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Ein Name an zwei Stellen
Wir verabredeten uns für den Nachmittag in einem
Café bei Queensway.
Gabriella hatte das Café nicht zufällig gewählt.
Wir kannten es aus unserer Anfangszeit, als wir das Projekt in
Angriff nahmen, das später ihr Projekt wurde. Damals waren wir
unbestreitbar bis über beide Ohren verliebt gewesen. Jeder Schritt,
den wir zusammen taten, schien zwangsläufig und selbstverständlich
zu sein, von unserer ersten Begegnung bei den Überresten eines
Spix-Ara bis hin zu unserer Zeit in London, als wir Leute für das
Projekt zu gewinnen und Mittel aufzutreiben suchten und uns in eine
gemeinsame Zukunft aufmachten, die wir fünfzehn Jahre später noch
immer nicht wieder ganz entwirrt hatten.
Heute konnte ich mir das alles kaum noch
vorstellen, dachte ich, als ich die Bayswater Road hinaufging. Das
Ende kam, als wir Differenzen zwischen uns feststellten, die all
das Gute in den Hintergrund rückten. Ich war derjenige, der ging,
aber zutiefst enttäuscht war Gabriella: Sie hatte geglaubt, sie
würde ihr Leben mit einem ganz ähnlichen anderen Leben verbinden.
Die Wahrheit erkannte sie erst, als ihr grausam und zweifelsfrei
bewusst wurde, dass ich ihre Zielstrebigkeit nicht teilte. Ich
ärgerte mich grün und blau darüber. Ich war emotional, wo sie
professionell war, ich war sprunghaft, wo sie objektiv war. Als ich
unsere Arbeit im Regenwald infrage zu stellen begann, war die Kluft
zwischen uns schon unüberbrückbar geworden.
Trotz allem hatten wir es nicht fertig gebracht,
die Brücken zwischen uns ganz abzubrechen. Gabriella schrieb mir
noch, ich dachte noch an sie. Und ich dachte auch jetzt an sie, als
ich etwas verspätet in dem Café ankam, in dem wir uns früher immer
getroffen hatten. Ich hatte den Vormittag damit zugebracht, meine
Notizen wieder in die Truhe zu packen und den zerbrochenen
Fensterriegel notdürftig zu reparieren, und jetzt wollte ich
wissen, warum.
Das Café war klein: eine Theke, eine Kaffeemaschine
und fünf oder sechs von der Tür aus nicht einsehbare Tischchen. Sie
saß am anderen Ende des Raumes, an unserem alten Platz, und als sie
mich kommen sah, stand sie auf.
»Hallo, John«, sagte sie, mehr nicht, doch als ich
zu ihr trat, drückte sie ihre Wange an meine. Ich nahm den Duft
ihrer Haare wahr, vertraut und ein klein wenig verwirrend.
Wir bestellten Kaffee und nahmen Platz, und dann
sahen wir uns über den kleinen runden Tisch hinweg an. Sie war
gepflegt wie immer, das Haar zurückgebunden, was ihre Augen größer
erscheinen ließ. Keiner sagte etwas, und schließlich legte sie den
Kopf ein wenig schräg und lächelte ihr halbes Lächeln.
»Seltsam, dich schon so bald wieder zu treffen.
Nachdem wir uns so lange nicht gesehen haben.<
Mir erschien es nicht seltsam. Allenfalls kam es
mir erschreckend normal vor, wieder hier mit ihr zu sitzen. Alles
war anders geworden seit damals, aber diese ungebetene,
unwillkürliche Vertrautheit war irgendwie noch da.
Sie sah gut aus, und das sagte ich ihr auch, aber
eigentlich meinte ich damit, dass sie sich nicht verändert
hatte.
Ihre Augen führten eine rasche Inspektion meines
Gesichts durch. »Du siehst auch gut aus. Du wirkst lockerer.«
»Na ja, ich hatte fünfzehn Jahre Zeit, mir zu
überlegen, was ich vom Leben will.<
Sie nickte. Ich war froh, dass sie mich nicht
fragte, was.
Eine Weile schwieg sie, und als sie wieder aufsah,
hatte sich ihr Gesichtsausdruck verändert.
»Was ich dich fragen wollte…« Sie suchte nach
Worten. »Denkst du noch an...?«
Es war das Thema, das zwischen uns immer
gegenwärtig war. Und immer sein würde. Der Ventilator, das
zerwühlte Bett, Gabriellas Stimme unten …
»Ja«, antwortete ich langsam. »Ich denke die ganze
Zeit an sie.«
Einen Moment lang wandte sie den Blick ab. Draußen
spritzten Autos und Busse durch den trüben Novembertag.
»Ich weiß, wie viel sie dir bedeutet hat, John«,
sagte sie leise. Ein verlegenes Schweigen trat ein. »Das ist alles
so lange her«, fuhr sie dann fort. »Wir hätten längst darüber reden
sollen. Hast du seitdem niemanden mehr kennen gelernt?«
»Ich glaube, ich wollte nicht. Und du?«
Sie sah achselzuckend auf ihren Kaffee hinab. »Ich
hatte so viel zu tun.<
»Karl Anderson scheint dich zu mögen.«
»Ja.« Es klang hart, abwehrend, aber sie hatte sich
schnell wieder im Griff. »Er ist ein guter Kerl, Fitz«, fuhr sie
ruhiger fort. »Ja, ich weiß, er ist kommerziell geworden, und das
finden manche unverzeihlich. Aber sie haben ihn selbst dazu
getrieben - all die Universitätsleute, die ihm keine Chance gegeben
haben. Insgeheim macht ihm das schon noch zu schaffen. Er kann es
sich nur nicht erlauben, es zu zeigen.«
»Will er dich heiraten?«
Wieder zuckte sie die Schultern. »Das ist kein
Thema.«
»Für ihn?<
»Für uns beide.«
Ich stellte meine Tasse ab und sah sie an.
»Hör zu, Gabriella, du musst mir unbedingt sagen,
was los ist.«
»Wie - zwischen Karl und mir?<
»Mit dem Ulieta-Vogel. Irgendwas verschweigst du
mir doch.«
Sie pustete über ihren Kaffee.
»Ich weiß nicht, wovon du redest. Karl will ihn
finden, das ist alles.«
Ich stellte meine Tasse ab und sah sie
durchdringend an.
»An dem Abend, an dem wir uns getroffen haben, ist
bei mir eingebrochen worden. Und gestern wieder; meine Notizen
wurden durchwühlt. Irgendjemand legt sich mächtig ins Zeug, um
diesen Vogel zu finden. Warum? Was ist er wirklich wert? Ich komm
nicht dahinter, aber ich müsste nicht ganz bei Trost sein, um nicht
zu wissen, dass er sehr viel mehr wert ist, als alle
behaupten.«
Gabriella schüttelte den Kopf und hielt meinem
Blick unbeirrt stand.
»Nein, Fitz. Was Karl gesagt hat, stimmt. Dieses
Exemplar ist eine Menge wert, aber nicht viel mehr, als Karl dir
geboten hat.«
»Warum sind dann alle so scharf drauf?« Ich wurde
allmählich wütend. »Hör mal, ich werde nicht wie ein Idiot hier
herumsitzen. Ich will wissen, was los ist. Irgendwas muss doch an
dem Vogel sein, was ihn so wertvoll macht, und ich will wissen,
was. Sonst...<
Sie zog die Brauen hoch, bewusst provokativ.
»Sonst wende ich mich an die Presse. Die
wissenschaftlichen Zeitschriften. Dann weiß alle Welt, dass
Anderson auf der Jagd nach dem einzigen Exemplar des Ulieta-Vogels
ist. Und wenn es wirklich existiert, wird er es niemandem verkaufen
können. Jedenfalls sehr lange nicht. Man wird es auf der Stelle mit
einem Ausfuhrverbot belegen, und es bleibt noch Jahre hier, während
sich die Leute darum streiten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass
Anderson das gefallen würde.<
Ich weiß nicht, was für eine Reaktion ich erwartet
hatte, aber Gabriella wirkte weder ängstlich noch trotzig, als sie
sich vorbeugte und meine Hand nahm.
»Ach, Fitz, du kapierst es wirklich nicht, oder?«
Sie schüttelte den Kopf. »Verstehst du denn nicht? Hier geht es um
mehr als nur um deinen kostbaren Vogel. Der interessiert im Grunde
niemanden. Ja, ich weiß, dich schon, und es stimmt auch, dass Ted
Staest ein paar tausend Dollar dafür zahlen will. Vielleicht auch
mehr, wer weiß? Das gibt eine ziemlich gute Story. Aber deswegen
ist Karl nicht mitten im Winter hierher gekommen. Er ist nicht
hinter dem Vogel her.«
»Hinter was dann…?« Ich zwinkerte ihr zu und kam
mir dumm vor, und es war mir peinlich, dass es mir anzumerken war.
»Hinter was ist er dann her?«
Gabriella löste meine Finger von meiner Tasse und
nahm sie zwischen ihre Hände. Erst wollte ich sie wegziehen, aber
dann ließ ich sie gewähren.
»Ich sollte es dir nicht sagen«, begann sie. »Ich
hab’s versprochen. Nur Karl weiß es und vielleicht noch ein paar
andere Leute, die Wind davon bekommen haben.<
»Von was?« Ich schloss meine Hand um ihre.
»Das ist eine längere Geschichte. Hast du mal von
einem französischen Künstler namens Roitelet gehört?«
In meinem Gedächtnis regte sich etwas.
»Der Name kommt mir irgendwie bekannt vor.«
»Niemand kennt ihn so richtig. Er war
Pflanzenmaler, in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts,
aber das ist schon so ziemlich alles, was man weiß. An einer der
großen Expeditionen hat er offenbar nicht teilgenommen, aber er
muss gereist sein, denn er kam mit einer Sammlung ganz
erstaunlicher botanischer Bilder zurück. Zwanzig insgesamt.
Früchte, Blumen. Brillant, intelligent, wunderbar beobachtet. Sie
waren anscheinend etwas ganz Besonderes. Die Pflanzenmalerei
florierte damals ohnehin, aber Roitelet war der Beste weit und
breit.«
»Wieso ›anscheinend‹?«
»Der Besitzer bewahrte die Sammlung in seinem Haus
in Paris auf, und während der Pariser Aufstände wurde das Haus
geplündert. Nur drei Bilder sind erhalten geblieben, und die sind
unglaublich begehrt. Eines davon wurde letztes Jahr in New York
versteigert. Es hat über hunderttausend Dollar gebracht.<
Das war zwar eine stattliche Summe, aber kein Grund
für einen solchen Wirbel.
»Okay... Und was hat das mit dem Ulieta-Vogel zu
tun?«
Gabriella lächelte.
»Da wird die Sache kompliziert. Das ganze
neunzehnte Jahrhundert über kursierten Gerüchte über eine weitere
Sammlung von Roitelet-Bildern, eine komplette zweite Mappe, die
irgendwie nach England gelangt sein sollte. Es gibt verschiedene
Quellen für diese Gerüchte, aber die wichtigste ist ein Brief, den
ein gewisser Finchley um die Mitte des Jahrhunderts verfasst hat.
Dieser Finchley war ein Landadliger in den Midlands und auch eine
Art Gelehrter. Um 1850 schrieb er an einen Freund, der botanische
Bilder sammelte.<
Sie löste ihre Hand aus meiner und trank von ihrem
Kaffee.
»Weiter.« Mir war noch nicht klar, worauf sie
hinauswollte.
»Der Brief erzählt scherzhaft von etwas, das
Finchley auf einer Fahrt durch Lincolnshire erlebt hat. Er hatte
von einem Mann gehört, der ein präpariertes Exemplar eines seltenen
Vogels besitzen sollte, und aus Neugier machte er den Mann
ausfindig und schaute sich den Vogel an. Nach seiner Beschreibung
und dem, was er darüber erfuhr, scheint es so gut wie sicher zu
sein, dass es sich um den Ulieta-Vogel handelte - der offenbar noch
intakt war. Aber darum geht es in dem Brief nur nebenbei. Das
Faszinierende für Finchley war ein Vorfall, der sich ereignete,
nachdem er den Vogel inspiziert hatte. Der Besitzer bestand darauf,
die Vitrine zu öffnen, in der er ihn aufbewahrte, und Finchley
einige Papiere zu zeigen, die unter dem grünen Tuch versteckt
waren, auf dem der Vogel stand. Finchley konnte es kaum fassen: Es
waren Bilder von Roitelet, zwölf Stück, in tadellosem Zustand,
alles Studien von englischen Wildblumen. Der Mann hatte offenbar
keine Ahnung, was sie wert waren, und er zeigte sich anscheinend
auch nicht besonders interessiert, als Finchley es ihm mitteilte.
Der Vogel sei ein Familienerbstück, erklärte er, genau wie die
Bilder, und sie könnten sehr gut da bleiben, wo sie seien. Seinem
Brief nach zu schließen, fand Finchley das Ganze sehr amüsant. Er
versichert seinem Freund, die Sturheit des alten Mannes hätte seine
großzügigen Angebote für die Bilder weit in den Schatten gestellt,
und er lässt keinen Zweifel daran, dass wohl kein Reichtum der Welt
die Bilder von der Stelle bewegen könnte.<
»Verstehe...« Gabriella hatte mir gesagt, was ich
wissen wollte, aber es stellte mich nicht sonderlich zufrieden.
»Ist das nicht alles ein bisschen dürftig? Selbst wenn irgendwo im
hintersten Lincolnshire tatsächlich eine Sammlung französischer
Bilder aufgetaucht ist, dann wird sie doch auf keinen Fall noch
dort sein. Und auch nicht bei dem Vogel. Generationen hatten
seitdem Gelegenheit, sie zu verkaufen. Da kann alles Mögliche
passiert sein. Wenn jemand über Finchley von ihnen gehört hat,
hätte er dann nicht geschaut, dass er sie in die Finger
kriegt?«
Gabriella nickte, die Hände noch um ihre Tasse
gelegt.
»Sollte man meinen, nicht wahr? Nur sind nie
irgendwelche anderen Roitelets aufgetaucht. Es gibt nur diese
Gerüchte. Wenn irgendein Sammler sie ergattert hätte, dann müsste
die Kunstwelt doch davon wissen. Es sieht auch so aus, als hätte
sich Finchley bewusst nicht näher dazu geäußert, wo er den Vogel
gefunden hat und wem er gehört hat. Fast als wollte er seinen
Freund damit ärgern. Also können die Bilder immer noch irgendwo
sein. Und ein Weg, sie zu finden, würde über den Vogel
führen.<
»Man wollte mich also benutzen, um die Bilder
aufzuspüren.« Das ergab einen Sinn, und der gefiel mir nicht
besonders.
»Nicht benutzen, Fitz. Karl wusste, dass du an der
Sache interessiert sein würdest, und er wollte dir das Geld für den
Vogel gern überlassen. Er hat etwas entdeckt, das ihm verraten
könnte, wo er sich befindet.<
»Ich weiß. Einen Brief.« Ich sah sie an. »Was du
mir da erzählt hast - diese Gerüchte über verschollene Bilder -,
klingt alles ein bisschen vage, findest du nicht? Anderson ist
Geschäftsmann. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er für so etwas
Geld ausgibt. Seine Chancen, überhaupt auf irgendetwas zu stoßen,
müssen minimal sein.<
»Zwölf Bilder von Roitelet, Fitz. Wenn sie nur halb
so gut sind wie die bekannten, wären sie immer noch eine Sensation.
Und wenn jedes für hunderttausend Dollar verkauft wird... Na, du
kannst es dir ja ausrechnen. Die ganze Mappe, als Sammlung, wäre
wahrscheinlich noch mehr wert. Die Sache hat nur einen
Haken.«
»Und welchen?«
»Karl hat Probleme, den Vogel zu finden.«
Mein Herz machte einen Satz. »Was für
Probleme?«
»Er erlebt immer wieder Rückschläge.« Gabriella
beugte sich ein wenig näher zu mir, ernst und eindringlich; schön
auf eine Art, wie man sie in den Cafés von Bayswater normalerweise
nicht findet. »Es hängt mit einem Hausverkauf zusammen. Karl hat
die Spur des Vogels bis zu irgendeinem großen Haus verfolgt, das
nach dem Krieg abgerissen wurde. Er dachte schon, er wäre am Ziel,
aber der Vogel war nicht da, wo er ihn vermutet hat. Jetzt gehen
seine Leute noch mal alle Verkaufsunterlagen durch, um
herauszufinden, was sie übersehen haben.<
»Interessant. Weißt du, wo dieses Haus war?«
»Nein, Karl hat es mir nicht gesagt. Aber ich weiß,
dass er im Moment in Lincolnshire ist.« Sie sah auf ihre Hände
hinab. »Ist dir eigentlich irgendetwas eingefallen, das dich
weiterbringen könnte?<
Ich beschloss, ihr zu vertrauen. »Hör zu,
Gabriella, ich behaupte nicht, ich hätte was Brauchbares gefunden,
aber ich habe eine Idee, der ich nachgehen möchte. Es geht um eine
Frau, die Joseph Banks als junger Mann gekannt hat. Ich weiß nicht,
was sie mit dem Vogel zu tun hatte, aber ich glaube, es gibt da
eine Verbindung. Vielleicht kommt auch nichts dabei raus, aber das
werde ich ja sehen.<
»Und wenn du findest, was du suchst?«
Ich senkte einen Moment lang den Blick. »Erst mal
muss ich es finden. Dann können wir darüber reden.«
Sie lehnte sich zurück und zog die Brauen hoch.
»Wer weiß, John, vielleicht steckt doch ein bisschen was von deinem
Großvater in dir.« Sie hob die Hände hinter den Kopf, begann, ihr
Haar neu festzustecken, und warf mir ein warmes, liebevolles
Lächeln zu. »Und da es in deinem Leben niemanden gibt, der
eifersüchtig sein könnte, könntest du mich heute Abend eigentlich
zum Essen einladen.«
Gabriellas Einstellung zu meinem Großvater hatte
mich immer fasziniert. Eigentlich war er ein Mensch von der Sorte,
die sie zutiefst verachtete, ein reicher, arroganter Angelsachse,
der den Rest der Welt als Erlebnispark betrachtete und nach Tier-
und Pflanzenexemplaren ausplünderte, als sei es ein Spiel. Schwer
vorstellbar, dass er für ihre überkorrekte Art der Konservierung
Zeit gehabt hätte. Trotzdem hatte ich bei Gabriella immer so etwas
wie einen widerwilligen Respekt für ihn gespürt. Vielleicht weil
beide bereit gewesen wären, ihr Leben ganz in den Dienst der
Verwirklichung ihrer Träume zu stellen.
Mein Großvater Hugh Fitzgerald nahm sich schon früh
eine Frau. Der Krieg hatte ihn gezwungen, seine Pläne hinsichtlich
des afrikanischen Pfaus auf Eis zu legen, und nach vier Jahren an
der Westfront lernte er meine Großmutter kennen, eine ziemlich
scheue Siebzehnjährige, zwölf Jahre jünger als er. Wenn nicht
gleich Kinder kamen, wie es damals erwartet wurde, so vermutlich
deshalb, weil er ein weitgehend abwesender Ehemann war. Nach der
Hochzeit brachte er sie ins Haus seiner Mutter in Devon und reiste
fast unmittelbar danach als Teilnehmer einer Expedition, die fast
zwei Jahre dauerte, nach Mittelamerika. Nach seiner Rückkehr hielt
er sich viel in seinem Londoner Club auf und versuchte sein
nächstes Unternehmen vorzubereiten.
Doch zu seinem Unglück veränderte sich dieser
gewohnte Gang der Dinge allmählich. Während seiner Besuche in
London erzählte er jedem, der es hören wollte, des Langen und
Breiten von seiner Überzeugung, dass es in Afrika Pfauen geben
müsse, und bald haftete ihm ein entsprechender Ruf an. Das
Establishment war Exzentrikern gegenüber misstrauisch, aber mein
Großvater merkte nicht, wie er zum Fanatiker wurde. 1926 verstärkte
sich dieser Eindruck noch, als er den Auftrag erhielt, einen Trupp
Bergbauingenieure nach Westafrika zu bringen. Seine Hauptaufgabe
bestand darin, sie wohlbehalten ins Landesinnere und wieder zurück
zu führen, und nach allem, was man hörte, erfüllte er diese Pflicht
auch recht kompetent. Am Ende der Expedition fuhr er jedoch nicht
nach England zurück, sondern machte kehrt und zog mit nur wenigen
einheimischen Führern wieder in den Urwald. Obwohl Hunderte von
Meilen vom Fundort der geheimnisvollen Feder entfernt, hatte er es
sich in den Kopf gesetzt, die Suche wieder aufzunehmen.
Fast zehn Monate hörte man nichts mehr von ihm, und
als er endlich wieder aus dem Urwald auftauchte, war er vom Fieber
zerrüttet. Eine Zeit lang schwebte er zwischen Leben und Tod, dann
wurde er nach Devon zurückgebracht, wo seine Frau ihn geduldig
pflegte. Unter ihrer Obhut überstand er die Krise, auch wenn er
wohl nie wieder ganz zu Kräften kam. Erst knapp drei Jahre später
fand er sich wieder in London ein, doch inzwischen hatte sich die
Situation grundlegend geändert. Jedermann wusste von seinem
ungeplanten Ausflug in den westafrikanischen Urwald, und man sah
darin den Beweis dafür, dass ihm nicht mehr zu trauen sei. Zudem
war die recht draufgängerische viktorianische Tradition der
Entdeckungsreisen, die er verkörperte, mittlerweile aus der Mode
gekommen.
Wenn ich aus alldem etwas zu lernen hatte, so
genügte die Aussicht auf einen Abend mit Gabriella, um es auf
später zu verschieben. Wir trafen uns in Soho in einem schicken
französischen Restaurant mit abgebeiztem Kiefernholzmobiliar, wo
wir hinter riesigen Speisekarten saßen und uns über Themen
unterhielten, die nichts mit Karl Anderson zu tun hatten. Gabriella
war schon immer eine gute Gesellschafterin gewesen, und an diesem
Abend übertraf sie sich selbst. Wir tranken Weißwein, und im
Verlauf des Abends wurde sie ziemlich kühn und erzählte mir alle
möglichen skandalösen und wahrscheinlich verleumderischen
Geschichten über gemeinsame Bekannte. Auch als wir auf den
Naturschutz zu sprechen kamen, änderte sich die Stimmung nicht. Sie
beugte sich vor und spann ihre Träume, und ich fand in ihren Worten
die Laute und Farben des Regenwaldes wieder. Der Wein stimmte mich
wohl sentimental, denn ich merkte, dass ich sie vermisste.
Gabriella strahlte. Es gab nach wie vor
Unstimmigkeiten zwischen uns, aber an diesem Abend spielten sie
keine Rolle mehr. Ungehindert strömte die alte Wärme zwischen uns.
Später, als wir uns vor dem Mecklenburg Hotel verabschiedeten, kam
ein Moment, den ich nicht hätte beschreiben können, eine kurze
Stille, in der eine unausgesprochene Frage zwischen uns stand. Ich
zögerte, und Gabriella lächelte ein wenig traurig und küsste mich
dann auf die Wange.
»Gute Nacht, Fitz«, sagte sie und ging davon. Ich
stand im Dunkeln und blickte ihr nach, als sie hinter den
einladenden Lichtern des Hotels verschwand.
Am nächsten Tag kam Katya zurück. Da sie vorher
nicht angerufen hatte, wusste ich von nichts, bis ich am Abend
ihren Schlüssel im Schloss hörte. Sie wirkte müde, fast ein wenig
ausgelaugt, und auch älter, was möglicherweise an ihrer Kleidung
lag: In Rock und Bluse, das Haar zu einem straffen Knoten
hochgesteckt, sah sie so anders aus als die Katya, die ich kannte,
dass ich erst einmal zwinkern musste.
»Was ist?«, fragte sie, als sie meine Miene sah.
»Ach so, das. Mein Vater ist der Meinung, dass er mich seinen
Freunden nur dann vorstellen kann, wenn ich so aussehe.<
»Tut mir Leid«, sagte ich etwas verlegen. »Komm,
setz dich, ich hol dir ein Bier.<
»Klingt gut.« Sie löste ihr Haar, sodass es locker
um ihr Gesicht fiel, ergriff dann ein paar Strähnen und hielt sie
hoch, um sie zu betrachten. »Die Kleider waren schon schlimm genug,
aber dann musste ich mir auch noch Vorträge über meine Haare
anhören. Die sind schwarz gefärbt. In Wirklichkeit sind sie ganz
unscheinbar braun.<
In der Küche ließ sie sich auf einen Stuhl fallen
und schaute zu, wie ich die Bierflaschen öffnete. Plötzlich
bemerkte sie den kaputten Fensterriegel. Sie sprang auf.
»Was ist passiert?<
»Es hat sich ein bisschen was getan. Ich erzähl’s
dir gleich.«
»Hat schon wieder jemand eingebrochen? Hat er was
mitgenommen?«
Ich schüttelte den Kopf und lächelte.
»Hier gibt’s nichts mitzunehmen.«
»Wieso dann?<
»Offenbar steckt hinter der Sache mit dem Vogel
sehr viel mehr, als wir dachten. Das ist eine lange Geschichte.
Aber keine Sorge, es ist alles in Ordnung. Erzähl erst mal, was du
so getrieben hast. Hier, nimm einen Schluck. Es sei denn, du bist
zu fein angezogen, um aus der Flasche zu trinken.«
Da lachte sie wie die Katya, die ich kannte.
»Okay, ich zuerst.« Sie reckte sich vergnügt. »Das
Beste weißt du schon. Das, was ich dir am Telefon gesagt habe. Ich
dachte, ich finde noch viel mehr, und war schon ganz aufgeregt,
aber ich glaube, diese Papiere geben nichts mehr her, was wir
wissen müssten. Deswegen hab ich auch nicht mehr angerufen. Ich hab
darauf gewartet, dass ich noch auf was ganz Tolles stoße, aber da
war nichts.<
»Du hast doch was Tolles gefunden. Es beweist, dass
der Vogel Banks’ Sammlung überlebt hat. Und wir wissen jetzt
genauer, wo wir suchen müssen.<
Sie konnte es kaum erwarten, mir von den
Fabricius-Papieren zu erzählen. Ihre Müdigkeit schwand beim Reden,
und sie lebte wieder auf. Die Korrespondenz, die sie durchgesehen
hatte, drehte sich größtenteils um wissenschaftliche Themen. Nur
sehr wenig bezog sich auf Fabricius’ Zeit in England - über diesen
Teil seines Lebens hatte er sich offenbar nicht weiter geäußert -,
und Banks wurde überhaupt nicht erwähnt. Außer dem Brief über den
Ulieta-Vogel gab es noch zwei andere vom selben Verfasser, einem
Franzosen namens Martin. In beiden ging es um Zeichnungen, die
Fabricius kaufen wollte, aber der Ulieta-Vogel kam darin nicht mehr
vor.
»Stört’s dich, dass ich das auf eigene Faust
gemacht habe?«
»Nein, natürlich nicht.<
»Mir war nicht ganz wohl dabei. Eigentlich ist es
ja deine Suchaktion. Es kam mir ein bisschen so vor, als würde ich
da einfach reinplatzen...« Ihr Blick streifte mich. »Aber jetzt
erzähl mal, was hier los war.<
»Hm, wo fang ich da am besten an? Die Offenbarung
kam gestern, als ich mich mit Gabriella getroffen habe.«
»Ach, ja?« Sie trank von ihrem Bier, ohne mich
anzusehen.
»Aber davor war ich in Lincolnshire. Und rate mal,
was ich da gefunden habe?«
Katya saß ganz still, als ich ihr erzählte, wie ich
in Lincoln gelandet und im Gästebuch des Hotels auf Karl Anderson
gestoßen war. Sie hörte höflich zu, schien aber nicht so
interessiert zu sein, wie ich erwartet hatte.
»Jedenfalls«, schloss ich, »kam am Ende nichts
Großartiges dabei heraus...« Ich fasste in meine Jacke, die über
meiner Stuhllehne hing. »Einmal hab ich schon gedacht, ich hätte
was - hier, schau dir das an. Das ist meine Liste in Revesby
geborener Frauen, deren Name mit B anfängt.<
Ich legte das Blatt auf den Tisch.
1. Jan. 1750 | Mary, uneheliche Tochter von [keine Angaben] |
29. Sept. 1753 | Mary, Tochter von Richard Burnett & Ehefrau Elizabeth |
18. April 1756 | Mary, Tochter von James Browne & Ehefrau Susanna |
20. Feb. 1757 | Mary, Tochter von William Burton & Ehefrau Anne |
18. Jan. 1761 | Elizabeth, Tochter von James Browne & Ehefrau Susanna |
»Ich war schon ganz aus dem Häuschen wegen Mary
Burton, obwohl sie etwas später geboren ist, als ich gehofft hatte.
Als ich dann noch gesehen habe, dass ihr Vater während Banks’ Reise
gestorben war, dachte ich allen Ernstes, ich hätte eine heiße
Spur...«
Ich sah auf und merkte, dass Katya gar nicht
zuhörte. Ihre distanzierte Miene hatte sich verflüchtigt, sie
starrte auf das Blatt, und ihre Lippen bewegten sich, als stellte
sie irgendwelche Berechnungen an.
»Da, Fitz, schau mal!«, sagte sie aufgeregt und
zeigte auf den zweiten Namen der Liste. »Das Jahr stimmt doch
ungefähr, oder? Dann wäre sie sechzehn gewesen, als Banks abgereist
ist, und neunzehn, als er zurückkam.<
»Ja...« Ich wusste nicht, worauf sie
hinauswollte.
»Mary Burnett. Verstehst du?<
»Aber Burnett hört nicht mit N auf.«
»Dieser Brief...« Sie sah sich hilflos um. »In
welchem Buch war der noch gleich? Der Brief, den Kapitän Cook zu
Anfang seiner zweiten Reise geschrieben hat. Von einer Frau, die
sich als Mann ausgegeben hat. Erinnerst du dich?«
Ich erinnerte mich an den Brief, sah aber nicht den
Zusammenhang.
»Burnett. So nannte sich die Frau doch. Mr.
Burnett.«
Ich war erst überzeugt, als wir nach oben gegangen
waren und das Buch herausgesucht hatten. Katya hatte Recht
gehabt.
Drei Tage vor unserer Ankunft verließ ein Mann des
Namens Burnett die Insel. Er hatte etwa drei Monate auf Mr. Banks’
Ankunft gewartet; erst sagte er, er sei wegen der Wiederherstellung
seiner Gesundheit hier, dann sagte er, seine Absicht sei es, mit
Mr. Banks zu reisen, zu einigen sagte er, er sei diesem Herrn
unbekannt, zu anderen sagte er, er sei auf dessen Geheiß gekommen,
da man ihn in England nicht mehr an Bord habe nehmen können. Als er
erfuhr, dass Mr. Banks nicht mit uns reiste, ergriff er die erste
sich bietende Gelegenheit, die Insel zu verlassen. Er war von
seinem Äußeren her ein eher gewöhnlicher Mensch und verbrachte
seine Zeit mit Botanisieren etc. - Jeder Teil von Mr. Burnetts
Betragen und jede seiner Handlungen deuteten darauf hin, dass er
eine Frau war, ich bin keiner Person begegnet, die Vermutungen
gegenteiliger Natur gehegt hätte.
»Was sagst du dazu?«, fragte sie
triumphierend.
»Schwer zu sagen. Könnte auch Zufall
sein.<
»Und sieh mal, da.« Katya nahm das Blatt, das ich
auf den Tisch gelegt hatte. »Ihr Vater ist gestorben, als Banks
unterwegs war. Es könnte doch sein, dass sie und Banks aus Gründen
der Diskretion einen anderen Namen für sie benutzt haben, als sie
seine Geliebte wurde. Das würde einleuchten. Und von Burnett zu
Brown ist es nicht so weit.«
Ich lehnte mich zurück und betrachtete sie, bevor
ich antwortete. »Das wird denen an der Universität aber nicht
gefallen«, sagte ich. »Wir müssen noch mal nach Lincoln. Wann
kannst du los?«
Wir fuhren durch das graue Licht eines Tages, der
gar nicht richtig anzufangen schien, nach Norden. Die Ebene um
Lincolnshire glitt in diversen Ocker- und Brauntönen vorüber. Die
meiste Zeit schwiegen wir, während der Motor sich heiser abmühte,
und fühlten uns durchaus wohl dabei, dass jeder seinen eigenen
Gedanken nachhing. Ich fragte mich, wie viel Zeit uns noch blieb,
bis wir diese wenig aussichtsreiche Jagd aufgeben und ins wirkliche
Leben zurückkehren mussten. Ich brach bereits Brücken hinter mir
ab, die ich später wahrscheinlich noch brauchen würde, aber solange
dieses seltsame Intermezzo dauerte, war es einfacher, nicht an die
praktischen Dinge zu denken, die ich hinter mir gelassen hatte.
Katyas Gedanken schienen in eine ähnliche Richtung zu gehen, denn
nach langem Schweigen fing sie plötzlich an zu lachen.
»Kaum zu glauben, was?«
Ich nickte. »Ja. Wir sind ganz schön
verrückt.«
Sie lächelte nur und berührte meinen Arm, doch als
ich sie ansah, war sie schon wieder in Gedanken und schaute auf die
weiten Felder hinaus.
Wir kamen mitten am Nachmittag an, aber es schien
schon später zu sein. Die Lampen im Hotel brannten bereits, und die
Wärme drinnen versprach sofortige Behaglichkeit. Verträumtes
Klavierspiel perlte aus der holzgetäfelten Bar herüber, und dem
Geruch nach musste irgendwo ganz in der Nähe ein Holzfeuer brennen.
»Wow!«, sagte Katya. »Schön. Und sehr englisch. Ob ich mir das
leisten kann?«
»Das geht auf mich. Wenn wir den Vogel finden, zieh
ich’s von deinem Anteil ab.<
Sie sah mich an, widersprach aber nicht. Das war
noch so etwas, das ich nur zu gern losließ, eine Rechnung, mit der
ich mich später befassen würde.
Wir checkten ein, brachten unsere Taschen auf die
Zimmer und gingen dann durch die Straßen, damit Katya sich
orientieren konnte. Es war Samstagabend und ruhig in der Stadt,
aber inzwischen war es dunkel geworden und bitterkalt. Nach dem
trüben Winterlicht war die Nacht fast eine Wohltat. Altmodische
Laternen erleuchteten die Gassen um die Kathedrale, und was noch
geöffnet war - ein Café, eine Buchhandlung, ein Restaurant -, warf
einen einladenden Lichtschein auf das Kopfsteinpflaster. Wir
schauten nach oben. Die Kathedrale zeichnete sich gegen den Himmel
ab, die Wolkendecke darüber war aufgerissen, und man sah Sterne
durchblinken. Es würde Frost geben.
An der Kathedrale angelangt, hörten wir
Orgelmusik.
»Wollen wir reingehen und zuhören?«, fragte ich
Katya.
»Ach, das ist nicht so mein Ding.« Sie legte ihre
Hand auf meine Schulter. »Aber mach nur, wenn du möchtest. Ich geh
ins Hotel zurück, unter die Dusche, zum Aufwärmen. Wir treffen uns
dann in der Bar.<
Also ging ich allein hinein, saß im Dämmer des
schwach erleuchteten Kirchenschiffs und ließ mich von der Musik
einhüllen. Es war kein Gottesdienst, der Organist übte nur für die
Abendandacht. Als ich wieder auf die Straße trat, fühlte ich mich
entspannt und beruhigt und freute mich auf ein Glas Wein in der
Hotelbar. Doch was ich sah, als ich dort eintraf, hatte ich nicht
erwartet. In einer Ecke nahe dem Kamin hatte es sich Karl Anderson
in einem der großen Ledersessel bequem gemacht. Ihm gegenüber,
elegant und makellos in einem engen roten Kleid, saß Gabriella. Und
zwischen ihnen reckte fast beiläufig eine Champagnerflasche ihren
Hals aus einem großen silbernen Sektkübel.
Es war ein Winter der Träume und des Vergessens.
Ende November fiel in Richmond Schnee, und er blieb bis Februar
liegen, ein weißer Mantel, der sich über ihre Vergangenheit
breitete und die Gegenwart umhüllte. Banks kam zu Pferde, eine
dunkle Gestalt gegen das Weiß, und in den Falten seines Umhangs
wurde der Schnee zu Eis. Im Haus knisterte das Feuer, die Luft war
erfüllt vom Duft nach Glühwein. Traf er in der Abenddämmerung ein,
brannten die Lampen schon für ihn, die Fenster leuchteten ihm rot
entgegen, und in dem grünen Schlafzimmer färbten eine einzelne
Lampe und das Kaminfeuer die rostroten Tapeten bernsteinfarben. Das
Haus erschien ihm zeitlos, eingehüllt in Winter und Rauch, als
könnte nichts, was in der Welt draußen geschah, dies je ändern. Es
war ein langsamer Ritt von der Stadt hierher, die Straßen
verschneit, seine Hände an den Zügeln taub, und doch genoss er ihn.
Am Ziel angelangt, fühlte er sich frisch und rein, bereit für das
Willkommen, das ihn erwartete. Wenn er tagsüber durch Sonne und
blendendes Weiß trabte, Kinder auf zugefrorenen Teichen
Schlittschuh laufen und alte Frauen Feuerholz sammeln sah, verfiel
er in eine Art Rausch, so als würde er jedes Gesicht, das er
erblickte, ein wenig lieben.
Sie hielt nie nach ihm Ausschau, aber bald waren
ihr die Geräusche seiner Ankunft vertraut. Erst das Klirren des
Zaumzeugs, dann ein Junge, der herbeigelaufen kam, um sein Pferd
wegzuführen, dann Schritte, ein energisches Klopfen und das
Mädchen, das zur Tür eilte. Darauf vernahm sie auch seine Stimme -
undeutlich stets, aber tief und fröhlich. Bis zu diesem Augenblick
setzte sie ihre Tätigkeit fort, dann legte sie ihre Sachen nieder,
um aufstehen und ihn begrüßen zu können, wenn er eintrat. Am
schönsten aber war seine Ankunft in tiefer Winternacht, wenn sich
das Haus schon zur Ruhe begeben hatte. Dann war er bei einer
Londoner Abendgesellschaft plötzlich aufgestanden, hatte sich
entschuldigt und war nach Hause zurückgekehrt, wo er zur Bestürzung
seiner Stallknechte ein Pferd verlangte. Manchmal schlief das ganze
Haus schon, wenn er nach Richmond kam, und das Feuer war nur noch
ein orangefarbener Schein im Fenster. Sie hörte Martha brummend zur
Tür stapfen und ihn zum Schweigen bringen, wenn er sprechen wollte,
und dann regte sie sich lächelnd und schlief wieder ein, bis sich
knarrend ihre Tür öffnete. Mit geschlossenen Augen schlug sie ein
Ende der Decke zurück und wartete, noch halb träumend, bis er sich
die Hände am Feuer gewärmt hatte. Oft wachte sie tief in der Nacht
auf und fand ihn schlafend an sie geschmiegt. Dann dachte sie voll
Freude an den Morgen und schlief lächelnd wieder ein.
Kam er bei Tage, schob sie jeden Gedanken an ihre
Arbeit beiseite, und sie verbrachten den Nachmittag am Feuer oder
wanderten durch die froststarren Wälder, redeten von Dingen, die
nicht so wichtig waren wie das Reden selbst. Manchmal waren es
geistvolle Gespräche über Ideen, die alle Grenzen der Realität weit
hinter sich ließen. Dann wieder unterhielten sie sich über Dinge,
die sie zum Lachen brachten, aus Gründen, die sie sich später nie
erklären konnten. Die Bäume und Felder ringsum, selbst die Wege mit
ihren Räderfurchen, lagen leblos da und warteten auf den Frühling,
um ihre Uhren wieder aufzuziehen. In dieser Zeit der
Wintersonnenwende vergaß sie die Vergangenheit, die sie hierher
gebracht hatte, und alle Zukunftsängste.
Für ihn war es, als tilgte der Schnee die Flecken
der Vergangenheit, alles, was sein vollkommenes Glück trübte.
Nachts träumten sie am Feuer von einer Welt, in der alles, auch sie
selbst, so sein konnte, wie sie es sich wünschten.
»Du würdest hier bleiben und Pflanzen züchten«,
sagte sie, »und eine Möglichkeit finden, auf deinen geliebten Fens
Ananas anzubauen.«
»Zu kalt«, erwiderte er.
»Du würdest das Wasser über unterirdische Röhren
heizen, und die Leute würden sogar von Brasilien kommen, um darin
zu baden.«
Er sann darüber nach. »Dann würdest du durch die
Grafschaften Englands reisen und das Standardwerk über Moose und
Flechten schreiben. Du würdest an den Innenwänden aller unserer
großen Bauwerke Moos ziehen, damit die Besucher es bequemer
studieren könnten. Und zum Lohn deiner Mühen würde man dich
einstimmig in die Royal Society wählen.«
»Zu jung und nicht als Frau.«
»Du würdest unter dem Namen Tom Brown der Ältere
schreiben. <
»So! Und ich soll immer nur Flechten
zeichnen?«
»Also gut, dann würdest du mit mir um die Welt
reisen und zeichnen, was ich zusammentrage. Unsere Sammlung würde
ein Weltwunder werden.<
»Eine Frau auf See?«
»Ich würde dich als Jungen verkleiden.«
»Nur um der Kunst willen?« Sie hob ihm ihr Gesicht
entgegen, und ihre Lippen streiften sacht seinen Hals.
»Nun ja«, sagte er nachdenklich und musste lächeln,
»vielleicht nicht nur wegen deiner Zeichnungen.« Abrupt zog er sie
an sich und küsste sie auf ihren lachenden Mund.
Als sich der Februar dem Ende zu neigte, wurde der
Schnee allmählich zu Wasser und der Ritt beschwerlicher. Die Zeit
hatte sie eingeholt, und der tiefer werdende Matsch war eine
Warnung. Nur vier Monate blieben ihnen noch, bis er mit der
Resolution auslaufen sollte.
Die Stunden, die sie miteinander verbrachten,
wurden ruhiger, die Abschiede schmerzhafter. Keiner mochte an das
Ende denken, und doch taten sie es jeden Tag. Beiden kam das
Spielerische abhanden. Lachten sie noch zusammen, so war etwas
Unbändiges dabei, der verzweifelte Wunsch, den Augenblick
festzuhalten, solange es nur irgend ging. Statt spazieren zu gehen,
saßen sie jetzt lange Stunden beisammen und berührten sich
öfter.
Eines Nachts schließlich - sie lagen aneinander
geschmiegt, und nur das Feuer erleuchtete den Raum - sagte er:
»Komm mit mir.<
Sie lag halb auf ihm, den Kopf auf seiner Brust,
ein Bein zwischen seinen. Sie mochte geschlafen haben, doch bei
seinen Worten hob sie den Kopf. Das Feuer hinter ihr glühte sanft.
Er hatte erwartet, dass sie lachen, ihn necken würde, aber sie sah
ihn unverwandt an.
»Das könnte ich nicht«, sagte sie
schließlich.
»Doch!« Von plötzlicher Energie gepackt, schob er
sie von sich und kniete sich neben sie. »De Commerson hat es auch
so gemacht. Seine Geliebte ist als sein Page verkleidet mit ihm um
die Welt gereist. Sie hat die Ostindischen Inseln gesehen, China,
Indien, die schönsten, erstaunlichsten Orte!«
»Aber es blieb nicht verborgen«, sagte sie ruhig.
»Am Ende wurde sie entlarvt.«
Sie kniete sich ebenfalls hin und sah ihn an. Sein
Elan wirkte ansteckend.
»Du könntest auf Madeira an Bord kommen«, fuhr er
fort, »weit weg von neugierigen Blicken. Ich würde Cook sagen, dass
einer unserer Zeichner dort zu uns stößt.<
»Joseph! Das ist unmöglich - eine Frau auf See, die
sich als Mann ausgibt. Die Unterkünfte an Bord...<
»Ich habe dieses Mal mehr Platz für meine Leute,
das ist bereits geregelt. Ich werde eine zusätzliche Kabine
verlangen, neben meiner, das wird man mir nicht
abschlagen.<
Sie wandte den Blick ab, versuchte, sich
vorzustellen, wie sie mit kurz geschnittenem Haar und engem Wams
aussehen würde.
»Überleg doch nur!«, rief er. »Du könntest die
Ozeane, die Tropen, alles, worüber wir immer reden, mit eigenen
Augen sehen. Du könntest mit mir auf unkartiertem Land stehen, das
Kreuz des Südens am Nachthimmel suchen. Du könntest das Salz im
Wind riechen, wenn wir ums Kap der Guten Hoffnung segeln. Alles,
was du dir ausgemalt hast, könntest du selbst betrachten! Überleg
es dir! Stell dir vor, wie es sein könnte!<
Es war unmöglich, das wusste sie, Hirngespinste,
den langen Nächten mit ihren Wintersternen entsprungen. Doch der
Feuerschein wob seine Worte zu leuchtenden Bildern, und ihre
geheimsten Träume schienen für einen Augenblick in Reichweite zu
rücken. Sie war bereit, viel zu riskieren, um nur einen von ihnen
zu berühren. Und was riskierte sie schon? Nur ihn. Und ihn würde
sie ohnehin verlieren.
Eine Woche später rollte eine Kutsche in den
wimmelnden Hof der Bell Post, einer gut besuchten Kutschstation
eine halbe Tagesreise von London an der Straße nach Bath. Es war
eine einfache Kutsche, und der Bediente, der vom Bock sprang, um
den beiden Insassen herauszuhelfen, trug keine Livree. Sie waren
gut, wenn auch unauffällig gekleidet. Niederer Landadel, dachte der
Wirt, der sie begrüßte und in ein Privatzimmer führte. Ihre Kleider
sagten ihm mehr als ihre Gesichter, und er war zu beschäftigt, um
die Besorgtheit des einen und die Blässe des anderen zu bemerken.
Die Frau, die ihnen aufwartete, schaute genauer hin, doch ihre
Aufmerksamkeit galt dem Größeren der beiden. Ein gut aussehender
Mann, dachte sie, mit gefälligen Manieren und schönen Augen. Ganz
auf ihn konzentriert, beachtete sie seinen schlanken, schweigsamen
Begleiter kaum, sonst hätte sie sich vielleicht über seine feinen
Züge gewundert. Auch der Junge aus der Schankstube, der
herbeieilte, um ihnen die Tür aufzuhalten, als sie wieder
aufbrachen, achtete kaum auf all die Reisenden, die täglich kamen
und gingen, erinnerte sich aber noch lange an die Goldmünze, die
ihm in die Hand gedrückt wurde.
Niemanden kümmerte es, dass die Kutsche, als sie
abfuhr, wieder die Straße nach London nahm, von wo sie gekommen
war.
Sie wusste von Anfang an, dass sie sich etwas
vormachten. Ihre Versuche waren allzu einfach, allzu abhängig von
der Gedankenlosigkeit anderer. Weitere Ausflüge folgten dem ersten,
und das Ergebnis war stets das Gleiche. Sie musste niemanden
täuschen - man beachtete sie gar nicht. Das mochte für die Fahrt
nach Madeira genügen, auf der ein ruhiger Reisender, der in seiner
Kabine blieb, unter den vielen anderen nicht auffallen würde. Von
einer gelegentlichen Essensbestellung abgesehen, würde sie kaum
sprechen müssen. Und für die Mannschaft eines voll besetzten
Schiffes, so versicherte ihr Banks, waren selbst seekranke
Passagiere etwas zu Alltägliches, als dass sie Neugier erregt
hätten. Solange ihre Passage bezahlt war und sie keinen Ärger
machte, würde man sie mehr oder weniger ignorieren.
Auf Madeira aber, das wusste sie, würde es anders
sein. Er wollte ihr Briefe an eine englische Familie mitgeben, die
sich zwangsläufig für ihren Gast interessieren würde. Selbst wenn
sie ihre Tage damit zubrachte, in den Hügeln zu botanisieren,
könnte sie nicht verhindern, dass man Vermutungen über sie
anstellte. Tief im Innern wusste sie, dass der Plan nicht gelingen
konnte, und sie zitterte bei dem Gedanken an eine schmähliche,
demütigende Entdeckung. Doch in welcher Form? Durch
Empfehlungsschreiben geschützt, würde sie gewiss nicht öffentlich
entlarvt werden. Wer etwas ahnte, würde es ihr nicht ins Gesicht
sagen, sondern eher mit anderen darüber reden. Die Vorstellung,
solchermaßen der Lächerlichkeit preisgegeben zu werden, schockierte
sie, aber was konnte sonst schon passieren? Scheiterte sie auf der
ganzen Linie, würde sie, wieder inkognito, mit dem nächsten Schiff
nach London zurückkehren. Banks würde sie dann keinen Schaden
zugefügt haben. Und bis es so weit war, würde sie schon viel Neues
gesehen, eine fremde Pflanzenwelt studiert und Zeichnungen
angefertigt haben, die ihr niemand mehr nehmen konnte.
Selbst wenn man sie auf Madeira zunächst nicht
entlarvte, dann spätestens, wenn die Resolution eintraf.
Cook würde sich nicht täuschen lassen; seinen Scharfblick hatte
Banks stets gerühmt. Irgendwann würde er die Wahrheit erfahren, und
was dann? Trat dieser Fall gleich zu Beginn ein, konnte sie sich
errötend davonstehlen, Joseph konnte sich rehabilitieren und die
Reise fortsetzen. Er konnte den Vorfall mit einem Lachen abtun, und
am Ende der dreijährigen Reise würde er vergessen sein. Doch was,
wenn alles erst auf hoher See herauskam? Konnte sie mit diesem
Gedanken leben? Die Demütigung würde kaum zu ertragen sein, und an
ein rasches Entkommen wäre nicht zu denken. Aber so schrecklich es
auch werden mochte - sie würde an Bord sein, wenn das Schiff den
Äquator überquerte, wenn es in Rio de Janeiro einlief. Bestand Cook
darauf, dass sie dort von Bord ging, würde sie dennoch Träume
gelebt haben, an deren Verwirklichung sie nie zu glauben gewagt
hätte.
Und noch etwas war da, ein Gedanke, so erregend,
dass sie ihn Banks gar nicht erst zu erklären versuchte: Von London
bis Madeira und auf der Insel selbst würde sei allein
unterwegs sein. Ohne Anstandsdame und ohne Gefährten. In allem
würde sie auf sich selbst gestellt sein. Es war ein Bild der
Unabhängigkeit, an das sie in ihrer jetzigen Welt nicht einmal
denken konnte, und schon ein flüchtiger Blick darauf wühlte sie
auf. Hohn und Spott, Verachtung, ja selbst Abscheu - das alles
konnte schmerzen, ihr aber nicht wirklich schaden. Bei ihrer
Rückkehr würde es sich verflüchtigen; bleiben würde nur, was sie
für sich in Besitz genommen hatte.
Derlei Dinge beschäftigten Banks kaum. Es kann
gefährlich werden, verliebt und Optimist zu sein. Noch immer ein
wenig berauscht von seinen Erfolgen, war er der festen Überzeugung,
sein Plan würde gelingen, weil er selbst dafür Sorge tragen würde.
Die praktischen Belange traten hinter seiner Entschlossenheit, sie
zu meistern, zurück. Doch auch ihm wurde ab und an unbehaglich
zumute. Nachts lag er jetzt mitunter wach, voller Angst, sie könnte
am Morgen nicht mehr da sein. Dann beobachtete er ihren Schlaf,
betrachtete sie, wie sie in ihre Decken geschmiegt lag und kaum
wahrnehmbar atmete. Überwältigende Zärtlichkeit wallte in ihm auf,
und ihre Pläne erschienen ihm nur noch lachhaft. Dass sie allein
reiste, war eine ungeheuerliche Torheit, zu der er sie angestiftet
haben und die nichts anderes beweisen würde als seine kolossale
Selbstsucht. Am Morgen, so schwor er sich, würde er alles
rückgängig machen, doch wenn der Schlaf ihn wieder einholte,
verdrängte ihre Nähe seine Ängste, er besann sich auf ihren Mut,
ihre außergewöhnliche Kühnheit, Stolz auf sie erfüllte ihn, und
schließlich verschwammen seine Gedanken, und er glitt in die
Gewissheit des Schlafes hinüber.
Mit Anbruch des Frühlings wurde es schwieriger für
ihn, seiner Londoner Welt zu entfliehen. Der Druck, der auf den
Vorbereitungen für diese zweite Reise lag, war von anderer Art als
beim ersten Mal. Damals hatte es nicht die Last der Erfahrung
gegeben, nicht die Avancen zahlloser Botaniker, Taxonomen,
Philosophen, Geistlicher, Uhrmacher, Schiffsausrüster, Erfinder,
Künstler, Spekulanten, Kaufleute, Schneider, Bettler und
optimistischer jüngerer Söhne. Alle wollten ihn kennen,
Unternehmungen vorschlagen, ihren Rat anbieten, ihre Talente
darlegen oder ganz unverhohlen Bevorzugung beanspruchen. Und was
noch schlimmer war: Die Pläne für seine Leute und ihre
Unterbringung an Bord gerieten ins Stocken.
Er konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass
Cook selbst das Problem war. Für die erste Reise hatte der Kapitän
kein Kriegsschiff gewählt, sondern ein gedrungenes Kohlenschiff aus
Whitby mit vier Metern Tiefgang, so langsam wie stabil. Die
Endeavour hatte ihnen gute Dienste geleistet, aber es war
ein kleiner, beengter Schiffstyp, der Banks’ Zielen für die zweite
Reise nicht mehr gerecht wurde. Die Admiralität, von der
Wichtigkeit dieser Reise überzeugt, war bereit, Cook, sofern er es
wünschte, ein größeres Schiff zur Verfügung zu stellen, eines, das
sowohl Banks’ wissenschaftlichen als auch seinen persönlichen
Plänen Rechnung trug. Zu seiner Bestürzung aber lehnte Cook eine
Fregatte ab, er bestand auch diesmal auf einem Kohlenschiff, und
seine Geldgeber bestärkten ihn darin. Banks’ Enttäuschung über
diese Entscheidung äußerte sich in immer gereizteren Briefen an die
Admiralität, in denen er die Notwendigkeit einer größeren Zahl von
Begleitern und der entsprechenden Unterkünfte hervorhob. Inzwischen
hatte er mehr Einfluss, und die Admiralität stimmte gewissen
Ausbauten auf der Resolution zu, durch die der nötige Platz
gewonnen werden sollte.
In gewisser Weise war das ein Sieg, doch Banks war
weiterhin gekränkt, dass man seiner Empfehlung eines größeren
Schiffs nicht mehr Gewicht beigemessen hatte. Und was noch
schlimmer war: Die ganze Sache hatte einen Konflikt mit Cook
heraufbeschworen, einem Mann, den er respektierte und mit dem er
sich stets einig gewesen war. Das brachte seine Zuversicht ein
wenig ins Wanken, und er fragte sich, ob Cook so gelassen auf den
zusätzlichen Passagier reagieren würde, wie er es erwartete. Doch
selbst wenn er in seinem Haus in der New Burlington Street auf und
ab schritt, war ihm bewusst, dass sein Ärger zu einem kleinen Teil
einer anderen Quelle entsprang. Die strikte, unparteiische
Ehrlichkeit, die der Mann aus Yorkshire in dem Streit an den Tag
legte, veranschaulichte viele jener Tugenden, die Banks an ihm
bewunderte. Dass er bestenfalls beabsichtigte, Cook zu täuschen,
und ihn schlimmstenfalls sowohl in Verlegenheit bringen als auch
seinen Zorn erregen würde, war kein angenehmer Gedanke. In
Gesellschaft seiner Freunde war Banks verwegen und respektlos, in
Richmond am Kamin unverfälscht und leidenschaftlich. Doch der
Kapitän verkörperte für ihn andere Ideale, Ideale der
Führungsstärke und der Rechtschaffenheit, die er an dem Seefahrer
stets bewundert hatte. Eine Geliebte an Bord zu schmuggeln war wohl
kaum ein Beweis solcher Eigenschaften. Und je mehr ihn sein
Gewissen plagte, desto mehr ärgerte er sich über Cooks Tugenden und
desto heftiger schwelte der Konflikt.
Während in ihm die Zweifel wuchsen, wurde sie
seltsamerweise unbekümmerter. Der Sommer kam rasch, die Tage wurden
heiß, die Nächte kurz und stickig. Ihre Passage nach Madeira war
bestätigt, für Geld und Unterkunft war gesorgt. Ihr Traum schien
ein Eigenleben und eine eigene Logik zu entwickeln. Sie begann,
jeden Schritt ihrer Reise einzustudieren: die Kutschfahrt nach
Southampton, das Einschiffen auf der Robin, ihre Stimme bei
alldem, ihren Namen, ihre Art, sich zu geben, ihr Verhalten. Sie
probte ihren Text und bekämpfte ihre Ängste, ehe sie sie zu
verschlingen drohten. Banks wurde in dieser Zeit so häufig in
London gebraucht, dass seine Besuche unregelmäßiger und kürzer
wurden. Umso leichter konnte sie sich vorstellen, wie es in ihrem
Refugium in Richmond aussehen würde, wenn er fort war und sie
zurückblieb. Was Verschwiegenheit gewesen war, würde Isolation
werden, was Geheimnis gewesen war, würde sie erdrücken. Je länger
sie darüber nachdachte, desto klarer wurde ihr, dass sie ohne ihn
nicht bleiben konnte. Was als Nächstes geschehen würde, verlor mehr
und mehr an Bedeutung, solange es nur nicht dies war.
Eine Woche vor der geplanten Abreise zog sie ihre
neuen Kleider an und schlüpfte in die Abenddämmerung hinaus. Es war
schon still in den Straßen, nur da und dort ging noch jemand im
warmen Zwielicht dahin und rührte den Staub auf. In den Häusern und
den Wirtschaften am Fluss brannte Licht. Die Themse war ein dunkler
Spiegel, der nichts reflektierte. Von niemandem beachtet, ging sie
über eine Stunde durch die Straßen und nahm Abschied von den
vertraut gewordenen Dingen. Der Wind frischte auf und zerriss die
Wolkendecke. Wo die letzten Häuser an den Wald grenzten, blieb sie
stehen. Sie fühlte sich sehr klein und sehr allein und bis ins
Innerste von Angst erfüllt. Doch als sie aufblickte und die Wolken
vor dem Mond dahineilen sah, erschauerte sie, und ein tiefer
Atemzug füllte ihre Lunge. Und als sie ausatmete, war es, als
umarmte sie der Nachthimmel.
Als er drei Tage später zu ihr ritt, hatte er
einen Entschluss gefasst. Der Reiz des Spiels hatte lange genug
gewährt; jetzt war er nicht mehr aufrechtzuerhalten. Es sollte ihre
letzte gemeinsame Nacht werden, am nächsten Tag sollte er sie zur
Kutsche geleiten. Nun aber würde er ihr sagen, dass sie nicht
fahren dürfe, würde es ihr nötigenfalls verbieten. Es war ein
Trugbild gewesen, von ihm geschaffen; die Schuld lag bei ihm. Er
würde sie um Verzeihung bitten, und sie würden ihr Leben nach
seiner Rückkehr planen. Sein Entschluss erfüllte ihn mit
unendlicher Erleichterung.
Bei seiner Ankunft in Richmond übergab Martha ihm
mit düsterer Miene eine Nachricht in den ihm schon vertrauten
schrägen Schriftzügen.
»Mein Liebster«, begann der Brief, »vergib mir.
Noch eine Nacht in Deinen Armen, und Du würdest mich umstimmen.
Allzu leicht stellt sich Furcht ein, wenn Du an meiner Seite bist.
Allein aber bleibt mir keine Wahl, als tapfer zu sein. Ich weiß,
wenn Du mich hältst, wirst Du mich nicht mehr gehen lassen, und
deshalb bin ich nun schon fort. Ich muss so handeln. Ich erwarte
Dich auf Madeira. Dort sehen wir uns wieder.<
Der Brief trug keine Unterschrift, aber am Fuß der
Seite war in kleiner, unsicherer Schrift noch eine Zeile
angefügt:
»Es ist dunkel, und mit dem Wind weht etwas heran,
das mir Angst macht. Was uns auch widerfährt - ich werde immer an
Dich denken. Wenn Du kannst, denk auch an mich.<