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Bläulicher Rauch stieg aus der Ruine auf, und noch aus mehreren Metern Entfernung spürte er die Hitze, die von den verkohlten Trümmern abstrahlte. Schwarze Holzbalken, zusammengeschmolzene Klumpen, die einmal Möbelstücke gewesen sein mochten, grotesk verformte Elektrogeräte in dem Bereich, in dem sich früher einmal die Küche befunden hatte.
Er war bis an die Absperrung der Feuerwehr herangetreten, eine junge Polizistin stand neben ihm. Gestalten in weißen Schutzanzügen kletterten vorsichtig in den Trümmern dessen herum, was einmal das Haus seiner Schwester gewesen war. Marek konnte den Blick nicht von der weißen Plane abwenden, unter denen sich die Umrisse einer menschlichen Gestalt erahnen ließen. Man hatte ihm gesagt, der Leichnam sei bis zur Unkenntlichkeit verbrannt, trotzdem drängte es ihn, einen letzten Blick auf sie zu werfen, obwohl er wusste, dass die Überreste keinerlei Ähnlichkeit mit seiner Schwester hatten.
Er hörte Schritte hinter sich, die Polizistin begrüßte jemanden mit ernster Stimme, dann fragte eine weiche Frauenstimme: “Herr Lukow?”
Er drehte sich um.
Die Frau war einen halben Kopf kleiner als er, hatte kastanienbraune Haare und trug Jeans und einen leichten Pullover. Der September in Norddeutschland war oft mild, so auch in diesem Jahr. Die alten Bäume, die das Grundstück umgaben, rauschten sanft im Wind. Marek nickte der Frau zu.
“Ich bin Miriam Winkler, Kriminalpolizei.”
Er nickte erneut, dann schaute er wieder zu der abgedeckten Leiche hinüber.
“Sie sind der Stiefbruder von Hannah Marcks?”
Er nickte ein drittes Mal.
“Ich würde Ihnen gerne ein paar Fragen stellen.” Als er nicht reagierte, berührte sie ihn sanft am Ellenbogen. “Herr Lukow? Bitte kommen Sie mit.”
Er machte keine Anstalten, sich vom Fleck zu rühren. “Wann werden Sie wissen, ob es wirklich Hannah ist?”, fragte er leise, ohne den Blick von der weißen Plane abzuwenden, die fast unanständig grell in der schwarzen Ruine aufleuchtete.
“Ein paar Tage wird es wohl dauern. Vermutlich wird der Pathologe sie anhand der Zähne identifizieren.” Sie schwieg einen Moment. “Es tut mir leid.”
Marek atmete tief ein. Die Luft roch nach Tod.
“Stimmt es, dass Ihre Stiefschwester gerade erst aus den USA zurückgekehrt war?”, fragte Miriam Winkler, als sie langsam über die lange Auffahrt zur Straße gingen, wo die Wagen standen. Auf dem kleinen Hof direkt am Haus fanden mit Mühe und Not die Fahrzeuge der Feuerwehr und der Spurensicherung Platz.
“Sie sollte gestern Mittag in Frankfurt landen, das stimmt. Sie hatte mir ein paar Tage vorher aus den USA ihre Flugdaten geschickt, aber seitdem hat sie sich nicht mehr bei mir gemeldet.” Hin-und hergerissen zwischen Verärgerung und Sorge hatte er immer wieder versucht, sie zu erreichen, vergeblich. Und dann der Anruf heute Morgen. Kristina, die Nachbarin, die wie er einen Schlüssel zu Hannahs Haus hatte, hatte ihn informiert. Ein Brand im Haus seiner Schwester. Feuerwehr, Polizei … Sie hatte kaum zu Ende erzählt, da saß er bereits im Auto und war von Hamburg hierhergerast, in das kleine Dorf, in dem Hannah seit vier Jahren lebte.
Winkler ließ sich die Flugdaten geben und versprach, ihn zu informieren, sobald sie Näheres wusste.
“Wissen Sie schon, wie es zu dem Brand gekommen ist?”, fragte er.
Sie schüttelte den Kopf. “Dazu ist es noch viel zu früh, und bisher haben sich keine Zeugen gemeldet.” Sie sah sich um. “Das Haus liegt ja ziemlich abgeschieden. Wer weiß, wie lange es schon gebrannt hat, ehe es dem Bauern aufgefallen ist, der die Feuerwehr alarmiert hat.” Sie seufzte. “Ich bin keine Brandexpertin, aber ich vermute, dass es eine Weile dauern wird, bis die genaue Ursache feststeht.”
Sie hatten die Straße erreicht. Marek drehte sich um und schaute zurück zum Haus, doch hinter den hohen, dichten Bäumen war nichts zu erkennen außer der dünnen Rauchsäule, die kurz über den Wipfeln vom Wind zerrissen wurde.
“Was hat Ihre Stiefschwester in den USA gemacht? War sie beruflich dort?” Miriam Winkler lehnte sich an den schwarzen Passat, mit dem sie gekommen war.
“Nein”, sagte Marek. “Sie hat Urlaub gemacht, ist mit dem Wohnmobil von der Ostküste zur Westküste gefahren.”
“Hatten Sie in der Zeit Kontakt zu ihr?”
“Nein”, sagte er und sah Miriam Winkler an. “Sie wollte ihre Ruhe haben. Meine Schwester ist sehr eigen, wissen Sie. Sie hat nicht gerne Menschen um sich, und manchmal geht sie tagelang nicht ans Telefon, wenn sie keine Lust hat.”
“Was macht Ihre Schwester beruflich?”
“In den letzten vier Jahren hat sie ihre kranke Großmutter gepflegt, und nebenbei hat sie einem Bauern hier aus dem Dorf mit den Schafen geholfen. Sie ist regelrecht besessen von den Viechern und hat sogar schon davon gesprochen, die Herde zu übernehmen, wenn der Bauer aufs Altenteil geht.” Er holte tief Luft. “Dabei hat sie studiert, Physik und Mathematik.”
Miriam Winkler zog die Brauen hoch. “Ach ja?”
“Zuerst in Hamburg, dann in London.”
“Und was hat Ihre Schwester nach ihrem Abschluss gemacht? Seitdem müssen doch einige Jahre vergangen sein.”
“Nach ihrer Rückkehr aus London hat sie als Programmiererin in einer großen Softwarefirma gearbeitet.” Als ihre Großmutter pflegebedürftig wurde, hatte sie von heute auf morgen gekündigt und war in dieses kleine Dorf gezogen, eine Stunde von Hamburg entfernt auf dem flachen Land.
“Und ihre Eltern? Ich weiß nur, dass sie tot sind.”
“Das stimmt”, bestätigte er. “Ihr Vater starb, als sie noch ganz klein war, zwei oder drei. Als Hannah dreizehn und ich vierzehn war, haben ihre Mutter und mein Vater sich kennengelernt.” Er lächelte versonnen. “Und damit haben wir uns auch kennengelernt. Ich wohnte bei meiner Mutter und besuchte meinen Vater und seine neue Familie nur am Wochenende, aber wir haben uns auf Anhieb gemocht. Ich bin nur ein knappes Jahr älter als sie, wissen Sie. Wir haben dieselben Interessen und trafen uns auch oft, wenn ich nicht bei meinem Vater war. Als ich zwanzig und sie neunzehn war, starben unsere Eltern bei einem Autounfall, das heißt, mein Vater und ihre Mutter.”
Miriam Winkler musterte ihn nachdenklich. “Sie scheinen sehr an Ihrer Stiefschwester zu hängen”, sagte sie schließlich.
Marek biss sich auf die Lippen und wandte sich ab. Erneut schaute er in die Richtung, in der Hannahs Haus, das Haus ihrer Großmutter, gestanden hatte. Früher einmal war Hannah für ihn mehr gewesen als eine Schwester. Früher einmal hatte er sie geliebt. Aber sie hatte seine Liebe nicht gewollt.
Stunden später lag er auf seinem Sofa und starrte an die Decke. Die CD war schon längst durchgelaufen, jetzt rauschten nur noch die Lautsprecher leise, als warteten sie auf weitere Anweisungen. Sobald er die Augen schloss, glaubte er wieder, verbranntes, nasses Holz zu riechen und sah die schwarze Ruine vor sich. Tanja hatte angerufen und gefragt, ob sie vorbeikommen solle, aber er hatte abgelehnt. Er brauchte Zeit für sich, brauchte Zeit, um zu begreifen, dass Hannah wahrscheinlich tot war.
“Bist du sicher, dass du jetzt allein sein willst?”, hatte Tanja gefragt.
“Ja”, hatte er erwidert und ohne ein weiteres Wort aufgelegt.
Erst als das Telefon klingelte, begriff er, dass er eingedöst sein musste. Er schaute auf die Uhr, es war kurz nach neun. Draußen war es dunkel und ruhig, nur das übliche Großstadtrauschen drang durch das geöffnete Fenster herein. Er hob das Telefon vom Fußboden auf und drückte auf die grüne Taste. Vermutlich war es Tanja.
“Hi.”
“Spreche ich mit Mr Marek Lukow?”, fragte eine Frau auf Englisch.
“Ja. Wer ist da?”
“Mein Name ist Liza Mendez, ich bin Anwältin in Austin, Texas, in den USA. Eine meiner Mandantinnen bat mich, Sie anzurufen.” Die Frau zögerte kurz. “Stimmt es, dass Hannah Marcks Ihre Stiefschwester ist?”
Mit einem Schlag war er hellwach und setzte sich auf. “Was wissen Sie über meine Schwester?”
“Meine Mandantin behauptet, sie sei Ms Marcks.” Verwirrt hörte er sich an, was die Anwältin ihm über die Verhaftung einer Frau namens Elsa Jones erzählte. “Das FBI hat festgestellt, dass Ms Marcks wie geplant von San Francisco nach Frankfurt geflogen ist. Ich würde gerne von Ihnen wissen, ob Sie Ihre Stiefschwester inzwischen gesehen haben und bestätigen können, dass sie in Deutschland angekommen ist.”
Marek lehnte sich zurück und schloss die Augen. Seine Gedanken schossen wie Billardkugeln auf Speed hin und her. Nein, das konnte er nicht bestätigen. Stattdessen gab es eine Leiche, bei der es sich nur um Hannah handeln konnte. Aber Hannah hatte ihren eigenen Kopf, gut möglich also, dass sie den Flug gar nicht angetreten hatte. Aber wer war dann unter ihrem Namen nach Frankfurt geflogen? War Hannah möglicherweise doch noch am Leben?
“Nein, das kann ich nicht bestätigen. Ich habe Hannah seit mehr als drei Monaten nicht gesehen.” Er holte tief Luft. “Und Sie sagen, Hannah säße bei Ihnen in Texas im Gefängnis?”
“Nicht ganz. Hier ist eine Frau, die behauptet, Hannah Marcks zu sein. Im Moment geht es darum, ihre Identität festzustellen.” Marek hörte ein Seufzen. “Diese Frau, meine Mandantin, meinte, Sie könnten mir irgendwelche Papiere zuschicken, die ihre Identität belegen … Ausweise, Urkunden, so etwas.”
“Das ist alles verbrannt”, sagte Marek langsam.
“Wie bitte?” Die Anwältin schien zu glauben, sie hätte sich verhört. Marek erzählte ihr von dem Brand – und von der Leiche, die man in der Ruine gefunden hatte.
“Weiß man schon, um wessen Leiche es sich handelt?”, fragte Liza Mendez.
Marek holte tief Luft. “Bislang geht die Polizei davon aus, dass es Hannah ist. Der Schluss liegt einfach nahe. Außer einer Nachbarin und mir hatte sonst niemand einen Schlüssel.” Er rieb sich die Stirn. Oder könnte es sein, dass diese Frau in Texas tatsächlich Hannah war? Aber wer lag dann verkohlt in ihrem Haus? Und wieso hielt man Hannah für jemand anderes? “Ich habe noch nicht einmal ein aktuelles Bild von ihr, das ich Ihnen schicken könnte. Sie hasst es, fotografiert zu werden.”
“Haben Sie einen Internetzugang?”, fragte Mendez.
Marek sprang auf und war schon auf dem Weg ins Arbeitszimmer, wo er den Computer aus dem Schlaf weckte. “Suchen Sie nach Elsa Jones”, forderte die Anwältin ihn auf. “Da werden Sie jede Menge Bilder finden. Und Videos.”
Er tippte den Namen ein, und tatsächlich gab es gleich mehrere Tausend Treffer. Er klickte auf den Link von NBC. In einer kurzen Videosequenz war ein überfüllter Gerichtssaal zu sehen, der Großteil der Zuschauer waren Journalisten. Der Sprecher erklärte, dass das Gericht von Austin, Texas, beim heutigen Haftprüfungstermin erwartungsgemäß Untersuchungshaft für Elsa Jones angeordnet hatte, eine Kaution wurde nicht festgesetzt. Eine Frau wurde in den Saal geführt. Sie hielt den Kopf gesenkt und wirkte völlig erschöpft, doch dann blickte sie auf und sah direkt in die Kamera.
“Scheiße”, sagte Marek. “Das ist Hannah.”
“Sind Sie sicher?”, fragte Liza Mendez.
“Natürlich! Ich werde doch wohl meine Schwester erkennen. Aber was … warten Sie, was wird ihr vorgeworfen? Zwölffacher Mord? Das ist absurd. Hannah würde niemals …”
“Mr Lukow, hören Sie”, unterbrach Liza Mendez ihn. “Nicht Ihrer Schwester werden diese Verbrechen zur Last gelegt, sondern Elsa Jones. Im Moment geht es zunächst darum, zu klären, wer hier eigentlich im Gefängnis sitzt.”
Marek runzelte die Stirn, während er sich weiter durch die Websites verschiedener Fernsehsender und Online-Ausgaben der Zeitungen klickte. Er ging zur Seite der New York Times. Hannahs Gesicht sprang ihm gleich auf der Startseite entgegen. Serienmörderin verhaftet. Die Worte bohrten sich wie Nadeln in sein Hirn. Das Bild zu dem Artikel zeigte eine völlig erschöpfte Frau, die man offenkundig misshandelt hatte. Er ballte die Fäuste. “Was haben die mit ihr angestellt?”, fragte er und schüttelte fassungslos den Kopf. “Verdammt noch mal, die haben sie verprügelt!”
Die Frau am anderen Ende seufzte. “Ich fürchte ja. Sehen Sie, man hält sie für die Frau, die unter anderem einen Polizisten und ein kleines Mädchen umgebracht hat …”
“Hören Sie, ich komme nach Austin, so schnell ich kann. Ich kann sie zweifelsfrei identifizieren.”
“Okaaay”, sagte die Anwältin gedehnt.
“Ich melde mich bei Ihnen, sobald ich weiß, wann ich ankomme.” Marek ließ sich Mendez’ Telefonnummer geben, dann legte er auf.
Nachdem er einen Flug für Sonntagnachmittag gebucht hatte, klickte er erneut auf den Times-Bericht über den heutigen Haftprüfungstermin. Er starrte auf das Bild, das Hannah beim Betreten des Gerichtssaals zeigte. Sie hatte den Kopf leicht abgewandt und sah auf einen Punkt, der hinter der Kamera lag. Ihr Blick hatte den gehetzten Ausdruck eines Tieres auf der Flucht. Die aufgeplatzte Lippe war deutlich zu erkennen, ebenso die Flecken auf der Bluse. Vorgeführt, dachte Marek, man hatte sie nicht nur dem Richter vorgeführt, sondern dem breiten Publikum, wie eine Jagdbeute und Trophäe.
Er suchte nach weiteren Informationen über Hannahs Verhaftung und über die Frau namens Elsa Jones, für die man sie fälschlicherweise hielt. Die Frau war vierunddreißig Jahre alt, also ein Jahr älter als Hannah, und stammte aus Alabama. Sie war vier Jahre bei der Armee gewesen, aber niemand schien zu wissen, was sie in der Zeit zwischen 1999 und heute getrieben hatte, wo sie gewohnt, was sie beruflich gemacht oder ob sie in den Jahren überhaupt in den Staaten gelebt hatte. Erst am dritten Februar 2011 trat sie wieder in Erscheinung. Nach einer Demonstration gegen die National Riffles Association in Atlanta tötete sie ein, wahrscheinlich sogar zwei Menschen mit gezielten Schüssen. Allein dem Zufall war es zu verdanken, dass das FBI ihr auf die Spur gekommen war, denn ein Zeuge hatte Elsa Jones erkannt, bevor sie die tödlichen Schüsse abgefeuert hatte. Vor fünf Tagen, am Morgen des 4. September 2011, hatte Elsa Jones in der Nähe von Austin erneut zwei Menschen erschossen. Der schwarze Kongressabgeordnete Malcolm Wheeler war wie jeden Sonntag mit seiner sechsjährigen Tochter Samantha unterwegs zu seinen Eltern gewesen, als sie auf einer einsamen Landstraße aufgehalten und regelrecht hingerichtet wurden.
Langsam ließ Marek sich auf seinem Stuhl zurücksinken. Sein Kopf fühlte sich leer an, als hätte jemand jeden vernünftigen Gedanken herausgesaugt. Reglos starrte er den Bildschirm an und konnte nicht glauben, was er sah.