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Als die Luke mit einem lauten Klappern geöffnet wurde, war Hannah bereits wach und lag zusammengerollt auf der Pritsche. Vor einer halben Stunde waren die Neonröhren mit einem lauten Summen angesprungen und hatten den Tag für sie eingeläutet, den vierten Tag ihrer Gefangenschaft.
“Jones, Frühstück.”
“Ich bin nicht Elsa Jones”, antwortete sie, aber nicht so laut, dass die Frau draußen es hätte verstehen können. Sie erhob sich, ging zur Tür und nahm Plastikteller und Pappbecher entgegen. Die Luke wurde zugeknallt.
Langsam ging sie zum Tisch und stellte den Teller ab. Die gleiche Pampe wie gestern starrte ihr entgegen. Sie starrte zurück, und ihr knurrender Magen verzog sich wie ein winselnder Köter in eine stille Ecke. Seufzend zwang sie sich, ein paar Löffel von dem Brei herunterzuwürgen. Wer weiß, wann sie wieder etwas bekäme. Seit ihrer Verhaftung war ein nagender Hunger schon fast zum Dauerzustand geworden.
Heute war Sonntag. Heute würde Marek kommen.
Noch nie hatte sie sich so gefreut, ihn zu sehen, dabei war er der wichtigste Mensch in ihrem Leben. Aber das hatte nicht viel zu bedeuten, nicht bei ihr.
Als Ms Gallagher kam, um das Geschirr abzuholen, fragte sie, wann es Mittagessen gäbe. “Um eins”, lautete die brummige Antwort. Frühstück gab es um acht Uhr, wie sie inzwischen herausgefunden hatte, jetzt mochte es also halb neun sein, blieben viereinhalb lange Stunden, die sie irgendwie totschlagen musste.
Mehrere Stunden lang hatten Taylor und Mullen sie gestern verhört. Liza Mendez hatte die ganze Zeit gelangweilt danebengesessen, Löcher in die Luft gestarrt oder mit ihrem Smartphone gespielt. Taylor ließ sich haarklein schildern, was sie in den letzten drei Monaten getrieben hatte. Er sprach sie nie direkt mit Namen an, aber es war schon eine Wohltat, von ihm nicht Ms Jones genannt zu werden. Er war weit davon entfernt, ihr Hoffnung zu machen oder auch nur zu signalisieren, dass er ihr glaubte, aber immerhin hörte er ihr zu und ließ sie erzählen.
Mullen dagegen hatte ihr gegenüber eine schon fast persönliche Feindseligkeit ausgestrahlt, die sie sich nicht erklären konnte. Und er nannte sie konsequent Ms Jones. Sie biss die Zähne zusammen und beantwortete seine Fragen so gut sie konnte, aber ihre Antworten trieben ihn mehr als einmal fast an den Rand eines Wutausbruchs. Wo waren Sie am 3. 2011? Wo waren Sie am 29. April 2009? Am 17. November 2008 … 2007 … 2006? Bis ins Jahr 2002 reichte seine Zählung zurück, doch als sie ihm sagte, dass sie 2002 in London an der Universität gewesen war, schien er nahe davor zu sein, ihr an die Kehle zu springen. “Ach, haben Sie dort Schafzucht studiert?”, hatte er spöttisch gefragt.
“Nein. Physik und Mathematik.” Daraufhin hatte er geschwiegen, und weder Taylor noch er waren später noch einmal darauf eingegangen. Vermutlich glaubten sie ihr ohnehin nicht.
2002 war ihr drittes Jahr in London gewesen. Sie war mit einem Begabtenstipendium nach London gekommen, eine günstige Gelegenheit für sie, von Marek fortzukommen. Nach dem Tod ihrer Eltern vor vier Jahren waren sie einander nähergekommen, näher als Geschwister. Eines Abends hatte Marek sie geküsst, und sie hatte ihn gewähren lassen. Sie war neugierig auf Berührung, neugierig auf Sex, aber sie ging kühl und analytisch an die Sache heran, so wie sie alles gründlich untersuchte, was sie interessierte. Irgendwann hatte sie das Gefühl gehabt, genug darüber zu wissen, und verlor das Interesse. Marek konnte das nicht akzeptieren, warf ihr vor, ihn nur wegzustoßen, weil sie Angst vor Nähe habe. Immer wieder fing er damit an, bis allein seine Gegenwart ihr lästig wurde. Als ihr Professor ihr ein Begabtenstudium in London vorschlug, sagte sie ohne zu zögern Ja.
In London behauste sie ein kleines Studentenzimmer direkt auf dem Campus, und ihr Leben bestand quasi nur noch aus Physik und Mathematik. Sie merkte nicht, dass sie sich immer weiter von der alltäglichen Welt entfernte, die sie mit sieben Milliarden Menschen teilte. Sie tauchte ein in die Welt des Winzigen, des Unsichtbaren, die Welt der Atomkerne und Elektronen und Quanten, deren Existenz nicht mehr sinnlich nachvollzogen, sondern nur noch durch logisch aufgebaute Experimente und endlose Beweisketten nachgewiesen werden konnte. Die Fantasie, die sie brauchte, um die Quarks und Strings dingfest und in mathematischen Formeln sichtbar werden zu lassen, begann, über die Stränge zu schlagen. Nur so zum Spaß stellte sie sich das Kleine im Großen vor: Jede Materie besteht aus Atomen, aus Elektronen, Protonen und Neutronen, aus Quarks und Quanten und letztendlich aus Energie. Die alltäglichsten Gegenstände wurden zu einer Ansammlung von Wellen und Teilchen oder Wellen oder Teilchen oder Wellen, die entweder Welle oder Teilchen, oder Teilchen, die entweder Teilchen oder Welle, aber niemals beides zugleich sein konnten und die sich allein dadurch veränderten, dass Hannah sie betrachtete. Minutenlang konnte sie am Tisch sitzen, den Teller anstarren und sich dabei vorstellen, wie das Licht, das von ihren Augen reflektierte wurde, in den Teller eindrang, in dieses nur scheinbar feste Gefüge, tief in die Quantenstruktur des Porzellans hineinfuhr und dort vorn, kurz vor der kleinen Unebenheit in der Glasur, ein Elektron abdrängte, das daraufhin über den Tellerrand hinausschoss, über den Tisch schlitterte, durch eine Lücke der Molekularstruktur des Tisches purzelte und dort neues Unheil anrichtete. Natürlich wusste sie, dass die Erkenntnisse der Quantenphysik nicht auf die klassische Physik anwendbar waren. Natürlich wusste sie, dass Heisenberg und Bohr und Schrödinger sich im Grabe umdrehen würden, wenn sie wüssten, wie Hannah das Elektron aus dem festen Teller in den nicht minder festen Tisch schubste und dann auf das feine Geräusch lauschte, mit dem es auf dem Fußboden aufschlug., doch dieses Bild hatte sich in ihrem Kopf festgesetzt.
Sie bekam es mit der Angst zu tun. Wenn die Welt nur ein loses Gewebe aus Nichts und Teilchen war, wie sollte sie dann noch darauf vertrauen können, dass diese Welt sie trug? Dass sie nicht eines Tages aus Versehen durch das grobmaschige Netz fallen würde, sich auflösen würde, weil die Teilchen, aus denen sie zusammengesetzt war, beschlossen, als Wellen das Weite zu suchen? Ihre Furcht wuchs, sie aß und trank kaum noch, und die quälenden Gedanken und Bilder ließen sie nicht mehr los. Sie wagte nicht, mit einem anderen Menschen über ihre Ängste zu sprechen, aus Furcht, man könnte sie für verrückt halten.
Doch der normale Alltag wollte weiter gelebt werden, auch wenn die Anstrengung, die ihr das Leben als Studentin abverlangte, ihr fast über den Kopf wuchs. Sie war immer noch die begabte Studentin, die Sätze sagte wie: “Für skalare Felder erhält man Pi gleich Delta Null mal Phi konjugiert als kanonisch konjugiertes Feld zu Phi und Pi konjugiert gleich Delta Null mal Phi als kanonisch konjugiertes Feld zu Phi konjugiert.” Vollkommen souverän ließ sie in ihrer Examensprüfung Begriffe wie Klein-Gordon-Gleichung, Plancksche Konstante, Lagrangedichten oder Einsteinsche Summenkonvention einfließen, doch während sie mit ihrem Professor über die Quantenfeldtheorie sprach, sah sie förmlich, wie die Teilchen seiner Brille sich für den Bruchteil einer Sekunde entschieden, Wellen zu sein, die Brille vor ihren Augen zu zerfließen begann, dem armen Professor, der nichts davon ahnte, übers Gesicht rann und in den Kragen hineintropfte. Sie sah seinen verstörten Blick, dachte, er würde dieses Zerfließen der Realität genauso wahrnehmen wie sie, und wurde ohnmächtig.
Als sie auf der Krankenstation der Universität aufwachte, erklärte man ihr, dass sie ihre Prüfung bestanden habe, aber völlig unterzuckert und dehydriert gewesen sei. Wann sie denn zum letzten Mal etwas gegessen und getrunken habe? Sie aß und trank, was man ihr vorsetzte, dann schickte man sie nach Hause. Drei Wochen später hatte sie ihren Master in Physik und Mathematik.
Doch was nützte ihr das jetzt? Sie hockte hier in der kleinen Zelle im Bezirksgefängnis von Austin, Texas, in der das Gesetz der USA herrschte, nicht die Gesetze der Quantenphysik oder der Logik.
Aus den Fragen, die Taylor und Mullen ihr gestern gestellt hatten, konnte sie sich zusammenreimen, dass Elsa Jones bereits seit Jahren durch das Land zog und scheinbar wahllos Menschen erschoss. Niemand hatte ihr bis jetzt erklärt, aus welchem Grund diese Frau tötete. Es gab Zeugen, es gab diese Bilder vom Mord an Malcolm und Samantha Wheeler, es gab die Waffen, die im Moment auf Fingerdrücke untersucht wurden, aber natürlich würde man nichts darauf finden. So dumm würde Elsa Jones nicht sein, nachdem sie sich so viel Mühe gegeben hatte, diese Falle für Hannah zu konstruieren.
Sie dachte an Liza Mendez. Sie war ihre Anwältin, sie sollte sie unterstützen und für sie kämpfen, doch stattdessen hatte sie das Gefühl, diese Frau sei ihr regelrecht feindlich gesonnen. Sollte sie vielleicht versuchen, sich jemand anders zu suchen, jemanden, der ihr glaubte und sich für sie einsetzen würde? Sie war zwar nicht gerade wohlhabend, aber ihre Großmutter hatte ihr das Haus und genügend Geld hinterlassen, damit sie sich die Reise gönnen konnte und trotzdem noch etwas übrig hatte. Das Haus. Ihr fiel ein, dass es nicht mehr existierte, dass nichts als verkohlte Balken und Mauern davon übrig geblieben waren. Mehr als hundert Jahre hatte es, friedlich hinter Bäumen versteckt, am Deich gestanden, und jetzt? Gut, dass Oma das nicht mehr erleben musste, war ihr erster Gedanke. Doch dann traf sie mit voller Wucht die Erkenntnis, dass mit dem Haus alles verbrannt war, was sie selbst besessen hatte. Ihre gesamte Habe war vernichtet, alles, was in den dreiunddreißig Jahren ihres Lebens trotz zahlreicher Umzüge, Aufbrüche und Neuanfänge bei ihr hängengeblieben war. Viel war es nicht gewesen: Kleidung, ein paar Bücher, CDs, eine Schachtel mit Fotos von ihren Eltern, ein Karton mit alten Zeugnissen und Urkunden. Urkunden, die ihr eine Identität gegeben hatten. Und jetzt – puff, in Flammen aufgegangen, und mit ihnen ihre Identität. Ich bin Hannah Marcks. Wenn sie das nicht beweisen konnte, war diese Gewissheit keinen Pfifferling wert.
Sie lehnte den Kopf an die Wand. Wie spät mochte es sein? Die schmalen Lichtstreifen, die durch das Gitter in die Zelle fielen, bewegten sich nie, denn das Fenster zeigte nach Norden, und so hatte sie keine Möglichkeit, die Zeit abzuschätzen. Draußen auf dem Gang war es ruhig, nur ab und zu hörte sie lautes Geschrei, zumeist von Männerstimmen. Es war warm und stickig, und die Anstaltsbluse roch unangenehm unter den Achseln, aber sie hatte nichts zum Wechseln. Sie besaß nichts mehr, nichts als ihr nacktes Leben. Sie schloss die Augen und sah erneut das Bild einer ausgebrannten Ruine vor sich.
Und in dieser Ruine lag eine Leiche, bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Wer war in ihrem Haus gestorben?
Das blieb nicht die einzige Frage, die sie sich an diesem Sonntag stellte. Die Stunden verrannen nicht, sie lösten sich Tropfen um Tropfen aus der Zeit, schwer und zäh wie Pech. Hannah döste, trank gechlortes Wasser direkt aus dem Hahn, aß mittags ein pappiges Sandwich und abends lauwarmes, matschiges Huhn mit kalten Pommes, bei deren bloßem Anblick sie Verzweiflung und Zorn packte. Sie gehörte hier nicht her! Elsa Jones sollte hier sitzen, die echte Elsa Jones, und die grauen Wände anstarren, die mit der Zeit immer näher auf sie zuzukommen und sie zu erdrücken schienen.
Irgendwann musste sie eingeschlafen sein, denn das laute Klappern der Luke ließ sie aufschrecken. Im ersten Moment wusste sie nicht, wo sie sich befand, sie hatte geträumt, sie würde die Schafe auf dem Deich vor sich hertreiben, Elfriede, die sie jedes Mal um ein Stückchen Brot anschnorrte, und Otto den Bock, der sauer wurde, wenn sie aufhörte, ihn hinter den Ohren zu kraulen.
“Jones, Frühstück!”
“Ich bin nicht Elsa Jones”, murmelte sie.
Wieder derselbe Brei, und wieder zwang sie sich, ein paar Löffel davon herunterzuwürgen. Der Pappbecher enthielt heute eindeutig Kaffee, wenn auch nur in homöopathischer Dosierung.
Heute würde Marek sie besuchen.
Kurz nachdem das Frühstücksgeschirr eingesammelt worden war, wurde die Klappe erneut geöffnet.
“Jones, mit dem Gesicht zum Fenster.”
Unwillkürlich verwandelte sich ihr Magen in einen harten Klumpen. Sie sprang auf und versuchte, ruhig zu bleiben.
“Hände in den Rücken, Daumen nach oben, Beine auseinander.”
Sie gehorchte.
Die Handschellen, das Abtasten, der feste, fast schmerzhafte Griff am Oberarm, das grobe Vorwärtsstoßen – alles genau wie beim ersten Mal. Aber dieses Mal würde man sie zu Marek bringen, das allein zählte.
Man führte sie in einen Besucherraum mit einer Glasscheibe, öffnete die Handschellen und schloss sie vor dem Bauch wieder zusammen. Hannah sah sich um, musterte die schmutzigen Wände, auch sie grau, wie alles hier. Ihr Blick blieb an dem klobigen Telefonhörer hängen. Nervös strich sie sich mit den Fingern durchs Haar. Anschließend fühlten sich ihre Hände so klebrig an, dass sie sie an der Hose abwischte. Die Handschellen klirrten leise.
Auf der anderen Seite der Glasscheibe wurde die Tür geöffnet. Sie erhaschte einen kurzen Blick auf eine Uniform, dann betrat ein Mann den Raum. Klein, stämmig, rotgesichtig. Das war nicht Marek.
Hannah versuchte, ihre Enttäuschung herunterzuschlucken. Es war noch früh, und Marek musste sich den Besuch erst vom Richter genehmigen lassen. Sie musste sich gedulden. Bis dahin konnte sie froh sein um die Ablenkung, froh, dass sie aus der Zelle rauskam.
Der Mann setzte sich und griff zum Telefonhörer. Die Umgebung schien ihn nicht zu beeindrucken. Der Anzug saß tadellos, die rot-weiß-blaue Krawatte war korrekt gebunden, das weiße Hemd frisch gebügelt. Langsam nahm Hannah den Hörer.
“Guten Morgen, Ms Jones”, sagte der Mann und lächelte. “Ich bin …”
“Ich bin nicht Elsa Jones”, sagte Hannah.
Ihr Gegenüber stutzte, dann nickte er kurz, als hätte er ihre Bemerkung fürs Protokoll zur Kenntnis genommen, und begann noch einmal: “Ich bin Harold Stanton.” Er sah sie erwartungsvoll an.
“Ja und?”
Er wirkte ein wenig irritiert, als hätte er erwartet, dass sie seinen Namen kannte. “Ich bin Anwalt und würde Sie gerne in Ihrem bevorstehenden Prozess verteidigen.”
Vor Verblüffung vergaß Hannah beinahe das Luftholen. Sie besah sich den Mann genauer. Das dunkelblonde Haar war akkurat geschnitten, die Fingernägel sorgfältig manikürt. Harold Stanton war etwa Mitte vierzig und sah aus, als habe er noch nie einen Prozess verloren.
“Wie komme ich zu dieser Ehre?”, fragte sie schließlich.
Erneut wirkte er irritiert. “Nun, Ihnen wurde natürlich ein Pflichtverteidiger zur Verfügung gestellt, wie es das Gesetz vorschreibt, aber Sie wissen ja selbst, dass Ihre Chancen damit gegen null gehen.”
“Und Sie wollen mich aus freien Stücken verteidigen?”
“Ja.” Er lächelte sie erneut an. Sie konnte es kaum fassen. Dieser Mann wollte eine Serienmörderin verteidigen. Freiwillig.
“Aber ich habe kein Geld”, sagte sie, “das heißt …” Sie wollte erklären, dass es eine Weile dauern würde, bis sie an ihr Geld herankäme, doch er unterbrach sie.
“Machen Sie sich darum keine Sorgen, Ms Jones. Sie haben Freunde, die für die Kosten aufkommen.”
Hannah runzelte die Stirn. Sie hatte keine Freunde. In Deutschland nicht und hier in den USA schon gar nicht. Aber hier ging es ja gar nicht um sie. Elsa Jones hatte Freunde. “Was für Freunde?”
Harold Stanton lächelte erneut und beugte sich ein Stückchen zur Glasscheibe vor. “Aufrechte amerikanische Patrioten – aber das muss ich Ihnen ja wohl nicht genauer erläutern.”
Langsam lehnte sie sich auf dem Stuhl zurück. Wenn dieser Mann Freunde von Elsa Jones kannte, könnten diese bestätigen, dass sie nicht Elsa Jones war. Doch irgendetwas an der Sache kam ihr merkwürdig vor, die Art und Weise, wie er das Wort Freunde betont hatte. Fremde Freunde, Freunde, die Elsa Jones vielleicht nie gesehen hatten, aber guthießen, was sie getan hatte. Sie fröstelte, und sie hätte sich gerne kräftig die Oberarme gerieben, um die Gänsehaut zu vertreiben, aber mit den Handschellen war das unmöglich.
Wer war dieser Mann?
“Sehen Sie, Ms Jones, ich kann und will Ihnen natürlich keine falschen Hoffnungen machen. Ohne die Akten zu kennen, kann ich Ihnen nichts versprechen, aber ich kann mir gut vorstellen, dass für Sie durchaus noch ein Lebenslänglich drin ist. Mindestens.”
Lebenslänglich? Bei ihm hörte sich das an wie ein Schnäppchen. Wollte der Kerl sie auf den Arm nehmen?
“Aber es geht ja auch um die kleineren Annehmlichkeiten, Sie wissen schon, die das Leben im Gefängnis doch erheblich erleichtern können. Ich habe meine Beziehungen, wie Sie sich sicherlich vorstellen können, und glauben Sie mir, wir werden Sie nicht im Stich lassen.”
Sie horchte auf. “Wir?”
Er lächelte erneut. “Ihre Freunde und ich.”
“Die aufrechten amerikanischen Patrioten?”
Etwas am Klang ihrer Stimme wischte das Lächeln aus seinem Gesicht. Seine Augen wurden schmal, doch zugleich wirkte er irritiert, als zeige sie ein weiteres Mal nicht die erwartete Reaktion. Sie hielt seinem Blick stand, bis er sich ebenfalls langsam zurücklehnte.
“Ich würde Sie natürlich niemals anwaltlich vertreten, wenn wir nicht gewisse Grundüberzeugungen teilten”, sagte er schließlich.
Sie hielt den Atem an.
“Wie Sie zweifellos wissen”, fuhr er langsam fort, “setzte ich mich seit Jahren für diejenigen ein, die gegen den Niedergang jener Werte und Tugenden kämpfen, mit denen unsere Vorfahren dieses Land aufgebaut haben.” Lauernd beobachteten sie einander. In die Stille drangen die Geräusche des Gefängnisses, laute Schritte auf dem Gang hinter ihr, Türenschlagen und Schlüsselrasseln, gedämpfte Stimmen und gebrüllte Befehle. Die kleinen Annehmlichkeiten, die das Leben im Gefängnis erleichtern. Schon jetzt, nach wenigen Tagen, begann sie zu ahnen, wie viel solche kleine Annehmlichkeiten ausmachen, wie viel von guten Beziehungen abhängen konnte. Frische Kleidung. Bücher. Genießbares Essen. Respekt. Vielleicht könnte dieser Mann dafür sorgen, dass sie nicht ständig diese verdammten Handschellen tragen musste, er und seine Freunde. Elsa Jones’ Freunde. Menschen, die sich freuten, dass ein kleines Mädchen mit rosa Schuhen tot war.
“Verschwinden Sie”, sagte sie leise.
Sie wurde zurück in ihre Zelle gebracht, hin-und hergerissen zwischen Hochgefühl und Verzweiflung, so dass ihr zunächst nicht auffiel, dass die beiden Gefängniswärter ausgesprochen grob mit ihr umsprangen. Endlich hatte sie wieder einmal etwas selbst entschieden – aber hatte sie damit nicht vielleicht einen schrecklichen Fehler begangen? Da war jemand, der ihr helfen wollte, der versprach, ihr das Leben zu erleichtern, und sie hatte ihn weggeschickt. Sie hoffte nur, dass sie diese Entscheidung nicht eines Tages bitter bereuen würde.
Auf dem Weg durch die neonhellen Gänge stellten die beiden Männer, die sie so kräftig an den Armen gepackt hatten, dass es wehtat, ihr immer wieder ein Bein, so dass sie häufig stolperte und grob weitergezerrt wurde. Jedes Mal schnitten die Stahlfesseln dabei schmerzhaft ins Fleisch. Anders als bei den bisherigen Malen stieß man sie nicht einfach in die Zelle, sondern die Wärter kamen mit herein. Einer riss ihre auf dem Rücken gefesselten Arme mit einem Ruck nach oben, so dass sie den Oberkörper vorbeugen musste. Sie wäre beinahe gestürzt, wenn die Männer sie nicht festgehalten hätte. Sie wollte sich wieder aufrichten, doch die Männer waren durchtrainiert, und sie hatte nicht die geringste Chance gegen sie. Hilflos stand sie zwischen ihnen und spürte, wie sie ihr die Hose herunterzogen und sie einer Leibesvisitation unterzogen, gegen die die Prozeduren, die sie bisher über sich hatte ergehen lassen müssen, die reinsten Wellnessbehandlungen waren. Der eine hielt ihr den Mund zu, damit niemand ihre Schreie hören konnte, obwohl es vermutlich ohnehin niemanden veranlasst hätte, einzuschreiten. Hannah traten Tränen in die Augen, die schwarzen Stiefel der Männer verschwammen vor ihren Augen. Seine Hand bedeckte fast die Nasenlöcher, und sie bekam kaum noch Luft.
Sie ließen sich Zeit, und als sie fertig waren, wurde ihr Oberkörper hochgerissen, ein Arm legte sich wie ein Schraubstock um ihren Hals. Mit Gewalt zwangen die Männer ihre Lippen auseinander, dann schob derjenige, der sie zuvor untersucht hatte, ihr zwei Finger in den Mund und tastete sie auch hier ab. Sie spürte den widerwärtigen, bitteren Geschmack ihres Anus auf der Zunge. Als er endlich fertig war, nahmen sie ihr die Handschellen ab, versetzten ihr einen Stoß, und anschließend, als sie sich auf dem Boden zusammenkrümmte, noch einen kräftigen Tritt in den Unterleib. Sie lachten, als sie die Zelle verließen und die Tür hinter sich verriegelten.
Angespannt lauschte sie auf das Gelächter und die Schritte der Männer, die sich langsam entfernten. Die Kälte des Betonfußbodens biss in ihre nackte Haut und ließ sie am ganzen Leib zittern, bis sie sich mühsam mit zusammengebissenen Zähnen aufrichtete, zum Waschbecken kroch und sich den Mund mit dem verchlorten Wasser ausspülte, einmal, zweimal, dreimal. Doch sooft sie das Wasser wieder ausspuckte, der bittere Geschmack auf ihrer Zunge wollte nicht verschwinden.
Sie weinte nicht, als sie sich schließlich auf der Pritsche zusammenkauerte und die dünne Decke über sich zog. Sie zählte die kleinen Sandkörner, die sie in einem Quadratzentimeter Beton erkennen konnte, und berechnete, wie viele davon allein die Oberfläche ihrer Zellenwände enthielten, wie viele Sandkörner der Beton um sie herum enthalten würde, wenn er zwei Zentimeter, fünf Zentimeter und zehn Zentimeter dick wäre. Sie sah die Zahlen vor sich, gewaltige Zahlen mit schier unglaublich vielen Nullen, für die es keinen Begriff und keinen Namen gab, und wurde ruhiger.
Kurz blitzte der Gedanke in ihr auf, dass Harald Stanton sie gewiss vor so einer groben Behandlung hätte bewahren können. War es also doch ein Fehler gewesen, diesen Mann fortzuschicken? Den einzigen Menschen, der auf ihrer Seite zu stehen schien?
Doch dann sah sie das Gesicht des Anwalts vor sich, erinnerte sich an das Lächeln, das gewinnend sein sollte, aber eher einem fratzenhaften Grinsen glich, an den Blick, in dem, wie sie jetzt glaubte, ein Hauch Bewunderung gelegen hatte. Sie haben Freunde.
Was für ein Mensch war Elsa Jones? Hannah wurde bewusst, dass sie so gut wie nichts über diese Frau wusste, deren Identität man ihr übergestülpt hatte wie ein enges Korsett, das ihr die Luft zum Atmen nahm. Aus dem, was Mullen und Taylor in den Verhören hatten durchklingen lassen, war sie irgendwo in Alabama aufgewachsen. Sie musste etwa so alt sein wie Hannah und hatte vier Jahre beim Militär gedient. Sie hatte zwölf Menschen getötet. Aber warum?
Bisher waren ihre Gedanken allein um die Fragen gekreist, wie sie beweisen konnte, dass sie Hannah Marcks war, und wie sie diesen Albtraum beenden konnte. Die echte Elsa Jones hatte sie nicht weiter interessiert. Der Vorwurf, sie habe zwölf Menschenleben auf dem Gewissen, war so schockierend und zugleich so absurd, dass sie nie die Frage nach dem Warum gestellt hatte. Und wie ihr erst jetzt auffiel, hatte auch niemand anders diese Frage gestellt, weder Taylor noch Mullen noch Liza Mendez. Sie alle schienen genau zu wissen, aus welchem Motiv Elsa Jones all diese Menschen getötet hatte.
Sie sah das Foto vor sich, das den Mord an Malcolm und Samantha Wheeler zeigte, die kleinen rosa Schuhe, die Waffe in der Hand der Frau, die Hannahs Gesicht gestohlen hatte. Malcolm und Samantha Wheeler waren Schwarze gewesen. Sie ging rasch die Namen der anderen Opfer durch … Felipe Alonso, Mohammed Ben’Ali. Mindestens zwei der Toten waren dem Namen nach keine Weißen gewesen. Und die anderen?
Dan Mullen, der FBI-Agent, der schwärzer war als jeder andere Mensch, den sie kannte, brachte ihr eine Verachtung und einen Hass entgegen, der weit über ein normales Maß hinauszugehen schien. Ihre Anwältin, die keinerlei Anstalten machte, sie zu unterstützen, war eine Latina. Der Gefängniswärter, der ihr gerade mit dem schmutzigen Finger im Mund herumgewühlt hatte, war ebenfalls schwarz gewesen. Harold Stanton dagegen, der Elsa Jones für eine amerikanische Patriotin hielt, hatte angeboten, sie kostenlos zu verteidigen.
Hannah glaubte nicht an Zufälle. Alles zusammengenommen konnte es nur bedeuten, dass Elsa Jones aus rassistischen Motiven getötet hatte. Und es womöglich wieder tun würde.