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Ungeduldig schaute Hannah auf das Display ihres Handys. 15:24 Uhr. Seit mehreren Stunden wartete sie im Schatten der Kiefern auf Elsa Jones. Auf dem Plateau, auf dem das Bild entstanden war, hatten sie eine Wegbeschreibung hinterlassen, die sie hierherführen würde. Ihr Blick glitt zu den Mikrofonen, die sie gestern zusammen mit Steve im Unterholz und den Bäumen versteckt hatte. Durch ein paar einfache Berechnungen hatte sie die Stelle ermittelt, an der sie die Unterhaltung mit Elsa Jones führen musste, damit möglichst jedes Wort von ihnen aufgezeichnet wurde. Gestern hatten sie Probeaufnahmen gemacht; sowohl Steves als auch ihre Stimme waren gut zu verstehen gewesen.
Unbehaglich schaute sie auf das Gewehr, das vor ihr am Stamm der Kiefer lehnte. Steve hatte es geschafft, sie zu überreden, dass es bei einer Begegnung mit Elsa Jones sicherer war, wenn sie bewaffnet war.
“Du kannst vermutlich genauso gut schießen wie sie”, hatte er gesagt. “Das ist dein Vorteil, damit rechnet sie nicht.” Und als sie immer noch nicht überzeugt gewesen war, hatte er hinzugefügt: “Du musst sie ja nicht gleich umbringen, um sie außer Gefecht zu setzen.” Seine Worte hatten sie erstaunt, aber schließlich hatte sie nachgegeben. Wer weiß, vielleicht ließ Elsa Jones sich tatsächlich davon einschüchtern.
Erneut kontrollierte sie die Uhrzeit. 15:36 Uhr. Seit zwei Tagen kampierten Steve und sie in einer der Höhlen in der Felswand hinter ihr, damit Elsa Jones nicht vor ihnen hier aufkreuzen konnte. Bei karger Kost und wenig, mit dem sie sich beschäftigen konnten, lagen die Nerven blank, und mehr als einmal waren die Fetzen geflogen, wegen Nichtigkeiten. Einmal konnte Steve sein Taschenmesser nicht finden und warf Hannah vor, es verbummelt zu haben; ein anderes Mal warf sie ihm vor, ihr Vorhaben zu gefährden, weil er auf die Jagd gegangen war und mit seinem Rumgeballere alle möglichen Leute auf sich aufmerksam gemacht haben könnte.
“O Mann, entspann dich!”, hatte er erwidert und den erlegten Hasen auf den Höhlenboden geschleudert. “Es ist Jagdsaison, im ganzen Land wird ständig irgendwo geschossen.”
Zweimal war Hannah mit ihrem Handy und Laptop zu der Stelle gelaufen, an der der Empfang gut genug war, damit sie ins Internet gehen konnte. Ihr Postfach war mal wieder übergequollen, doch sie hatte die meisten Briefe ignoriert, bis auf die von Marek – er bat sie insgesamt fünfmal, den Quatsch bleiben zu lassen und mit dem FBI zusammenzuarbeiten. Sie sparte sich die Mühe, darauf zu antworten. Eine gute Nachricht war allerdings auch darunter gewesen: Es war tatsächlich Tanja gewesen, die seine Wohnung verwüstet hatte. Nach vier Tagen hatte die Polizei sie endlich aufgespürt, und vor Schreck, als plötzlich eine schwerbewaffnete Spezialeinheit vor ihrer Tür stand, hatte sie sofort alles zugegeben. Sie hatte sich über Marek geärgert und nicht an die Folgen gedacht.
Gestern Abend hatte sie eine weitere Mail von Dan Mullen gefunden.
Ms Marcks!
Wie ich inzwischen herausgefunden habe, scheint Elsa Jones Verbindungen zum FBI zu haben. Es handelt sich um einzelne Personen, welche die Infrastruktur der Behörde missbraucht haben – aber keinesfalls das FBI als Ganzes. Ich weiß, dass es Ihnen schwerfallen muss, mir zu vertrauen, aber ich bitte Sie dringend: Versuchen Sie nicht, allein gegen Elsa Jones vorzugehen! Setzen Sie sich mit mir in Verbindung!
Ihr
Dan Mullen
Natürlich! Das FBI war die Organisation, die hinter Elsa Jones stand. So vieles ergab plötzlich einen Sinn. Kein Wunder, dass die Ermittlungen vor zwei Jahren ausschließlich Beweise zu Tage befördert hatten, die gegen sie sprachen. Kein Wunder, dass weder Taylor noch Mullen ihr geglaubt hatten. Kein Wunder, dass Elsa Jones sofort gewusst hatte, dass Matthew Donaldson sie befreit hatte – und sich dann ausgerechnet hatte, wo sie steckte.
Aber wieso verriet Mullen ihr jetzt, dass das FBI hinter alldem steckte? Entweder war das eine Falle. Oder er meinte es ernst – weil er ebenso empört war wie sie.
Steve hatte fast triumphierend gegen einen Felsen getreten, als sie ihm von der Nachricht erzählt hatte. “Ich hab’s doch gewusst, dass man diesen Schweinen nicht trauen kann. Solche Arschlöcher!”
“Aber Mullen würde doch garantiert niemals mit Rassisten zusammenarbeiten.”
“Wieso nicht? So einem wie ihm kann man nicht trauen.”
Sie war zu ausgelaugt gewesen, um deswegen erneut Streit mit ihm anzufangen.
Sie schaute hinauf in die Felswand, in der sich Steve jetzt versteckte. Er hatte den besseren Blick auf den Pfad, der zur Lichtung führte, doch sie hatten beschlossen, darauf zu verzichten, dass er ihr irgendwelche Zeichen gab – es war wichtiger, dass er unerkannt blieb, als dass sie ein paar Minuten vorher über Elsa Jones’ Kommen Bescheid wusste. Die graue Felswand lag im Schatten, darauf hatte sie geachtet, damit das reflektierende Sonnenlicht auf der Kameralinse ihn nicht womöglich verriet.
Sie stand auf und nahm das Gewehr in die Hand. Der Lauf war fest und kühl. Sie machte ein paar Schritte, um den Pfad besser einsehen zu können. In der Ferne meinte sie, eine Bewegung auszumachen. Sie erstarrte.
Wenige Minuten später näherte sich langsam eine Gestalt. Sie war allein, die Hände hingen locker an den Seiten herab. Doch Hannah zweifelte nicht, dass sie irgendwo eine Waffe bei sich trug.
Rasch suchte sie den Pfad hinter der Gestalt und den darüber liegenden Abhang ab. Elsa Jones schien tatsächlich allein gekommen zu sein.
Als sie auf vielleicht zwanzig Meter herangekommen war, blieb sie stehen. Ihre braunen Haare unter der Baseballmütze waren kurz geschnitten, das Gesicht sonnenverbrannt. Sie trug eine Camouflagehose, Springerstiefel und ein kariertes Hemd.
Hannah hob das Gewehr und entsicherte es demonstrativ.
“Kommen Sie her!”, rief sie.
Elsa Jones zögerte, sichtlich verärgert, dann machte sie noch ein paar Schritte auf Hannah zu.
“Halt!”
Elsa Jones blieb stehen. Hannah senkte den Gewehrlauf. Plötzlich war sie froh, dass sie auf Steve gehört hatte.
Die beiden Frauen musterten sich stumm. Sie waren gleich groß, hatten dieselben blaugrünen Augen, den gleichen schlanken, durchtrainierten Körper. Damit hörten die Ähnlichkeiten aber auch schon auf. Hannahs Haare waren dunkelblond, Elsa Jones’ braun. Elsas Gesicht war runder, der Mund schmaler. Die Augen waren gegen das helle Sonnenlicht zusammengekniffen.
Sie sieht mir nicht einmal ähnlich, dachte Hannah und empfand einen absurden Stich der Enttäuschung. Wie hatte nur irgendein Mensch sie je mit dieser Frau verwechseln können? Bittere Wut erfasste sie.
“Was wollen Sie?”, fragte Elsa Jones. Ihre Stimme war rau und kratzig, aber sie sprach laut genug. Die Mikrofone würden jedes Wort aufzeichnen.
“Ich will meine Ruhe haben”, sagte Hannah und ließ das Gewehr noch ein Stückchen weiter sinken. Die andere sollte sich sicher fühlen. “Ich will Geld und eine neue Identität. Dem FBI traue ich nicht, und in mein altes Leben kann ich ohnehin nicht zurück. Ich will neue Papiere und ein Flugticket in ein Land meiner Wahl. Ich weiß, dass Sie das alles beschaffen können.”
Elsa Jones lachte auf. Es klang, als würde sie Steine werfen. “Einen Scheiß werde ich tun. Wieso sollte ich Ihnen helfen?”
“Weil sonst die ganze Welt erfahren wird, was Miles Henderson mir vor seinem Tod anvertraut hat.”
Lauernd verlagerte Jones das Gewicht auf das linke Bein. “Und was hat er Ihnen erzählt?”
“Einen Namen. Zwei Namen, um genau zu sein. Jason Baker. Und Fenderson.”
Elsa lachte erneut auf. “Und Sie glauben, damit könnten Sie mir drohen?”
Hannah zögerte. Sie wollte ihre Karten nicht zu früh offenlegen. “Immerhin sind Sie hierhergekommen. Damit haben Sie sich selbst verraten.”
Elsa Jones musterte Hannah schweigend, als versuche sie, ihre Gegnerin einzuschätzen. “Ich könnte Sie hier und jetzt umbringen”, sagte sie, ohne mit der Wimper zu zucken.
Hannah hob das Gewehr wieder an. “Machen Sie ruhig noch einmal den Fehler, mich zu unterschätzen.”
Wortlos standen sie sich gegenüber, keine von ihnen rührte sich. Hannahs Blick fiel auf eine Auswölbung an der rechten Seite des karierten Hemdes.
“Entweder, Sie werfen Ihre Waffe auf den Boden, oder Sie heben sofort die Hände”, sagte sie ruhig.
Elsa Jones hob die Hände. Das Hemd rutschte hoch, und das Holster mit dem Revolver kam zum Vorschein.
“Ist das die Waffe, mit der Sie Matthew Donaldson erschossen haben?”
“Das ist die Waffe, mit der ich Sie erschießen werde.”
“Wenn Sie mich jetzt töten, wird morgen die ganze Welt wissen, dass Fenderson vom FBI Sie unterstützt. Wollen Sie dieses Risiko wirklich eingehen?”
Zum ersten Mal wirkte Jones tatsächlich aus dem Konzept gebracht. Natürlich, denn dass Fenderson beim FBI war, hatte Miles nicht gewusst. Auch Hannah selbst hatte nur geraten, aber offensichtlich hatte sie ins Schwarze getroffen. Ehe Jones sich von ihrem Schrecken erholt hatte, legte sie nach.
“Damit hatten Sie natürlich von Anfang an ein leichtes Spiel. Sie waren die ganze Zeit über die Ermittlungen informiert, und Fenderson konnte den Verdacht gezielt von Ihnen ab-und auf mich lenken.”
Jones’ Arme sackten allmählich nach unten.
“Lassen Sie die Hände oben”, warnte Hannah.
Elsa Jones gehorchte.
“Wie sind Sie eigentlich ausgerechnet auf mich gekommen, als Sie jemanden suchten, den Sie an Ihrer Stelle in den Knast schicken konnten?”, fragte sie bewusst provozierend.
Elsa Jones biss die Zähne zusammen und sagte nichts.
“Lassen Sie mich raten: Sie haben sich Zugang zu den Passagierlisten europäischer Fluglinien verschafft und jemand Passenden gesucht. Alleinreisende Frau, etwa Ihr Alter, etwa Ihre Größe. Vielleicht haben Sie noch etwas weiter nachgeforscht und festgestellt, dass ich sehr zurückgezogen lebe. Der ideale Ersatz, um Ihre Stelle einzunehmen.”
Sie beobachtete Jones.
“War es nicht so?”
Jones schwieg.
Hannah senkte den Lauf des Gewehrs und drückte zweimal ab. Wenige Zentimeter vor Jones’ Füßen spritzen kleine Sandfontänen in die Höhe. Jones wich einen Schritt zurück. Ihr Gesicht zeigte Überraschung, und sie war auf der Hut. Offensichtlich hatte sie nicht damit gerechnet, dass Hannah das Gewehr tatsächlich benutzen würde. Gut.
“Ich sagte: War es nicht so?”
“Sie haben recht. So war es.”
“Lassen Sie die Hände oben.”
Jones musterte sie schweigend.
“Bei der Ausweisung meines Bruders hatten Sie und Ihre Leute vermutlich ebenfalls die Hände im Spiel, stimmt’s? Ein kurzer Anruf bei der Einwanderungsbehörde, ein Tipp auf dem kleinen Dienstweg.”
Jones zog ein gelangweiltes Gesicht.
“Und was ist Major Keith Helling? Was für ein Glück für Sie, dass er starb, nachdem er Sie in Atlanta erkannt hatte, nicht wahr?” Hannah konnte sich den beißenden Spott nicht verkneifen. “Haben Sie bei ihm auch ein wenig nachgeholfen?”
Elsa Jones verlagerte das Gewicht auf das linke Bein. “Was soll der Scheiß? Ich denke, Sie wollen Ihre Ruhe haben. Dann kann es Ihnen doch egal sein, woran der alte Trottel gestorben ist.”
“Immerhin habe ich für Sie zwei Jahre im Knast gesessen. Da interessiert es mich schon, wie Sie das hinbekommen haben.”
Elsa Jones verdrehte die Augen.
“Aber so ganz nach Plan gelaufen ist es ja nicht, nicht wahr? Den ersten Fehler machten Sie, als Sie es nicht schafften, mich umzubringen. Ich sollte schon in diesem verdammten Motelzimmer sterben, aber Sie wussten nicht, dass ich keinen Alkohol vertrage.” Hannah gestattete sich ein knappes Lächeln. “Dumm gelaufen, würde ich sagen.”
Etwas an Jones’ Körperhaltung veränderte sich. Sie behielt die Hände immer noch oben, aber ihre Haltung wirkte entspannter, als wüsste sie, dass sie von Hannah nichts mehr zu befürchten hatte. Sie grinste sogar. “Nicht, dass Ihnen das jetzt noch irgendetwas nützen würde.”
Hannah nahm eine Bewegung rechts von sich wahr und war einen Moment lang abgelenkt. Im nächsten Moment ertönte ein Schuss, und ein heftiger Schlag riss ihr das linke Bein weg. Überrascht schrie sie auf, als sie zu Boden stürzte. Sie versuchte noch, mit dem Gewehr auf Elsa Jones zu zielen, aber es war zu spät. Jones war bereits bei ihr, trat ihr mit Wucht gegen die rechte Hand, so dass sie das Gewehr fallen ließ. Dann drückte sie Hannah den Lauf ihres Revolvers an die Schläfe.
Ihr Bein begann, heftig pochend zu schmerzen, und sie spürte, wie warmes Blut aus ihrem Oberschenkel sickerte. Jemand näherte sich im Laufschritt. Kurz darauf stand Jason Baker neben Jones und blickte spöttisch grinsend zu ihr hinunter.
Jones richtete sich auf, hob ein Bein und setzte den Fuß auf die Wunde an Hannahs Oberschenkel. Hannah schrie vor Schmerz auf. “Du meinst also, du könntest mich austricksen? Da musst du aber früher aufstehen.” Sie bohrte die Stiefelspitze in die offene Wunde. “Du bist doch mit Donaldsons Jungen unterwegs. Wo steckt er? Raus mit der Sprache.”
“Ich weiß es nicht! Wir haben uns getrennt, kurz nachdem Sie Henderson umgebracht haben.”
“Du lügst.”
“Nein! Wenn er hier wäre, hätte er Sie längst erschossen. Sie haben schließlich seinen Vater umgebracht.”
“Du lügst”, wiederholte Jones und drehte die Stiefelspitze in der Fleischwunde herum. Brüllend packte Hannah Jones’ Unterschenkel und wollte ihn fortreißen, doch ein gezielter Tritt von Baker gegen die Schulter schleuderte sie wieder zurück. Keuchend lag sie im Staub und presste beide Hände auf die blutende Wunde. Wie aus weiter Ferne hörte sie Jones’ Stimme.
“Such das verdammte Aufnahmegerät, und dann nichts wie weg.”
Dann spürte sie einen harten Tritt in die Seite. “Hat dir niemand gesagt, dass dieser Trick uralt ist? Den Bösewicht zum großen Geständnis zwingen und alles auf Band aufnehmen. Lächerlich!”
Hannah krümmte sich nur noch weiter zusammen. Kurz darauf hörte sie Bakers triumphierendes “Ich hab’s gefunden!”. Sie lauschte angestrengt, und kurz darauf näherten Bakers Schritte sich erneut. Das Gesicht in den Sand gepresst gestattete sie sich ein kleines Lächeln.
Doch kurz darauf meinte sie erneut, vor Schmerzen ohnmächtig werden zu müssen, als Jones neben ihr in die Knie ging und den Lauf des Revolvers in die Wunde am Bein drückte. Ganz nah war das Gesicht der Frau, deren Identität ihr zwei Jahre lang aufgezwungen worden war, so nah, dass sie die einzelnen Hautporen an der Nase erkennen konnte.
“Niemand legt sich mit Elsa Jones an”, sagte sie. “Du wirst mir sagen, wo dieser Junge ist. Denk daran, was mit Henderson passiert ist.” Mit einer kräftigen Bewegung bohrte sie den Revolver tiefer in die Wunde. Schreiend bäumte Hannah sich auf.
Steve, dachte sie. Bleib, wo du bist.
Dann wurde ihr schwarz vor Augen.