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Als sie zum zweiten Mal an diesem Tag abgeholt wurde, befürchtete sie erneut, von den Gefängniswärtern misshandelt zu werden, doch es waren nicht dieselben wie am Morgen. Schweigend und mit abweisenden Mienen, aber nicht grob, führten sie Hannah durch die Gänge. Sie entspannte sich ein wenig und versuchte, so etwas wie Zuversicht zu empfinden. Dieses Mal würde man sie zu Marek bringen, es konnte gar nicht anders sein.

Doch es kam anders.

Man brachte sie in einen Raum, in dem bereits mehrere andere Frauen warteten, alle etwa in ihrem Alter und ihrer Größe und unauffällig gekleidet. Man nahm Hannah die Handschellen ab, und unter den Blicken schwerbewaffneter Gefängniswärter musste sie die Anstaltskleidung aus-und Jeans und Bluse anziehen. Niemand sah ihr in die Augen, niemand richtete das Wort an sie. Niemand lächelte. Sie musste sich unter die Frauen reihen, und gemeinsam wurden sie in einen Nebenraum geführt. Erst als sich alle mit dem Gesicht zu einem Einwegspiegel aufstellen mussten, wurde Hannah klar, dass gerade eine Gegenüberstellung stattfand.

Ihr wurde abwechselnd heiß und kalt, doch sie zwang sich, ruhig und langsam zu atmen. Sie hatte nichts getan, hatte niemanden getötet, niemand konnte sie wiedererkennen, weil kein Zeuge sie je gesehen hatte. Der Gedanke beruhigte sie, und sie ließ den Blick über den Spiegel gleiten, als könnte sie hindurchblicken und die Menschen dahinter sehen, Menschen, die über ihr Schicksal entschieden. Doch was sie sah, war sie selbst, eine graue, müde Gestalt zwischen lauter Frauen, die aussahen, als kämen sie gerade aus dem Büro oder vom Einkaufen. Sie wirkte als Einzige, als käme sie direkt aus einer Gefängniszelle. Natürlich würde das auch der Zeuge hinter dem Spiegel bemerken. Er würde nicht auf ihr Gesicht achten, auf ihre Augen, ihre Haare oder was immer ihm vor drei, vier, fünf Jahren besonders aufgefallen war, sondern er würde feststellen, dass sie die Einzige war, die gerötete Augen hatte und angestrengt auf den Spiegel starrte, weil dahinter ein Mensch saß, der möglicherweise über ihr Leben oder Sterben entschied.

Obwohl es ihr wie eine Ewigkeit vorkam, konnten nicht mehr als ein paar Minuten vergangen sein, bis sie wieder die Anstaltskleidung überwerfen musste und man ihr erneut Handschellen anlegte. Doch man brachte sie nicht zurück in die Zelle, sondern in einen Vernehmungsraum, was bedeutete, dass man sie wieder am Boden ankettete. Man ließ sie warten, sie wusste nicht, wie lange, weil ihr Zeitgefühl schon seit Tagen nicht mehr richtig funktionierte. Vom langen Sitzen wurden allmählich die Beine steif, und ihr Magen meldete sich mit einem schüchternen Knurren, das wie der erste Versuch eines jungen Welpen klang.

Bei diesem Bild musste die sofort an Rufus denken, den Welpen, den sie als junges Mädchen von Tomas, ihrem Stiefvater geschenkt bekommen hatte, einen wunderschönen Irish Setter.

Die Erinnerung an Tomas ließ sie an Marek denken. Er war hier, er würde Liza Mendez und Mullen und Taylor überzeugen, dass sie nicht Elsa Jones war, er würde alles erklären können. Niemand kannte sie so gut wie er. Sie war dreizehn gewesen, als ihre Mutter seinen Vater kennenlernte, er vierzehn. Er lebte zwar weiterhin bei seiner Mutter, doch alle vierzehn Tage verbrachte er das Wochenende bei seinem Vater. Beim ersten gemeinsamen Ausflug der neuen Patchworkfamilie zum Hafengeburtstag hatte Hannah gar nicht mitkommen wollen. Menschenmassen waren ihr ein Gräuel, und dieser pickelige Junge, den ihre Mutter als ihren “neuen Bruder” vorgestellt hatte, interessierte sie nicht. An den Landungsbrücken hatte Tomas für alle ein Eis ausgegeben. Es herrschte ein Riesengedränge, Kinder schrien, die Boote tuteten, die Hochbahn ratterte im Minutentakt hinter ihnen vorbei. Hannah stand an der Balustrade und rechnete aus, wie viel Liter Wasser ein zehn Meter breites Stück Fluss zwischen den beiden Ufern enthielt. Darüber vergaß sie ihr Eis und merkte nicht einmal, wie es ihr über die Finger lief, bis Tomas sie darauf aufmerksam machte.

“Hey, was ist denn mit dir los?”, hatte er gefragt, als er ihren geistesabwesenden Blick bemerkte.

“Ich rechne”, sagte sie nur und sah nicht, wie ihre Mutter die Augen verdrehte. Tomas runzelte die Stirn. Marek jedoch fragte neugierig, was sie denn rechne. Sie erzählte es ihm, aus Trotz und um ihn abzuschrecken, doch zu ihrem Erstaunen rechnete er mit und stellte dann die nächste Frage: Wie viele Wasserstoffatome, die jetzt im Elbwasser vor ihnen vorbeidümpelten, hatten schon den Kiel der Santa Maria berührt, mit der Kolumbus auf der Suche nach dem Seeweg nach Indien über den Ozean gesegelt war? Sie scheiterten an dieser Aufgabe, zu vieles galt es zu bedenken: die Gesamtmenge aller Wasserstoffatome, die Meeresströmungen, die Erdbeschleunigung, die genaue Route der Santa Maria, die Chaostheorie. Doch sie scheiterten gemeinsam, kringelten sich vor Lachen und einigten sie sich schließlich darauf, dass mindestens ein Wasserstoffatom aus ihrer Elbe schon Kolumbus an Deck der Santa Maria hatte vorbeischippern sehen.

Für einen Moment hatte sie vergessen, wo sie sich befand, und ein leichtes Lächeln umspielte ihre Lippen, als die Tür aufgerissen wurde und sie auf einen Schlag wieder gefesselt und angekettet im Vernehmungszimmer im Bezirksgefängnis von Austin, Texas, saß. Taylor und Mullen betraten den Raum, Liza Mendez folgte ihnen mit verschlossener Miene. Niemand sagte etwas, als sie sich Stühle heranzogen und sich setzten. Schweigend legte Mullen zwei schwere, in durchsichtige Plastiktüten gehüllte Gegenstände auf den Tisch. Ein Gewehr und eine Pistole.

Sie hatte noch nie eine Waffe aus der Nähe gesehen. Das Gewehr: dreiundsiebzig Zentimeter kompaktes, todbringendes Metall. Sie starrte auf den Lauf und den Abzug, die einzigen Teile, deren Namen sie sicher zu benennen wusste. Die Pistole, sie nahm an, dass es sich um eine handelte, war kleiner und handlicher, was sie nicht weniger tödlich machte.

Es musste einen Grund geben, dass man ihr diese Waffen zeigte. Langsam hob sie den Kopf und sah Mullen an. Seine schwarze Haut schien noch schwärzer zu sein als je zuvor. Taylor beobachtete sie mit abschätzig heruntergezogenen Mundwinkeln, Liza Mendez hatte die Arme vor der Brust verschränkt und sah aus, als wäre sie am liebsten meilenweit entfernt.

Noch ehe Mullen den Mund aufmachte, wusste sie Bescheid.

“Ms Jones, die ballistischen Untersuchungen haben ohne jeden Zweifel ergeben, dass mit diesen Waffen zwölf Menschen erschossen wurden.” Sie konnte den Blick nicht von ihm abwenden. “Und auf beiden Waffen wurden Ihre Fingerabdrücke sichergestellt.” Er schwieg einen Moment. “Zudem hat Ihre alte Englischlehrerin, Ms Bishop, Sie vorhin bei einer Gegenüberstellung zweifelsfrei identifiziert.”

Sie hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Wie in Zeitlupe wanderte ihr Blick wieder zu den Waffen, von denen sie sicher war, sie nie zuvor gesehen, geschweige denn in den Händen gehalten zu haben. Sie schloss die Augen.

Denk nach! Es muss eine logische Erklärung geben!

Wie aus weiter Ferne drang Taylors Stimme zu ihr. Er klang sanft, beinahe mitfühlend, als er sagte: “Wann sehen Sie endlich ein, dass es keinen Zweck hat, noch länger zu leugnen, Ms Jones? Sie haben zwölf Menschen erschossen. Sie machen es sich nur noch schwerer, wenn Sie sich weiterhin so stur stellen.”

“Ich bin nicht Elsa Jones.” Ihre Stimme war so leise, dass sie zunächst nicht wusste, ob man sie verstanden hatte. Taylor sagte nichts, Liza Mendez holte vernehmlich Luft. Mullen ergriff erneut das Wort.

“Aber Sie haben getötet”, sagte er scharf.

“Nein!” Sie schrie dieses Wort fast, hörte die Verzweiflung, die ihrer Stimme einen schrillen Unterton verlieh, und hasste sich dafür. Sie wollte nicht verzweifeln. “Ich bin nicht Elsa Jones, und ich habe niemanden umgebracht. Ich sehe diese Waffen zum ersten Mal. Ich habe überhaupt keine Ahnung, wie man so ein Ding bedient.”

“Und wie sind dann Ihre Fingerabdrücke daraufgekommen? Und zwar nicht nur außen, sondern auch auf die Teile, die man nur berührt, wenn man die Waffen auseinandernimmt, um sie zu reinigen?”

Denk nach! “Man muss mir die Waffe in die Hand gedrückt haben, als ich bewusstlos war.”

Mullen beugte sich vor und schlug mit flachen Händen auf den Tisch. “Lassen Sie diesen Scheiß!”

Er sprang auf, als könne er seinen Zorn nicht länger bändigen, und mit drei Schritten war er neben ihr. “Jetzt hören Sie mir gut zu, Ms Jones.” Mit einer Hand stützte er sich auf die Rückenlehne ihres Stuhls, mit der anderen auf den Tisch. Er beugte sich zu ihr hinunter, bis sie seinen heißen Atem an ihrer Wange spürte. Sie wagte nicht einmal, schützend die Hände zu heben, sondern zog nur den Kopf ein, so tief es ging, und biss sich auf die Lippen.

“Ich habe mir Ihre aberwitzigen Ausreden lange genug angehört. Damit ist jetzt Schluss. Ich will alles von Ihnen wissen. Wo haben Sie sich seit der Entlassung aus der Armee rumgetrieben? Wo haben Sie sich versteckt? Wer ist Ihr Komplize?” Er beugte sich noch ein Stück näher, bis sie zitternd zurückwich. “Ich will alles wissen, sonst …” Er nahm die Hand vom Tisch, packte sie an der Kehle und drückte zu.

 

 

“Mr Mullen, ich bitte Sie!” Es war das erste Mal, dass Liza Mendez bei diesem Verhör den Mund aufmachte. Mullen zog seine Hand zurück und wischte sie angewiderte an der Hose ab. Er richtete sich auf und blickte auf Jones herab. Es hätte nicht viel gefehlt, und er hätte sie angespuckt.

“Dan”, sagte Taylor warnend, und Mullen zog sich widerstrebend zurück. Natürlich war es verboten, Gefangene zu misshandeln, aber verdammt, manchmal platzte ihm einfach der Kragen.

Jones hockte zusammengekauert auf dem Stuhl und hielt den Kopf gesenkt. Schließlich holte sie tief Luft, hob den Kopf und richtete sich auf. Sie hatte sich die Lippe blutig gebissen, ein winziger Tropfen hing daran wie eine rote Träne. Ihre Hände zitterten heftig, bis sie sie zwischen die Oberschenkel schob. Obwohl es im Raum unangenehm heiß und stickig war, waren die dünnen Arme, die aus der grauen Bluse hervorschauten, mit Gänsehaut überzogen.

“Ms Jones”, ergriff Taylor das Wort. “Sie wissen, dass das Spiel aus ist. Sie haben nichts mehr zu verlieren, wenn Sie mit uns reden, Sie können nur noch gewinnen.”

Sie sagte nichts.

“Denken Sie daran, dass Sie nach dem Urteil noch jahrelang in der Todeszelle sitzen werden”, sagte Mullen. “Wissen Sie, wie man dort mit renitenten Gefangenen umspringt, die stur auf ihrer Unschuld beharren?” Im Raum war es totenstill. “Sie werden sich den Tod wünschen, Ms Jones, aber man wird Sie nicht sterben lassen. Bis der endgültige Hinrichtungsbefehl kommt.”

Jones schloss kurz die Augen, dann sah sie Mullen direkt in die Augen. “Sie irren sich”, sagte sie überraschend ruhig. “Ich weiß, dass es für Sie so aussehen muss, als hätte ich zwölf Menschen erschossen, aber das ist nicht wahr.”

 

 

Sie blickte Mullen und Taylor nach, als sie den Raum verließen. Liza Mendez saß mit verschränkten Armen vor ihr und musterte sie. Sie trug heute kein Kostüm, sondern Jeans und Bluse, sommerlich luftig und seltsam unpassend für diesen Ort. Sie hatte ihren Stuhl so weit nach hinten geschoben, dass Hannah sie, angekettet, wie sie war, nicht erreichen könnte, selbst wenn sie es gewollt hätte.

“Kann ich bitte etwas zu trinken bekommen?”, fragte Hannah leise. Im ersten Moment schien Mendez sie nicht verstanden zu haben, oder sie hielt die Bitte für unverschämt. Doch schließlich stand sie auf und ging zur Tür. Sie steckte den Kopf hinaus und sagte etwas zu jemandem, kurz darauf kam sie mit einer kleinen Wasserflasche und einem Pappbecher zurück. Wortlos stellte sie beides vor ihr auf den Tisch. Hannah schraubte den Deckel ab und trank direkt aus der Flasche.

“Danke.” Sie sah Liza Mendez an und hielt ihrem Blick stand. Wenn es stimmte, dass Elsa Jones aus rassistischen Motiven getötet hatte, würde sie von dieser Frau keine Hilfe erwarten können.

Sie brauchte einen anderen Anwalt. Marek musste sich sofort darum kümmern.

“Haben Sie mit meinem Bruder gesprochen?”, fragte sie.

“Nein. Er hat sich nicht bei mir gemeldet.”

Hannah starrte die Frau an. Wenn Marek hier in Texas wäre, hätte er sich bei ihrer Anwältin gemeldet. Warum war er nicht gekommen? Das konnte nicht sein. Er würde sie nie im Stich lassen, niemals. Er musste aufgehalten worden sein, ihm musste etwas zugestoßen sein. “Haben Sie versucht, ihn anzurufen? Vielleicht hatte sein Flieger Verspätung.”

Liza Mendez zuckte die Achseln. “Ich habe keine Ahnung, wo er steckt, und es interessiert mich ehrlich gesagt auch nicht. Ich schlage vor, Sie beauftragen Harold Stanton mit der Suche nach Ihrem geheimnisvollen Bruder.”

Hannah runzelte die Stirn.

“Solche Dinge sprechen sich rasch herum, Ms Jones. Ich weiß, dass Stanton Sie heute Morgen besucht hat.” Sie erhob sich und machte Anstalten den Raum zu verlassen. “Sobald er dem Richter die Mandatsbeauftragung vorgelegt hat, wird er Ihnen vermutlich jeden Wunsch von den Augen ablesen.”

“Harold Stanton ist nicht mein neuer Anwalt.”

Liza Mendez verharrte mitten in der Bewegung. Hannah merkte ihr die Überraschung an.

“Er vertritt nämlich nur aufrechte amerikanische Patrioten. Da ich weder Amerikanerin noch irgendeine Patriotin bin, werde ich den Teufel tun, mich von jemandem wie ihm vertreten zu lassen.”

Liza Mendez setzte sich wieder. Hannah ließ sie nicht aus den Augen.

“Ms Mendez, ich weiß, was Sie in mir sehen, in mir sehen müssen. Aber so wie es aussieht, werden wir noch eine Weile miteinander auskommen müssen. Ich verspreche Ihnen, dass ich mir einen neuen Anwalt suche, sobald mein Bruder hier ist und ich irgendwie an mein Geld komme.” Sie zögerte. “Sie sind im Moment mein einziger Kontakt zur Außenwelt. Bitte, versuchen Sie meinen Bruder zu erreichen. Es ist ja auch in Ihrem Interesse”, konnte sie sich nicht verkneifen hinzuzufügen. “Je eher mein Bruder sich darum kümmern kann, desto schneller sind Sie mich los.”

Mendez’ nachdenklicher Blick ruhte auf ihr. “Also gut”, sagte sie schließlich, “ich werde versuchen, diesen Marek Lukow zu erreichen. Ich nehme an, Sie verfügen über genügend Mittel, um einen Anwalt bezahlen zu können?”

Hannah musste zugeben, dass sie sich darüber noch keine Gedanken gemacht hatte, aber das brauchte Mendez nicht zu wissen. Sie könnte das Haus ihrer Großmutter verkaufen, oder besser, die Ruine. Aber das Haus war natürlich versichert gewesen, und womöglich erwies sich das Feuer jetzt sogar als Glücksfall, denn das Gebäude war klein und alt gewesen und hätte dringend renoviert werden müssen. Zum ersten Mal, seit sie von dem Brand erfahren hatte, empfand sie so etwas wie Erleichterung, weil sie sich darum wenigstens nicht mehr kümmern musste. Aber das beantwortete noch nicht die Frage, ob das Geld ausreichen würde, um sich einen guten Anwalt leisten zu können. Dann fiel ihr etwas ein.

“Setzen Sie sich bitte mit dem deutschen Konsulat in Verbindung. Als deutsche Staatsangehörige müssen die mich unterstützen.”

“Vergessen Sie’s.”

“Wie bitte?”

“Ich sagte: Vergessen Sie es. Solange Sie nicht nachweisen können, dass Sie Deutsche sind, wird eine deutsche Behörde keinen Finger für Sie rühren.”

“Versuchen Sie es trotzdem.”

Liza Mendez zuckte die Achseln und machte erneut Anstalten, sich zu erheben. Die Vorstellung, von dieser Frau abhängig und ihr auf Gedeih und Verderb ausgeliefert zu sein, behagte Hannah gar nicht. Besser, sie behielt selbst so gut es ging die Kontrolle.

“Und ich möchte eine Kopie meiner Akte haben”, sagte sie und störte sich nicht an Lisa Mendez’ gereiztem Blick.

“Ich kann Ihnen Kopien der wichtigsten Seiten zukommen lassen.”

“Ich will die gesamte Akte.”

“Das ist nicht üblich”, sagte Mendez.

“Aber es ist auch nicht verboten, oder?”

“Nein.”

“Also dann. Ich will auch die Zeitungsberichte über Elsa Jones haben, über … ihre Opfer, keine Ahnung, alles, was Sie finden.”

“Ich bin Ihre Pflichtverteidigerin, nicht Ihre Privatsekretärin.”

“Davon, dass Sie meine Anwältin sind, habe ich bisher nicht viel gemerkt.”

Mendez’ Augen wurden schmal. “Kopien kosten Geld, ganz zu schweigen davon, Ihnen die Zeitungsberichte herauszusuchen. Das ist im Budget nicht drin.”

Hannah sog scharf die Luft ein. “Ich glaube nicht, dass Sie sich bisher für mich überarbeitet haben.”

Liza Mendez musterte sie kühl. “Also gut, Sie bekommen Ihre Akte. Sonst noch was?”

“Wie wäre es mit ein paar juristischen Fachbüchern? US-amerikanisches Strafrecht zum Beispiel wäre nicht schlecht.” Mit beißendem Spott fügte sie hinzu: “Besonders die Kapitel über die Rechte und Pflichten von Pflichtverteidigern würden mich interessieren.”

Liza Mendez starrte sie einen Moment an, dann bückte sie sich nach ihrem Aktenkoffer, schob ihr Smartphone in die Handtasche und stand auf. “Sie können sich die Bücher in der Gefängnisbibliothek ausleihen, falls Sie meinen, dass Ihnen das etwas nützt.” Sie sah auf Hannah hinunter und zuckte die Schultern. “Aber wenn Sie meine ehrliche Antwort hören wollen: Sie kommen hier nicht mehr raus. Egal, wer Ihr Anwalt ist, und egal, wie oft Sie behaupten, unschuldig zu sein.”