behaglichkeit. Verträumtes Klavierspiel perlte aus der holzgetäfelten Bar herüber, und dem Geruch nach musste irgendwo ganz in der Nähe ein Holzfeuer brennen. »Wow!«, sagte Katya. »Schön. Und sehr englisch. Ob ich mir das leisten kann?«
»Das geht auf mich. Wenn wir den Vogel finden, zieh ich’s von deinem Anteil ab.<
Sie sah mich an, widersprach aber nicht. Das war noch so etwas, das ich nur zu gern losließ, eine Rechnung, mit der ich mich später befassen würde.
Wir checkten ein, brachten unsere Taschen auf die Zimmer und gingen dann durch die Straßen, damit Katya sich orientieren konnte. Es war Samstagabend und ruhig in der Stadt, aber inzwischen war es dunkel geworden und bitterkalt. Nach dem trüben Winterlicht war die Nacht fast eine Wohltat. Altmodische Laternen erleuchteten die Gassen um die Kathedrale, und was noch geöffnet war - ein Café, eine Buchhandlung, ein Restaurant -, warf einen einladenden Lichtschein auf das Kopfsteinpflaster. Wir schauten nach oben. Die Kathedrale zeichnete sich gegen den Himmel ab, die Wolkendecke darüber war aufgerissen, und man sah Sterne durchblinken. Es würde Frost geben.
An der Kathedrale angelangt, hörten wir Orgelmusik.
»Wollen wir reingehen und zuhören?«, fragte ich Katya.
»Ach, das ist nicht so mein Ding.« Sie legte ihre Hand auf meine Schulter. »Aber mach nur, wenn du möchtest. Ich geh ins Hotel zurück, unter die Dusche, zum Aufwärmen. Wir treffen uns dann in der Bar.<
Also ging ich allein hinein, saß im Dämmer des schwach erleuchteten Kirchenschiffs und ließ mich von der Musik einhüllen. Es war kein Gottesdienst, der Organist übte nur für die Abendandacht. Als ich wieder auf die Straße trat, fühlte ich mich entspannt und beruhigt und freute mich auf ein Glas Wein in der Hotelbar. Doch was ich sah, als ich dort eintraf, hatte ich nicht erwartet. In einer Ecke nahe dem Kamin hatte es sich Karl Anderson in einem der großen Ledersessel bequem gemacht. Ihm gegenüber, elegant und makellos in einem engen roten Kleid, saß Gabriella. Und zwischen ihnen reckte fast beiläufig eine Champagnerflasche ihren Hals aus einem großen silbernen Sektkübel.
 
 
 
Es war ein Winter der Träume und des Vergessens. Ende November fiel in Richmond Schnee, und er blieb bis Februar liegen, ein weißer Mantel, der sich über ihre Vergangenheit breitete und die Gegenwart umhüllte. Banks kam zu Pferde, eine dunkle Gestalt gegen das Weiß, und in den Falten seines Umhangs wurde der Schnee zu Eis. Im Haus knisterte das Feuer, die Luft war erfüllt vom Duft nach Glühwein. Traf er in der Abenddämmerung ein, brannten die Lampen schon für ihn, die Fenster leuchteten ihm rot entgegen, und in dem grünen Schlafzimmer färbten eine einzelne Lampe und das Kaminfeuer die rostroten Tapeten bernsteinfarben. Das Haus erschien ihm zeitlos, eingehüllt in Winter und Rauch, als könnte nichts, was in der Welt draußen geschah, dies je ändern. Es war ein langsamer Ritt von der Stadt hierher, die Straßen verschneit, seine Hände an den Zügeln taub, und doch genoss er ihn. Am Ziel angelangt, fühlte er sich frisch und rein, bereit für das Willkommen, das ihn erwartete. Wenn er tagsüber durch Sonne und blendendes Weiß trabte, Kinder auf zugefrorenen Teichen Schlittschuh laufen und alte Frauen Feuerholz sammeln sah, verfiel er in eine Art Rausch, so als würde er jedes Gesicht, das er erblickte, ein wenig lieben.
Sie hielt nie nach ihm Ausschau, aber bald waren ihr die Geräusche seiner Ankunft vertraut. Erst das Klirren des Zaumzeugs, dann ein Junge, der herbeigelaufen kam, um sein Pferd wegzuführen, dann Schritte, ein energisches Klopfen und das Mädchen, das zur Tür eilte. Darauf vernahm sie auch seine Stimme - undeutlich stets, aber tief und fröhlich. Bis zu diesem Augenblick setzte sie ihre Tätigkeit fort, dann legte sie ihre Sachen nieder, um aufstehen und ihn begrüßen zu können, wenn er eintrat. Am schönsten aber war seine Ankunft in tiefer Winternacht, wenn sich das Haus schon zur Ruhe begeben hatte. Dann war er bei einer Londoner Abendgesellschaft plötzlich aufgestanden, hatte sich entschuldigt und war nach Hause zurückgekehrt, wo er zur Bestürzung seiner Stallknechte ein Pferd verlangte. Manchmal schlief das ganze Haus schon, wenn er nach Richmond kam, und das Feuer war nur noch ein orangefarbener Schein im Fenster. Sie hörte Martha brummend zur Tür stapfen und ihn zum Schweigen bringen, wenn er sprechen wollte, und dann regte sie sich lächelnd und schlief wieder ein, bis sich knarrend ihre Tür öffnete. Mit geschlossenen Augen schlug sie ein Ende der Decke zurück und wartete, noch halb träumend, bis er sich die Hände am Feuer gewärmt hatte. Oft wachte sie tief in der Nacht auf und fand ihn schlafend an sie geschmiegt. Dann dachte sie voll Freude an den Morgen und schlief lächelnd wieder ein.
Kam er bei Tage, schob sie jeden Gedanken an ihre Arbeit beiseite, und sie verbrachten den Nachmittag am Feuer oder wanderten durch die froststarren Wälder, redeten von Dingen, die nicht so wichtig waren wie das Reden selbst. Manchmal waren es geistvolle Gespräche über Ideen, die alle Grenzen der Realität weit hinter sich ließen. Dann wieder unterhielten sie sich über Dinge, die sie zum Lachen brachten, aus Gründen, die sie sich später nie erklären konnten. Die Bäume und Felder ringsum, selbst die Wege mit ihren Räderfurchen, lagen leblos da und warteten auf den Frühling, um ihre Uhren wieder aufzuziehen. In dieser Zeit der Wintersonnenwende vergaß sie die Vergangenheit, die sie hierher gebracht hatte, und alle Zukunftsängste.
Für ihn war es, als tilgte der Schnee die Flecken der Vergangenheit, alles, was sein vollkommenes Glück trübte. Nachts träumten sie am Feuer von einer Welt, in der alles, auch sie selbst, so sein konnte, wie sie es sich wünschten.
»Du würdest hier bleiben und Pflanzen züchten«, sagte sie, »und eine Möglichkeit finden, auf deinen geliebten Fens Ananas anzubauen.«
»Zu kalt«, erwiderte er.
»Du würdest das Wasser über unterirdische Röhren heizen, und die Leute würden sogar von Brasilien kommen, um darin zu baden.«
Er sann darüber nach. »Dann würdest du durch die Grafschaften Englands reisen und das Standardwerk über Moose und Flechten schreiben. Du würdest an den Innenwänden aller unserer großen Bauwerke Moos ziehen, damit die Besucher es bequemer studieren könnten. Und zum Lohn deiner Mühen würde man dich einstimmig in die Royal Society wählen.«
»Zu jung und nicht als Frau.«
»Du würdest unter dem Namen Tom Brown der Ältere schreiben. <
»So! Und ich soll immer nur Flechten zeichnen?«
»Also gut, dann würdest du mit mir um die Welt reisen und zeichnen, was ich zusammentrage. Unsere Sammlung würde ein Weltwunder werden.<
»Eine Frau auf See?«
»Ich würde dich als Jungen verkleiden.«
»Nur um der Kunst willen?« Sie hob ihm ihr Gesicht entgegen, und ihre Lippen streiften sacht seinen Hals.
»Nun ja«, sagte er nachdenklich und musste lächeln, »vielleicht nicht nur wegen deiner Zeichnungen.« Abrupt zog er sie an sich und küsste sie auf ihren lachenden Mund.
 
Als sich der Februar dem Ende zu neigte, wurde der Schnee allmählich zu Wasser und der Ritt beschwerlicher. Die Zeit hatte sie eingeholt, und der tiefer werdende Matsch war eine Warnung. Nur vier Monate blieben ihnen noch, bis er mit der Resolution auslaufen sollte.
Die Stunden, die sie miteinander verbrachten, wurden ruhiger, die Abschiede schmerzhafter. Keiner mochte an das Ende denken, und doch taten sie es jeden Tag. Beiden kam das Spielerische abhanden. Lachten sie noch zusammen, so war etwas Unbändiges dabei, der verzweifelte Wunsch, den Augenblick festzuhalten, solange es nur irgend ging. Statt spazieren zu gehen, saßen sie jetzt lange Stunden beisammen und berührten sich öfter.
Eines Nachts schließlich - sie lagen aneinander geschmiegt, und nur das Feuer erleuchtete den Raum - sagte er: »Komm mit mir.<
Sie lag halb auf ihm, den Kopf auf seiner Brust, ein Bein zwischen seinen. Sie mochte geschlafen haben, doch bei seinen Worten hob sie den Kopf. Das Feuer hinter ihr glühte sanft. Er hatte erwartet, dass sie lachen, ihn necken würde, aber sie sah ihn unverwandt an.
»Das könnte ich nicht«, sagte sie schließlich.
»Doch!« Von plötzlicher Energie gepackt, schob er sie von sich und kniete sich neben sie. »De Commerson hat es auch so gemacht. Seine Geliebte ist als sein Page verkleidet mit ihm um die Welt gereist. Sie hat die Ostindischen Inseln gesehen, China, Indien, die schönsten, erstaunlichsten Orte!«
»Aber es blieb nicht verborgen«, sagte sie ruhig. »Am Ende wurde sie entlarvt.«
Sie kniete sich ebenfalls hin und sah ihn an. Sein Elan wirkte ansteckend.
»Du könntest auf Madeira an Bord kommen«, fuhr er fort, »weit weg von neugierigen Blicken. Ich würde Cook sagen, dass einer unserer Zeichner dort zu uns stößt.<
»Joseph! Das ist unmöglich - eine Frau auf See, die sich als Mann ausgibt. Die Unterkünfte an Bord...<
»Ich habe dieses Mal mehr Platz für meine Leute, das ist bereits geregelt. Ich werde eine zusätzliche Kabine verlangen, neben meiner, das wird man mir nicht abschlagen.<
Sie wandte den Blick ab, versuchte, sich vorzustellen, wie sie mit kurz geschnittenem Haar und engem Wams aussehen würde.
»Überleg doch nur!«, rief er. »Du könntest die Ozeane, die Tropen, alles, worüber wir immer reden, mit eigenen Augen sehen. Du könntest mit mir auf unkartiertem Land stehen, das Kreuz des Südens am Nachthimmel suchen. Du könntest das Salz im Wind riechen, wenn wir ums Kap der Guten Hoffnung segeln. Alles, was du dir ausgemalt hast, könntest du selbst betrachten! Überleg es dir! Stell dir vor, wie es sein könnte!<
Es war unmöglich, das wusste sie, Hirngespinste, den langen Nächten mit ihren Wintersternen entsprungen. Doch der Feuerschein wob seine Worte zu leuchtenden Bildern, und ihre geheimsten Träume schienen für einen Augenblick in Reichweite zu rücken. Sie war bereit, viel zu riskieren, um nur einen von ihnen zu berühren. Und was riskierte sie schon? Nur ihn. Und ihn würde sie ohnehin verlieren.
Eine Woche später rollte eine Kutsche in den wimmelnden Hof der Bell Post, einer gut besuchten Kutschstation eine halbe Tagesreise von London an der Straße nach Bath. Es war eine einfache Kutsche, und der Bediente, der vom Bock sprang, um den beiden Insassen herauszuhelfen, trug keine Livree. Sie waren gut, wenn auch unauffällig gekleidet. Niederer Landadel, dachte der Wirt, der sie begrüßte und in ein Privatzimmer führte. Ihre Kleider sagten ihm mehr als ihre Gesichter, und er war zu beschäftigt, um die Besorgtheit des einen und die Blässe des anderen zu bemerken. Die Frau, die ihnen aufwartete, schaute genauer hin, doch ihre Aufmerksamkeit galt dem Größeren der beiden. Ein gut aussehender Mann, dachte sie, mit gefälligen Manieren und schönen Augen. Ganz auf ihn konzentriert, beachtete sie seinen schlanken, schweigsamen Begleiter kaum, sonst hätte sie sich vielleicht über seine feinen Züge gewundert. Auch der Junge aus der Schankstube, der herbeieilte, um ihnen die Tür aufzuhalten, als sie wieder aufbrachen, achtete kaum auf all die Reisenden, die täglich kamen und gingen, erinnerte sich aber noch lange an die Goldmünze, die ihm in die Hand gedrückt wurde.
Niemanden kümmerte es, dass die Kutsche, als sie abfuhr, wieder die Straße nach London nahm, von wo sie gekommen war.
 
Sie wusste von Anfang an, dass sie sich etwas vormachten. Ihre Versuche waren allzu einfach, allzu abhängig von der Gedankenlosigkeit anderer. Weitere Ausflüge folgten dem ersten, und das Ergebnis war stets das Gleiche. Sie musste niemanden täuschen - man beachtete sie gar nicht. Das mochte für die Fahrt nach Madeira genügen, auf der ein ruhiger Reisender, der in seiner Kabine blieb, unter den vielen anderen nicht auffallen würde. Von einer gelegentlichen Essensbestellung abgesehen, würde sie kaum sprechen müssen. Und für die Mannschaft eines voll besetzten Schiffes, so versicherte ihr Banks, waren selbst seekranke Passagiere etwas zu Alltägliches, als dass sie Neugier erregt hätten. Solange ihre Passage bezahlt war und sie keinen Ärger machte, würde man sie mehr oder weniger ignorieren.
Auf Madeira aber, das wusste sie, würde es anders sein. Er wollte ihr Briefe an eine englische Familie mitgeben, die sich zwangsläufig für ihren Gast interessieren würde. Selbst wenn sie ihre Tage damit zubrachte, in den Hügeln zu botanisieren, könnte sie nicht verhindern, dass man Vermutungen über sie anstellte. Tief im Innern wusste sie, dass der Plan nicht gelingen konnte, und sie zitterte bei dem Gedanken an eine schmähliche, demütigende Entdeckung. Doch in welcher Form? Durch Empfehlungsschreiben geschützt, würde sie gewiss nicht öffentlich entlarvt werden. Wer etwas ahnte, würde es ihr nicht ins Gesicht sagen, sondern eher mit anderen darüber reden. Die Vorstellung, solchermaßen der Lächerlichkeit preisgegeben zu werden, schockierte sie, aber was konnte sonst schon passieren? Scheiterte sie auf der ganzen Linie, würde sie, wieder inkognito, mit dem nächsten Schiff nach London zurückkehren. Banks würde sie dann keinen Schaden zugefügt haben. Und bis es so weit war, würde sie schon viel Neues gesehen, eine fremde Pflanzenwelt studiert und Zeichnungen angefertigt haben, die ihr niemand mehr nehmen konnte.
Selbst wenn man sie auf Madeira zunächst nicht entlarvte, dann spätestens, wenn die Resolution eintraf. Cook würde sich nicht täuschen lassen; seinen Scharfblick hatte Banks stets gerühmt. Irgendwann würde er die Wahrheit erfahren, und was dann? Trat dieser Fall gleich zu Beginn ein, konnte sie sich errötend davonstehlen, Joseph konnte sich rehabilitieren und die Reise fortsetzen. Er konnte den Vorfall mit einem Lachen abtun, und am Ende der dreijährigen Reise würde er vergessen sein. Doch was, wenn alles erst auf hoher See herauskam? Konnte sie mit diesem Gedanken leben? Die Demütigung würde kaum zu ertragen sein, und an ein rasches Entkommen wäre nicht zu denken. Aber so schrecklich es auch werden mochte - sie würde an Bord sein, wenn das Schiff den Äquator überquerte, wenn es in Rio de Janeiro einlief. Bestand Cook darauf, dass sie dort von Bord ging, würde sie dennoch Träume gelebt haben, an deren Verwirklichung sie nie zu glauben gewagt hätte.
Und noch etwas war da, ein Gedanke, so erregend, dass sie ihn Banks gar nicht erst zu erklären versuchte: Von London bis Madeira und auf der Insel selbst würde sei allein unterwegs sein. Ohne Anstandsdame und ohne Gefährten. In allem würde sie auf sich selbst gestellt sein. Es war ein Bild der Unabhängigkeit, an das sie in ihrer jetzigen Welt nicht einmal denken konnte, und schon ein flüchtiger Blick darauf wühlte sie auf. Hohn und Spott, Verachtung, ja selbst Abscheu - das alles konnte schmerzen, ihr aber nicht wirklich schaden. Bei ihrer Rückkehr würde es sich verflüchtigen; bleiben würde nur, was sie für sich in Besitz genommen hatte.
Derlei Dinge beschäftigten Banks kaum. Es kann gefährlich werden, verliebt und Optimist zu sein. Noch immer ein wenig berauscht von seinen Erfolgen, war er der festen Überzeugung, sein Plan würde gelingen, weil er selbst dafür Sorge tragen würde. Die praktischen Belange traten hinter seiner Entschlossenheit, sie zu meistern, zurück. Doch auch ihm wurde ab und an unbehaglich zumute. Nachts lag er jetzt mitunter wach, voller Angst, sie könnte am Morgen nicht mehr da sein. Dann beobachtete er ihren Schlaf, betrachtete sie, wie sie in ihre Decken geschmiegt lag und kaum wahrnehmbar atmete. Überwältigende Zärtlichkeit wallte in ihm auf, und ihre Pläne erschienen ihm nur noch lachhaft. Dass sie allein reiste, war eine ungeheuerliche Torheit, zu der er sie angestiftet haben und die nichts anderes beweisen würde als seine kolossale Selbstsucht. Am Morgen, so schwor er sich, würde er alles rückgängig machen, doch wenn der Schlaf ihn wieder einholte, verdrängte ihre Nähe seine Ängste, er besann sich auf ihren Mut, ihre außergewöhnliche Kühnheit, Stolz auf sie erfüllte ihn, und schließlich verschwammen seine Gedanken, und er glitt in die Gewissheit des Schlafes hinüber.
Mit Anbruch des Frühlings wurde es schwieriger für ihn, seiner Londoner Welt zu entfliehen. Der Druck, der auf den Vorbereitungen für diese zweite Reise lag, war von anderer Art als beim ersten Mal. Damals hatte es nicht die Last der Erfahrung gegeben, nicht die Avancen zahlloser Botaniker, Taxonomen, Philosophen, Geistlicher, Uhrmacher, Schiffsausrüster, Erfinder, Künstler, Spekulanten, Kaufleute, Schneider, Bettler und optimistischer jüngerer Söhne. Alle wollten ihn kennen, Unternehmungen vorschlagen, ihren Rat anbieten, ihre Talente darlegen oder ganz unverhohlen Bevorzugung beanspruchen. Und was noch schlimmer war: Die Pläne für seine Leute und ihre Unterbringung an Bord gerieten ins Stocken.
Er konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Cook selbst das Problem war. Für die erste Reise hatte der Kapitän kein Kriegsschiff gewählt, sondern ein gedrungenes Kohlenschiff aus Whitby mit vier Metern Tiefgang, so langsam wie stabil. Die Endeavour hatte ihnen gute Dienste geleistet, aber es war ein kleiner, beengter Schiffstyp, der Banks’ Zielen für die zweite Reise nicht mehr gerecht wurde. Die Admiralität, von der Wichtigkeit dieser Reise überzeugt, war bereit, Cook, sofern er es wünschte, ein größeres Schiff zur Verfügung zu stellen, eines, das sowohl Banks’ wissenschaftlichen als auch seinen persönlichen Plänen Rechnung trug. Zu seiner Bestürzung aber lehnte Cook eine Fregatte ab, er bestand auch diesmal auf einem Kohlenschiff, und seine Geldgeber bestärkten ihn darin. Banks’ Enttäuschung über diese Entscheidung äußerte sich in immer gereizteren Briefen an die Admiralität, in denen er die Notwendigkeit einer größeren Zahl von Begleitern und der entsprechenden Unterkünfte hervorhob. Inzwischen hatte er mehr Einfluss, und die Admiralität stimmte gewissen Ausbauten auf der Resolution zu, durch die der nötige Platz gewonnen werden sollte.
In gewisser Weise war das ein Sieg, doch Banks war weiterhin gekränkt, dass man seiner Empfehlung eines größeren Schiffs nicht mehr Gewicht beigemessen hatte. Und was noch schlimmer war: Die ganze Sache hatte einen Konflikt mit Cook heraufbeschworen, einem Mann, den er respektierte und mit dem er sich stets einig gewesen war. Das brachte seine Zuversicht ein wenig ins Wanken, und er fragte sich, ob Cook so gelassen auf den zusätzlichen Passagier reagieren würde, wie er es erwartete. Doch selbst wenn er in seinem Haus in der New Burlington Street auf und ab schritt, war ihm bewusst, dass sein Ärger zu einem kleinen Teil einer anderen Quelle entsprang. Die strikte, unparteiische Ehrlichkeit, die der Mann aus Yorkshire in dem Streit an den Tag legte, veranschaulichte viele jener Tugenden, die Banks an ihm bewunderte. Dass er bestenfalls beabsichtigte, Cook zu täuschen, und ihn schlimmstenfalls sowohl in Verlegenheit bringen als auch seinen Zorn erregen würde, war kein angenehmer Gedanke. In Gesellschaft seiner Freunde war Banks verwegen und respektlos, in Richmond am Kamin unverfälscht und leidenschaftlich. Doch der Kapitän verkörperte für ihn andere Ideale, Ideale der Führungsstärke und der Rechtschaffenheit, die er an dem Seefahrer stets bewundert hatte. Eine Geliebte an Bord zu schmuggeln war wohl kaum ein Beweis solcher Eigenschaften. Und je mehr ihn sein Gewissen plagte, desto mehr ärgerte er sich über Cooks Tugenden und desto heftiger schwelte der Konflikt.
Während in ihm die Zweifel wuchsen, wurde sie seltsamerweise unbekümmerter. Der Sommer kam rasch, die Tage wurden heiß, die Nächte kurz und stickig. Ihre Passage nach Madeira war bestätigt, für Geld und Unterkunft war gesorgt. Ihr Traum schien ein Eigenleben und eine eigene Logik zu entwickeln. Sie begann, jeden Schritt ihrer Reise einzustudieren: die Kutschfahrt nach Southampton, das Einschiffen auf der Robin, ihre Stimme bei alldem, ihren Namen, ihre Art, sich zu geben, ihr Verhalten. Sie probte ihren Text und bekämpfte ihre Ängste, ehe sie sie zu verschlingen drohten. Banks wurde in dieser Zeit so häufig in London gebraucht, dass seine Besuche unregelmäßiger und kürzer wurden. Umso leichter konnte sie sich vorstellen, wie es in ihrem Refugium in Richmond aussehen würde, wenn er fort war und sie zurückblieb. Was Verschwiegenheit gewesen war, würde Isolation werden, was Geheimnis gewesen war, würde sie erdrücken. Je länger sie darüber nachdachte, desto klarer wurde ihr, dass sie ohne ihn nicht bleiben konnte. Was als Nächstes geschehen würde, verlor mehr und mehr an Bedeutung, solange es nur nicht dies war.
Eine Woche vor der geplanten Abreise zog sie ihre neuen Kleider an und schlüpfte in die Abenddämmerung hinaus. Es war schon still in den Straßen, nur da und dort ging noch jemand im warmen Zwielicht dahin und rührte den Staub auf. In den Häusern und den Wirtschaften am Fluss brannte Licht. Die Themse war ein dunkler Spiegel, der nichts reflektierte. Von niemandem beachtet, ging sie über eine Stunde durch die Straßen und nahm Abschied von den vertraut gewordenen Dingen. Der Wind frischte auf und zerriss die Wolkendecke. Wo die letzten Häuser an den Wald grenzten, blieb sie stehen. Sie fühlte sich sehr klein und sehr allein und bis ins Innerste von Angst erfüllt. Doch als sie aufblickte und die Wolken vor dem Mond dahineilen sah, erschauerte sie, und ein tiefer Atemzug füllte ihre Lunge. Und als sie ausatmete, war es, als umarmte sie der Nachthimmel.
 
Als er drei Tage später zu ihr ritt, hatte er einen Entschluss gefasst. Der Reiz des Spiels hatte lange genug gewährt; jetzt war er nicht mehr aufrechtzuerhalten. Es sollte ihre letzte gemeinsame Nacht werden, am nächsten Tag sollte er sie zur Kutsche geleiten. Nun aber würde er ihr sagen, dass sie nicht fahren dürfe, würde es ihr nötigenfalls verbieten. Es war ein Trugbild gewesen, von ihm geschaffen; die Schuld lag bei ihm. Er würde sie um Verzeihung bitten, und sie würden ihr Leben nach seiner Rückkehr planen. Sein Entschluss erfüllte ihn mit unendlicher Erleichterung.
Bei seiner Ankunft in Richmond übergab Martha ihm mit düsterer Miene eine Nachricht in den ihm schon vertrauten schrägen Schriftzügen.
»Mein Liebster«, begann der Brief, »vergib mir. Noch eine Nacht in Deinen Armen, und Du würdest mich umstimmen. Allzu leicht stellt sich Furcht ein, wenn Du an meiner Seite bist. Allein aber bleibt mir keine Wahl, als tapfer zu sein. Ich weiß, wenn Du mich hältst, wirst Du mich nicht mehr gehen lassen, und deshalb bin ich nun schon fort. Ich muss so handeln. Ich erwarte Dich auf Madeira. Dort sehen wir uns wieder.<
Der Brief trug keine Unterschrift, aber am Fuß der Seite war in kleiner, unsicherer Schrift noch eine Zeile angefügt:
»Es ist dunkel, und mit dem Wind weht etwas heran, das mir Angst macht. Was uns auch widerfährt - ich werde immer an Dich denken. Wenn Du kannst, denk auch an mich.<