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Der Spix-Ara
Ich hatte Gabriella über den Resten eines toten
Aras kennen gelernt. Damals war ich jünger und noch Optimist, und
der brasilianische Regenwald war in jeder Hinsicht unerforscht. Ich
war mit De Havillands Expedition dorthin gereist, frisch von der
Universität und maßlos überzeugt von meinen Fähigkeiten. Als De
Havilland abreiste, blieb ich, um mich einer Gruppe aus Oxford
anzuschließen, die einige Wochen später eintreffen sollte. Es
wurden Monate daraus - wichtige Teilnehmer waren erkrankt oder
hatten es sich anders überlegt, und die Finanzierung war immer
wieder gescheitert -, aber das Warten machte mir nichts aus. Ich
war jung und voller Zuversicht, und nichts schien besondere Eile zu
haben. Ich hatte gute Beziehungen dort, durch die ich ein sauberes
Zimmer mit einem Schreibtisch und einem Ventilator fand, und was
noch wichtiger war: Ich hatte eine Kiste voller Notizen unter
meinem Bett und eine Idee für ein Buch über ausgestorbene
Vogelarten, das mein Hauptwerk werden sollte. Eine brillante Idee,
so schien es damals.
Tagsüber schlief ich meist oder schlenderte mit
einem Drink in der Hand auf Gartenpartys des Konsulats umher,
nachts schrieb und schrieb ich mit unverhohlener Leidenschaft über
das Schicksal der Wandertaube oder des Riesenalks. Mein Kopf war
klar und konzentriert, und ich brachte Seite um Seite zu Papier,
ohne Streichungen. Die Seiten liegen noch immer in der Truhe unter
meinem Bett.
Wenige Tage bevor die zweite Expedition aufbrach,
kam Berkeley Harris, der Quartiermeister, zu mir.
»Hast du mal kurz Zeit, Fitz?«
Harris nahm beim Reden nie die Pfeife aus dem Mund.
Er gehörte zu der Sorte Männer, die tagaus, tagein knielange Hosen
trugen und die Pfeife nur zum Essen aus dem Mund nahmen - eine
Spezies, die in Europa kurz nach dem Krieg ausgestorben ist, in
postkolonialen Randgebieten damals aber noch in kleinen
Populationen vorkam.
»Ich frage nur, weil im Bungalow dort drüben ein
ziemlich hübsches Mädchen Hilfe braucht - bei einem Papagei. Du
bist der Mann dafür, hab ich ihr gesagt.«
Normalerweise lag er in allem daneben, doch was
Gabriella betraf, hatte er ausnahmsweise einmal Recht gehabt. Sie
stand im Schatten, als Harris mich in den Garten des Bungalows
führte, und ich sah erst nur eine schlanke Gestalt. Dann trat sie
in die Sonne hinaus, um uns entgegenzugehen, und ich brach mitten
im Satz ab und streckte die Hand aus. Ich hatte Mädchen gekannt,
die als schön galten, und Gabriella hatte nichts mit ihnen gemein.
Doch ihre Augen, ihre Kopfhaltung und ihr Stirnrunzeln, als sie mir
die Hand gab, hatten etwas Besonderes.
»Miss Martinez, das ist John Fitzgerald. Er kann
Ihnen bestimmt weiterhelfen. Fitz, Miss Martinez arbeitet im Zoo.
Ihr Papagei ist gestorben, und sie will ihn ausstopfen
lassen.«
»Präparieren. Präparieren heißt das. Ausstopfen
sagen wir nur, wenn wir schnoddrig daherreden wollen.«
»Aha. Also, ich geh dann. Muss nämlich eine
Expedition präparieren.«
Sie wartete, bis er im Haus war, ehe sie sprach.
Ihre Stimme war das Gegenteil des Gekichers auf den
Gartenpartys.
»Er irrt sich, Mr. Fitzgerald. Es ist kein Zoo, und
es ist kein Papagei.«
Ich musste lachen.
»Das ist bei Harris der Normalfall. Aber wie kann
ich Ihnen helfen, Miss Martinez?«
Sie sah mir mit großem Ernst in die Augen.
»Ich habe einen der seltensten Vögel der Welt
verloren.«
Eine bessere Einleitung hätte sie nicht finden
können.
Die Gabriella, die mir jetzt am Küchentisch
gegenübersaß, hatte noch dieselben ernsten Augen. Sie betrachtete
mich mit ihrem halben Lächeln, studierte mein Gesicht mit derselben
entwaffnenden Aufmerksamkeit wie früher. Als ich eine Flasche Wein
aufmachte, kam es mir vor, als sei die Küche zu klein für sie, als
sei ein dunkles Waldtier versehentlich in einen Pferch
geraten.
»Auf verlorene Vögel?«, sagte sie und hob ihr
Glas.
Das war zwar nicht meine erste Wahl, aber es
ging.
»Auf verlorene Vögel.«
Es klang ein wenig nach Plastik, als unsere Gläser
aneinander stießen.
»Schön, dich wieder zu sehen, Fitz. Gestern Abend
konnten wir ja nicht reden.«
»Das hab ich gemerkt.«
Sie legte die Hand um ihr Glas und wiegte es sacht,
sodass der Wein darin zu kreisen begann.
»Ich wollte dich vorher anrufen, aber du hast meine
Briefe nicht beantwortet. Ich war verunsichert. Als Karl dann nach
dir gefragt hat, war das ein guter Vorwand.«
Sie hätte keinen Vorwand gebraucht, aber das sagte
ich ihr nicht. Eine Weile schauten wir uns an und wussten nicht, wo
wir wieder anknüpfen sollten. Schließlich begann sie, von ihrem
Projekt im Amazonasgebiet zu erzählen, davon, wie es sich
entwickelt hatte, seit wir uns zuletzt gesehen hatten, was für eine
Art von Arbeit sie dort machte. Ihre Augen leuchteten, als sie von
den Erfolgen berichtete, den gewonnenen Scharmützeln gegen eine
Flut, die sie irgendwann doch mitreißen würde. Ich hatte mich auf
dem Laufenden gehalten, und sie war sichtlich erleichtert, dass ich
bei den neuesten Forschungen mitreden konnte - Inselbiogeografie,
Schutzkorridore -,Themen, mit denen sich ihr Projekt herumschlug.
Das andere Thema mieden wir in stillschweigendem Einvernehmen, das,
worüber wir nie geredet hatten: jene letzten Tage, das Foto auf
meinem Nachttisch, ein Leben, das wir hinter uns gelassen hatten.
Stattdessen redeten wir über Quoten, Tortendiagramme und variable
Aussterberaten. Nach und nach näherte sich das Gespräch, wie ich es
vorausgesehen hatte, dem Anliegen des vergangenen Abends.
»Ich wollte dich etwas fragen.« Sie stellte ihr
Glas ab, legte die Hände in den Nacken und warf ihr Haar zurück. Es
war eine Geste, die ich wiedererkannte. »Du mochtest Karl nicht
besonders, nicht wahr, John?«
»Sollte ich?«
»Nein, nein. Ich dachte nur, du wärst
interessiert.«
»Interessant war, dass er mir für ein paar
Telefonate fünfzigtausend Dollar geboten hat.«
»Ich hab ihm gesagt, dass das mit dem Geld ein
Fehler war. Dass du ihm entweder helfen würdest oder eben
nicht.«
»Genau. Ich helfe ihm nicht.«
Sie sah mich mit dem vertrauten, eindringlich
fragenden Blick an. Es kam mir seltsam normal vor, so mit ihr zu
reden, als setzten wir ein Gespräch fort, das wir erst eine Woche
zuvor begonnen hatten. Sie stand auf, ging um den Tisch herum und
ließ sich auf der Kante des Stuhls neben mir nieder.
»Ich möchte dir von Karl erzählen«, sagte sie und
beugte sich vor.
Ich schüttelte den Kopf und versuchte, mit fester
Stimme zu sprechen, aber es schwang wohl doch eine Spur Panik mit.
»Ich weiß nicht, ob ich das hören will.«
»Lass mich erzählen, Fitz. Er ist nicht der, für
den du ihn hältst. Ich hab dir gestern Abend angesehen, was in
deinem Kopf vorgeht, und mich gefragt, ob du ihm deshalb nicht
helfen willst.«
»Du kannst denken, was du willst.«
Sie schüttelte den Kopf. »Du verstehst nicht. Karl
ist ein interessanter Mann, ein bisschen ein Unruhestifter, aber
das müsste dir doch gefallen. Die Fachwelt legt ihm ständig Steine
in den Weg. Man nimmt ihn nicht ernst, weil er kein Akademiker ist,
aber er ist immer noch besser darin, Sachen aufzuspüren als sie,
und dann stehen sie dumm da. Du und er, ihr solltet an einem Strang
ziehen.« Sie schwieg einen Moment und sah auf ihr Glas hinab. »Aber
ich hab euch nicht deswegen einander vorgestellt. Du weißt doch,
was für eine Art von Arbeit ich schon immer machen wollte, John.
Ja, und jetzt ist es so weit. Gute Arbeit. Wertvolle Arbeit. Stellt
die ganzen gängigen Auffassungen über Naturschutzgebiete auf den
Kopf. Als ich Karl kennengelernt habe, stand das Projekt auf
Messers Schneide. Wir sind pleite, Fitz. Alle arbeiten ohne
Bezahlung, und die Zuschüsse, die wir aus Europa bekommen, reichen
nicht mal für unsere Computer. Karl hat Geld reingesteckt, als
wir’s gebraucht haben, und er tut es auch jetzt noch.«
Mit gesenkter Stimme fuhr sie fort: »Als ich ihn
kennen gelernt habe, dachte ich genau wie du. Ich dachte, er ist
ein übler Scharlatan - ein Sammler, einer von der Sorte Leute, vor
denen wir die Dinge ja gerade schützen. Aber er hat nichts von uns
verlangt. Auch von mir nicht. Er bezahlt die Rechnungen, wenn es
hart auf hart kommt, das ist alles.«
»Als Philanthrop ist er nicht gerade
bekannt.«
»Klar, er bekommt natürlich auch etwas zurück. Wir
verschaffen ihm Prestige und ebnen ihm den Weg in die Welt des
Naturschutzes. Ich bin nicht so naiv zu glauben, dass er das alles
nur meinetwegen tut. Aber ich könnte kaum einen besseren Förderer
finden.«
»Und als Gegenleistung hilfst du ihm, Joseph Banks’
verschollenen Vogel zu suchen?«
»Er braucht meine Hilfe nicht. Er hat einen
Anhaltspunkt, der ihm sagt, wo er suchen muss. Aber er weiß nicht,
ob das klappt, und deshalb hätte er dich gern auf seiner Seite
statt auf der von irgendjemand anderem. Er ist sich sicher, dass du
etwas weißt, verstehst du? Er sagt, du hast die richtigen Bücher
gelesen.«
»Ich weiß zwar nicht, was er damit meint, aber das
klingt nicht so, als würde er meine Hilfe wirklich brauchen. Und
selbst wenn: Ich würde ihm nicht helfen.«
»Dann hilf mir.« Sie fasste meinen Arm plötzlich
mit festem Griff. »Wenn du ihm nicht helfen willst, dann hilf mir.
Ich muss diesen Vogel finden, Fitz. Unsere ganze Arbeit hängt davon
ab.«
»Ich verstehe nicht.«
Sie neigte den Kopf leicht in meine Richtung und
sah mich durchdringend an.
»Ich würde damit an Ted Staest herankommen, Fitz.
Karl ist denkbar großzügig, aber Staest spielt in einer anderen
Liga. Im Moment interessiert er sich nur für seine DNA-Arche, aber
wenn wir ihm mit dem Vogel helfen können, wenn ich ihn für unser
Projekt interessieren kann... Er vergibt Fördermittel, da würde dir
das Wasser im Mund zusammenlaufen, Fitz. Ohne so etwas können wir
nicht mehr lange durchhalten. Geld von Staest würde das Projekt auf
Jahre hinaus sichern. Allen Ernstes. Fünf Jahre gute Arbeit. Das
könnte das Überleben von einem Dutzend Arten bedeuten, Fitz.
Überleg mal!«
Plötzlich war es zu heiß in der kleinen Küche. Ich
stand auf und ging ans Fenster, legte meine Hände auf die
Wasserhähne und versuchte, deren Kühle aufzusaugen. Ihr helfen,
Anderson helfen, dem Projekt helfen... Ich wurde da in ein
verwirrendes Netz hineingezogen.
Und dann fiel mir ein, dass das Ganze auf einem
Irrtum beruhte.
»Es gibt ein Problem bei der Sache, Gabriella: Ich
weiß nichts. Ich habe nichts, womit ich euch weiterhelfen
könnte.«
»Du hast doch so viele Beziehungen. Und deine
Notizen... Da muss es doch etwas geben...«
Ich schüttelte den Kopf. Sosehr ich es mir auch
gewünscht hätte: Meine Notizen enthielten nichts Brauchbares über
den Ulieta-Vogel. Ich stand auf und ging wieder ans Waschbecken,
sodass Gabriella mein Gesicht nicht sah.
»Tut mir Leid«, sagte ich. »Sei vernünftig, geh zu
Anderson zurück, und sei recht nett zu ihm, bis er den Vogel
findet.«
Es war wohl nicht gerade das Einfühlsamste, was ich
je gesagt hatte, aber ich fühlte mich in dem Moment ziemlich
mies.
Gabriella erhob sich. Ich sah ihr Spiegelbild im
Küchenfenster. Sie schaute mich nicht an.
»Morgen fliege ich nach Deutschland«, sagte sie in
neutralem Ton. »In ein paar Wochen komme ich wieder. Ich habe Karl
versprochen, dass wir uns dann wieder treffen. Er meint, er könnte
einen Monat hier bleiben, bis alles geklärt ist.« Sie zog ihre
Jacke an. »Wenn ich in der Zwischenzeit irgendetwas Verwertbares
finde, sag ich dir Bescheid. Du kannst dann damit machen, was du
willst.«
Sie ging zur Tür, aber nicht hinaus. Ich drehte
mich um und sah, dass sie mich anschaute. Sie wirkte plötzlich
traurig.
»Weißt du noch, wie wir uns kennen gelernt haben,
John? Erinnerst du dich an den Vogel?«
»Ja. Ein Spix-Ara.«
»Und weißt du, wie es weiterging?«
Ich nickte. Der Vogel, den Gabriella sterbend in
einem Käfig auf einem Markt entdeckt hatte, war einer der letzten
seiner Art gewesen. Bis vor zehn Jahren war die Zahl aller frei
lebenden Spix-Aras auf drei gesunken, acht Jahre später gab es nur
noch einen, ein einzelnes, schon älteres Männchen. Die Experten
hatten seinen baldigen Tod infolge von Alter oder Einsamkeit
erwartet, doch soviel wir wussten, gab es ihn noch; ganz allein
ging er unbeirrbar dem Geschäft des Lebens nach. Nach seinem Tod
würden nur noch etwa dreißig Exemplare in Gefangenschaft
existieren. Brutpaare waren nicht darunter.
Gabriella und ich sahen uns einen Moment an.
»Ich ruf dich an, wenn ich zurück bin, John. Ich
würde gern noch mal mit dir reden.«
Ich blieb an der Spüle stehen, bis sie die Tür
hinter sich zugezogen hatte. Erst als ich die Gläser wegräumte, sah
ich ihren Regenmantel an dem Haken an der Tür hängen. Wie ein
Versprechen, dachte ich. Oder auch ein gleichgültiger
Abschiedsgruß.
Damit hätte mein Tag zu Ende sein sollen, aber er
war es nicht. Ich musste mich erst einmal hinsetzen und über alles
nachdenken. Ich brauchte Schlaf, doch die Bücher an der Wand ließen
mir keine Ruhe. Was hatte Anderson gesagt? Irgendetwas von den
richtigen Büchern, die ich gelesen hätte. Ich versuchte mir
vorzustellen, was ich tun würde, wenn ich mich erstmals über den
Ulieta-Vogel informieren wollte. Wo würde ich suchen? Zwei Bücher
boten sich unmittelbar an, und ich besaß sie beide, staubfrei,
direkt vor mir. Nachdenklich nahm ich sie aus dem Regal. Das erste
war mit Abstand das maßgeblichste: Ausgestorbene und vom
Aussterben bedrohte Vögel der Erde von James Greenway. Ich
schlug es behutsam auf und blätterte zu der Seite über den
Ulieta-Vogel. Das wenige, was man über ihn wusste, war dort mit
bewundernswerter Klarheit dargelegt. Ich inspizierte die Seite
genau, suchte nach Spuren auf dem Papier, irgendwelchen Anzeichen
dafür, dass am vergangenen Abend jemand den Text gelesen hatte.
Aber warum hätte er das tun sollen? Ich besaß die neueste
Taschenbuchausgabe, und die konnte man sich jederzeit
besorgen.
Ich nahm das zweite Buch zur Hand: Seltene
Vogelarten von R. A. Fosdyke. Fosdyke war schrullig, wo
Greenway wissenschaftlich war, und nachlässig, wo Greenway exakt
war. Fosdyke war ein Amateur gewesen, dessen Hobby in den
Sechzigerjahren darin bestanden hatte, in alten wissenschaftlichen
Zeitschriften nach Erwähnungen seltener und ausgestorbener Vögel zu
suchen. Das Buch erhob keinen Anspruch auf Vollständigkeit, aber
jeder, der sich ernsthaft mit dem Thema befasste, besaß es, denn
Fosdyke spürte ab und zu eine Quelle auf, die niemand sonst
kannte.
Ich hielt das Buch ins Licht und schlug es
vorsichtig auf. Es war eine Erstausgabe, von Fosdyke kurz vor
seinem Tod signiert. War eine signierte Erstausgabe etwas wert? War
sie einen Einbruch wert? Offensichtlich nicht, denn sie war noch
da, sauber, aber ganz und gar vorhanden. Fosdyke führte zwei
Verweise auf den Vogel an - dieselben wie Greenway - und
beschränkte sich auf dieselbe Schlussfolgerung: zuletzt gesehen in
der Sammlung von Sir Joseph Banks.
Müde klappte ich das Buch wieder zu. War das der
Anhaltspunkt, der Anderson so beschäftigte? Wenn ja, dann war es
ein enttäuschender Anhaltspunkt. Die beiden Einträge bildeten die
Summe meines Wissens und boten keinerlei Hilfe, außer vielleicht
einen vagen Hinweis darauf, wo man anfangen musste: bei Joseph
Banks, dem Naturforscher, irgendwann im späten achtzehnten
Jahrhundert.
Es war schwül und drückend in London nach den
schattigen Wäldern von Revesby, doch Banks war zu sehr auf die
Dinge konzentriert, die vor ihm lagen, als dass er es wahrgenommen
hätte. Seine Zeit war mit den praktischen Belangen seiner Abreise
ausgefüllt, deren Erfordernisse von so großer Dringlichkeit waren,
dass die stehende Hitze in den Straßen ihn kaum hemmte. Während
seiner Tage in Revesby waren gewisse Angelegenheiten nicht in der
gewünschten Weise vorangeschritten, und zudem mussten Rechnungen
bezahlt, Gespräche mit Handwerkern geführt, Vorräte beschafft und
zahllose Briefe geschrieben werden.
Wenige Tage nach seiner Rückkehr wurde seine
Verlobung mit Harriet Blosset beschlossen. Er hatte sie erst vor
einigen Monaten kennen gelernt, und seine Liebelei mit ihr war
nicht über das Maß des Alltäglichen hinausgegangen. An dem Tag
aber, an dem seine Teilnahme an Cooks Expedition erstmals ernsthaft
erörtert wurde, sollte er bei ihrer Anstandsdame vorsprechen, und
als er dann im Garten mit ihr allein war, sah er sie plötzlich mit
anderen Augen. Es war, als hätte die bevorstehende Reise seinen
Blickwinkel verändert, als sehe er die Dinge jetzt klarer. Als sie
sich vorbeugte, war er hingerissen von der außerordentlichen
Schönheit weiblicher Gestalt, von der Vollkommenheit der Linie
ihres Halses bis hinab zur Schulter. Sie ging vor ihm, und er
bestaunte ihre schmale Taille und ihre grazilen Arme und Hände, als
hätte er dergleichen nie zuvor gesehen. Dann blickte sie ihn an,
und er gewahrte ein Flehen in ihren Augen, das ihn bewog, ihre Hand
zu ergreifen. Dass ein solch vollkommenes Wesen ihn in dieser Weise
ansah, erschien ihm wie ein Wunder.
Im Rosengarten küsste er sie, und sie errötete bis
auf die Schultern hinab. Ihre Hand schloss sich um seine, und dann
erwiderte sie seinen Kuss, inbrünstiger und länger als zuvor.
Schließlich fasste sie ihn an der Hand, mit einem Mal ausgelassen
lachend, und zog ihn zum Haus hin, und es schien, als wollte sie
ihn nie mehr loslassen. Als er später, nachdem er in seine Räume
zurückgekehrt war, an sie dachte, wallte Zärtlichkeit in ihm auf,
und er staunte, dass es in seiner Macht lag, solches Glück zu
schenken.
Er wusste sehr wohl, welche Erwartungen sein Brief
aus Revesby in ihr geweckt hatte. Als seine knappe Zeit es ihm
endlich gestattete, ihr seine Aufwartung zu machen, fand nur ein
kurzes Gespräch statt. Sie war erregt, aber beherrscht, und in
ihrem Kuss lag ein kindlicher Überschwang, der ihn anrührte. Er kam
sich weise und ein wenig väterlich vor, als er wieder ging. Die
Verlobung sollte erst nach seiner Rückkehr bekannt gegeben werden,
wenn es in angemessener Weise möglich war. Doch wer die beiden
zusammen sah, fand Harriet sehr verliebt. Ihr blondes Haar und die
runden blauen Augen zogen die Blicke Fremder auf sich, und sie
lachte fröhlich, wenn sie an seinem Arm dahinschritt. Entfernte er
sich von ihr, um sich mit anderen zu unterhalten, folgte sie ihm
rasch nach, strahlender und glücklicher an seiner Seite. Ruhte ihr
hübsches Köpfchen an seiner Schulter, fühlte er sich als der starke
Beschützer. Allein wenn sie von seiner Rückkehr redete, als stünde
diese außer Frage und sei schon bald zu erwarten, verblasste sein
Lächeln ein wenig. Und wenn er von den Gefahren der Reise sprach,
von den Hoffnungen, die er damit verband, brachte sie ihn zum
Schweigen, indem sie seine Hand nahm und jeden seiner Finger
küsste.
Weilte Banks nicht bei Harriet Blosset, suchte er
die Gesellschaft von Männern. Cook war ernst und nüchtern in jenen
letzten Tagen vor der Abreise und nahm Banks damit für sich ein.
Seine Geradlinigkeit und sein klarer Verstand stachen vom
aufgeregten Lärmen der vielen anderen ab, und je näher die Reise
rückte, desto mehr schien er an Format zu gewinnen, sodass er zum
Schluss der Einzige war, dem Banks sich unterordnete. Als es
endlich so weit war, fuhren Banks und Solander von London nach
Plymouth, wo sie mit Cook zusammentreffen und an Bord der
Endeavour gehen sollten. Die Reise dauerte vier Tage und
verlief teilweise in düsterer Stimmung. Beide mussten sich nun der
Realität der Gefahren stellen, die vor ihnen lagen. Erst als sie
auf der Reede vor Plymouth an der Reling standen und auf das Land
blickten, das sie vielleicht nie wieder sehen würden, dachte Banks
auf eine Frage von Solander wieder an Revesby.
»Alles ging gut dort«, erwiderte er und blickte zu
der Stadt hinüber, auf deren Docks noch Betrieb herrschte. »Ich
konnte von dem Ort und von den Menschen Abschied nehmen.« Ein
Lächeln umspielte seinen Mund. »Und ein Student der örtlichen Flora
hat mir eine Lektion über Flechten erteilt.«
»Tatsächlich?« Solander lächelte. »Ich wusste gar
nicht, dass Revesby ein solches Zentrum der Gelehrsamkeit
ist.«
»Oh, unterschätzen Sie Revesby nicht, mein Freund.
Was würden Sie sagen, wenn ich Ihnen erzählte, dass ich dort einen
Pflanzenmaler entdeckt habe, dessen Können dem der Künstler, die
mit uns reisen, in nichts nachsteht?«
»Ich würde sagen, Sie übertreiben. Haben Sie Proben
seiner Arbeit mitgebracht, die eine solche Behauptung rechtfertigen
könnten?«
Banks’ Miene wurde plötzlich ernst. »Nein, ich habe
nichts, was ich Ihnen zeigen könnte. Und wer weiß? Vielleicht habe
ich mich auch geirrt.« Er blickte zur Sonne, die tief am Horizont
stand. »Es wird Zeit, dass wir nach unten gehen, mein Freund. Man
wird uns schon erwarten.«
In dem Haus am Ende des Dorfes pochte weiter der
Sommer an die Tür, und jeden Abend saß sie bis Einbruch der Nacht
bei ihrem Vater. Dann ging sie auf Zehenspitzen durch den kahlen
Flur in ihr Zimmer, setzte sich eine Weile ans Fenster und sah zu
den dunklen, vom Wind bewegten Bäumen hinüber. Gerüchte über Banks’
Verlobung kamen ihr erst zu Ohren, als die Endeavour bereits
in See gestochen war, und in den langen Stunden zwischen
Sonnenuntergang und Tagesanbruch stellte sie sich vor, wie er mit
jener unbekannten Frau im Herzen reiste. Sie sah ihn am Rand neuer
Welten, hungrig nach Leben, begierig deren Bilder und Geräusche in
sich aufnehmend, um sie bei seiner Rückkehr der, die auf ihn
wartete, zum Geschenk zu machen.
Sie hatte nicht gedacht, dass die Wälder ohne ihn
so viel leerer sein würden. Ganz Revesby schien nach seiner Abreise
zu schrumpfen, und plötzlich waren die Menschen wieder wie früher,
engherzig oder auch boshaft, wenn es ihnen in den Sinn kam. Dass
seine Gegenwart in diesem Sommer vieles für sie ändern würde, war
ihr bewusst gewesen. Als er fort war, bezahlte sie den Preis, den
sie erwartet hatte, und in ihrer Einsamkeit sah sie sich
Sticheleien ausgesetzt, die er sich niemals hätte vorstellen
können.
Zu seiner eigenen Überraschung verfasste er in den
ersten Wochen seiner Reise zwei Briefe an sie, den ersten, während
die Endeavour noch vor Anker lag und Solander auf Deck ihre
Effekten inspizierte.
»Mit großem Bedauern«, so schrieb er, »habe ich
vernommen, dass der Zustand Ihres Vaters es erfordert, einen, der
nur Ihr Bestes will, von Ihrer Schwelle fern zu halten. Ich hätte
Ihnen für die Dauer meiner Reise gern einige kleinere Gegenstände
überlassen, die Ihnen, dessen bin ich mir gewiss, bei Ihren Studien
von Nutzen hätten sein können. Es betrübt mich, dass diese
Materialien nun ungenutzt bleiben, statt den Zweck zu erfüllen, für
den sie gedacht waren.
In wenigen Stunden wird meine Reise nun allen
Ernstes beginnen, und wir, die wir uns entschlossen haben, uns auf
dieses Unternehmen einzulassen, sind uns der Risiken, die wir
eingehen, nur allzu bewusst. Es ist durchaus möglich, dass wir uns
nie wieder sehen werden. Ich möchte Ihnen für das Vergnügen Ihrer
Gesellschaft während meiner letzten Tage in Revesby danken und
Ihnen für die Zukunft alles Gute wünschen.
Der Ihre,
Joseph Banks.
Achtzehn Tage lag der Brief noch immer auf dem
Pult in seiner Kabine, und er zerriss ihn jäh. An diesem Abend
schien es ihm, als hätte seine Reise erst jetzt wirklich begonnen.
Das Meer war tiefblau, und der Wind trug keinen Hauch des Landes
mehr heran. Es war ein Abend von unendlicher Klarheit, und als er
an den Bug des Schiffes trat, spürte er, wie das gewaltige
Himmelsgewölbe ihn umfing. Die Luft lag warm auf seiner Haut, die
Sterne strahlten hell, und als er so dort stand, glitt eine schwere
Bürde der Verantwortung von seinen Schultern. Mit einem Mal fühlte
er sich frei, glücklich zu sein.
Langsam schwand das Licht, und er blieb, bis das
Blau zu Schwarz geworden war und der Himmel am Horizont mit dem
Meer verschmolz. Dann ging er nach unten, entzündete seine Lampe
und verfasste einen zweiten Brief.
»Heute war das Meer grün«, schrieb er, »für einen
Augenblick nur, im Morgenlicht, ein tiefes Grün, wie man es vom
Land aus niemals sieht. Über den Wogen, hoch in den Lüften, ein
einzelner Mauersegler. Es erstaunte mich, ihn so weit von festem
Land entfernt zu sehen. Es war, als winkte er allem, was mit dem
Land zu tun hat, ein letztes Lebewohl zu.
Ich finde hier wenig Zeit, an Revesby zu denken,
doch wenn ich es tue, stimmt mich die Art und Weise unseres
Scheidens traurig. Am traurigsten aber macht es mich, dass Sie
diesen Himmel nicht sehen können. Die Farben scheinen sich mit den
dahinziehenden Wolken ständig zu verändern, und der Mond geht auf.
Sie würden den Wunsch verspüren, diesen Himmel zu malen.«
Als er Geräusche vor seiner Tür vernahm, hielt er
mit dem Schreiben inne. Der Brief blieb unvollendet.