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Der helle Computermonitor tauchte das kleine Hotelzimmer in ein unheimliches Licht. Das leise Klicken der Tastatur und der Maus waren die einzigen Geräusche, durch die geschlossenen Fenster und die dichten, zugezogenen Vorhänge drang kein Geräusch von außen herein.

Tanja seufzte vernehmlich und setzte sich im Bett auf.

“Wann bist du denn endlich fertig?” Sie klang ungeduldig und verärgert.

“Gleich”, lautete Mareks knappe Antwort. Er hatte den Blog aufgerufen, dessen Link Hannah ihm vorgestern geschickt hatte. Eine einfach gestaltete Seite ohne jeden Firlefanz, schlichte Schriften und unauffällige Farben.

ICH BIN HANNAH lautete der Titel, und darunter prangte ihr Bild. Hannah hatte das Bild, das bereits millionenfach im Internet herumgeisterte, als Vorlage genommen und einen Ausschnitt gewählt, der nur ihr Gesicht zeigte. In ihren deutschen und englischen Blogeinträgen beschrieb sie, wie sie vor fast genau zwei Jahren verhaftet worden war, wie man sie als Elsa Jones ins Gefängnis gesteckt und verurteilt hatte. Jedem der angeblichen Beweise gegen sie hatte sie einen eigenen Beitrag gewidmet. In einem Beitrag hatte sie dargelegt, was ihrer Meinung nach am 3. September 2011 geschehen war. Ich wurde an einem einsamen Strandabschnitt nördlich von San Francisco entführt und anschließend mehrere Tage festgehalten. In der Zeit muss ich Drogen bekommen haben, denn ich kann mich an absolut nichts mehr erinnern. Am 6. September buchte eine Frau, vermutlich Elsa Jones, ein Motelzimmer. Irgendwann zwischen dem 6. und dem 8. September wurde ich in dieses Zimmer gebracht. Man flößte mir Tabletten und Alkohol ein, hinterließ die beiden Tatwaffen und einen Führerschein mit meinem Bild und dem Namen Elsa Jones und wartete ab. Doch der Plan ging nicht auf: Ich starb nicht. Elsa Jones hatte nicht damit gerechnet, dass ich die Tabletten größtenteils wieder erbrechen würde. Ihr erster Fehler.

In einem anderen Eintrag beschrieb sie akribisch, wie man eine Waffe auseinandernehmen und ohne Probleme die Fingerabdrücke einer anderen Person auf den inneren Bauteilen platzieren konnte. Der Text war mit Bildern versehen, auf denen sie das Beschriebene anschaulich darstellte.

Sie lieferte keine Beweise dafür, dass sie nicht Elsa Jones war oder dass die Fingerabdrücke auf der Tatwaffe nicht von ihr stammten, aber sie lieferte Erklärungen dafür, wie es gewesen sein könnte.

Kurz bevor sie mit dem Blog online gegangen war, hatte sie Marek über ihr Forum im Darknet über ihr Vorhaben informiert. Ich muss mit E. J. Kontakt aufnehmen, und dieser Blog ist die einzige Möglichkeit, sie zu erreichen. Außerdem schadet es nicht, meine Sicht der Dinge öffentlich zu machen. Ich habe die Lügen satt, die über mich verbreitet werden.

Marek lehnte sich zurück und massierte sich müde mit Daumen und Zeigefinger die Nasenwurzel. Sie hatte ihn gebeten, ebenfalls an dem Blog mitzuschreiben. Kannst du den Teil der Geschichte, der in D spielt, direkt einpflegen? Und so verbrachte er selbst seit zwei Tagen jede freie Minute am Computer, um an Hannahs Blog mitzuschreiben.

Seit er auf der Landstraße von dem schwarzen BMW gerammt worden war, lebte er versteckt in Hotels und hielt engen Kontakt zur Polizei. Als er gleich nach dem Unfall Miriam Winkler angerufen hatte, hatte diese sofort reagiert und veranlasst, dass er in das Zeugenschutzprogramm aufgenommen wurde. Einen besseren Beweis dafür, dass die Polizei seiner, oder besser Hannahs Geschichte Glauben schenkte, gab es kaum, doch Tanja hielt die Vorsicht, mit der er sich seit dem Unfall bewegte, trotzdem für übertrieben. Heute Nachmittag war sie, den Warnungen der Polizei zum Trotz, zu ihm ins Hotel gekommen, um den Sonntag mit ihm zu verbringen. Doch dann hatten sie sich die meiste Zeit nur gestritten.

Jetzt kletterte sie aus dem Bett und verschwand im Badezimmer. Kurz darauf hörte er die Toilettenspülung rauschen, dann kam sie zurück und trat hinter Marek. Sie legte ihm die Hände auf die Schultern und begann, ihn sanft zu massieren. “Mach doch endlich die Kiste aus”, gurrte sie. “Es ist schon spät, und ich muss morgen früh aufstehen.”

“Du kannst dich doch schon schlafen legen.”

Sie hielt mit dem Massieren inne. “Ich möchte aber neben dir einschlafen.”

Er griff nach ihrer Hand und drückte sie leicht, während er gleichzeitig auf den Blogeintrag klickte, in dem Hannah beschrieb, warum ihrer Meinung nach eine große, schlagkräftige Organisation hinter Elsa Jones stehen musste.

Tanja seufzte. “Kannst du Hannah nicht wenigstens für ein paar Stunden vergessen?”

Seine rechte Hand verharrte regungslos über der Maus, dann drehte er sich langsam auf dem unbequemen Stuhl um. “Das Leben meiner Schwester steht auf dem Spiel. Ich kann jetzt nicht so tun, als wäre alles in Ordnung.”

Tanja nahm ihre Hände fort. “Sie ist nicht deine Schwester. Sie ist nicht einmal deine Stiefschwester.”

Dieses Argument hatte sie schon vor zwei Jahren angeführt, als er um Hannah getrauert hatte, mit sanfter Stimme vorgetragen wie Trostworte. Erst jetzt spürte er den Stich, den ihm diese Abwertung dessen, was Hannah ihm bedeutete, versetzte. Hannah war seine Schwester, und er liebte sie.

“Was willst du damit sagen?”, fragte er langsam. “Dass Hannah es nicht wert ist, dass ich mich um sie kümmere? Dass ich sie vergessen soll?” Er ballte die Fäuste. “Ich habe zwei Jahre lang versucht, sie zu vergessen, weil du mir ständig damit in den Ohren gelegen hast. Deinetwegen habe ich nicht schon damals bei ihrem alten Zahnarzt nachgeforscht.”

“Gib mir bitte nicht die Schuld dafür, dass du selbst an ihren Tod geglaubt hast. Damals sprach alles dafür, dass es sich bei der Toten in ihrem Haus tatsächlich um Hannah handelte. Wer hätte denn ahnen können …”

“Ich. Ich hätte es wissen müssen, dass die Tote unmöglich Hannah sein kann. Sie hat alle Fragen, die ich ihr über die Rechtsanwältin gestellt habe, richtig beantwortet. Sie hat …”

“Aber das war doch kein Beweis! Die Antworten hätte diese Elsa Jones vorher aus Hannah herausbekommen können! Marek, es sah einfach alles danach aus, dass du auf eine Betrügerin und Mörderin hereingefallen bist.”

Sie streckte den Arm nach ihm aus, doch er stand abrupt auf und wich einen Schritt zurück. Ihre Nähe war ihm unerträglich, und so erging es ihm schon seit Tagen. Seit dem Anschlag auf ihn oder eigentlich noch länger: seit er den Brief von Hannah bekommen hatte, von seiner Schwester, die in den USA auf der Flucht war und jede Hilfe brauchte, die sie bekommen konnte. Erst nach dem Anschlag hatte er Tanja erzählt, dass er seit mehreren Tagen mit Hannah in Kontakt stand. Sie hatte entsetzt reagiert und ihm zugleich Vorhaltungen gemacht, weil er sie nicht sofort ins Vertrauen gezogen hatte.

“Du hättest ja doch nur gesagt, ich solle mich da raushalten”, hatte er gekontert, und ihr Schweigen war ihm Antwort genug gewesen.

“Ich will, dass du nach Hause fährst”, sagte er jetzt und verschränkte die Arme, damit Tanja seine geballten Fäuste nicht sah.

“Aber …”

“Ich habe es satt, mich dafür rechtfertigen zu müssen, weil ich meiner Schwester helfe. Ich habe dein Gejammer satt, ich würde mich nicht genug um dich kümmern.” Den drohenden Unterton in seiner Stimme konnte er nicht verhindern.

“Natürlich, Hannah ist dir mal wieder wichtiger als ich!”

“Du bist ja eifersüchtig”, stellte er fast erstaunt fest. Das gerötete Gesicht und ihr zorniger Blick verrieten ihm, dass er ins Schwarze getroffen hatte.

Tanja musterte ihn aus schmalen Augen. “Ich bin überhaupt nicht eifersüchtig, aber du bist ja regelrecht besessen von dieser Frau. Hannah hier und Hannah da – so ging das doch schon, als wir uns kennenlernten. Verdammt noch mal, was findest du eigentlich an der? Sie ist kalt wie ein Fisch, hat keinen Humor und zeigt allen Menschen nur die kalte Schulter. Und wer weiß, wieso ausgerechnet sie in den USA verhaftet wurde.”

“Willst du damit etwa andeuten, Hannah hätte irgendetwas mit dieser Elsa Jones zu tun? Dass sie mit einer Terroristin unter einer Decke steckt?” Ungläubig starrte Marek seine Freundin an. Als sie den Mund aufmachte, um etwas zu sagen, hob er die Hand. “Es reicht. Wenn du so über Hannah denkst, verschwindest du besser auf der Stelle.”

Tanja biss die Zähne zusammen, dann drehte sie sich ohne ein Wort um und begann, sich anzuziehen. Mit fahrigen Bewegungen schlüpfte sie in Kleid, Strumpfhose und Schuhe, dann schnappte sie sich ihre Jacke und die Handtasche. Die Hand schon auf der Türklinke drehte sie sich noch einmal um.

“Gegen Hannah hatte ich nie eine Chance. Du vergötterst sie ja geradezu, dabei benutzt sie dich nur. Aber du bist ja zu blöd, um es überhaupt zu merken.”

Marek machte einen Schritt auf Tanja zu. “Verschwinde”, zischte er. “Du hast drei Tage Zeit, um deine Sachen aus meiner Wohnung zu holen. Was ich danach noch von dir finde, wandert in den Müll.”

“Arschloch!” Die zugeknallte Tür klang wie ein Pistolenschuss.

 

 

Am nächsten Morgen klingelte sein Handy ihn aus dem Schlaf. Miriam Winkler meldete sich.

“Sind Sie schon wach?”, fragte sie. Es war halb acht. Als er den aufgeregten Unterton in ihrer Stimme hörte, war er in der Tat auf einen Schlag hellwach.

“Ja. Schießen Sie los.”

“Die Auswertungen der DNA-Proben liegen vor.” Sie holte tief Luft. “Die Tote aus dem Haus Ihrer Schwester ist mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht mit der verstorbenen Anna Marcks, der Großmutter Ihrer Schwester, verwandt. Bei der Frau, die man in den USA als Elsa Jones verhaftet und verurteilt hat, liegt die Wahrscheinlichkeit, mit Anna Marcks verwandt zu sein, dagegen bei rund 98%.” Sie schwieg einen Moment. “Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen. Sie hatten von Anfang an recht gehabt.”

Marek stieß vernehmlich die Luft aus, die er die ganze Zeit angehalten hatte. “Sie brauchen sich keine Vorwürfe zu machen. Es sprach ja auf den ersten Blick alles dafür, dass die Tote tatsächlich Hannah war.” Unbewusst hatte er Tanjas Worte vom Abend zuvor fast wortwörtlich wiederholt – nicht nur, um Miriam Winkler von jeder Schuld freizusprechen, sondern vor allem sich selbst. Weil er trotz seiner Zweifel nicht weiter nachgehakt hatte. “Haben Sie dem FBI das Ergebnis schon mitgeteilt?”

“Ich habe eine Mail geschickt, aber ich werde heute Abend noch einmal dort anrufen und mit Mr Mullen persönlich reden.” Sie schwieg einen Moment. “Ich hoffe nur, er schlägt die Ergebnisse nicht einfach in den Wind und hält Ihre Schwester weiterhin für die gesuchte Elsa Jones.”

Marek stand auf, um die schweren Vorhänge zurückzuziehen und das Fenster zu öffnen. Draußen begrüßten ihn ein strahlend blauer Himmel und angenehme spätsommerliche Temperaturen. Der Hamburger Stadtlärm lag wie ein leises Rauschen über der Stille der ruhigen Nebenstraße. “Und wie geht es jetzt weiter?”, fragte er. “Ich meine, wie lange dauert es, bis Hannah wieder für lebendig erklärt wird?”

“Der Staatsanwalt leitet die Sache heute noch an die zuständige Behörde weiter. In spätestens zwei Wochen sollte das geklärt sein.”

Sie schwiegen beide eine Weile, dann sagte sie: “Ich habe den Blog Ihrer Schwester gelesen.” Marek hatte ihr den Link geschickt, aber nicht verraten, dass sie vor allem an die Öffentlichkeit gegangen war, damit sie mit Elsa Jones Kontakt aufnehmen konnte. Sie hatte ihm eingeschärft, es niemandem zu erzählen. “Ich muss sagen, ihre Beweisführung ist absolut stichhaltig.” Er hörte sie kurz auflachen. “Da könnte sich mancher Staatsanwalt eine Scheibe von abschneiden.” Dann wurde sie wieder ernst. “Haben Sie einen bestimmten Verdacht, was für eine Organisation hinter Elsa Jones stehen könnte?”

“Nein. Aber sie muss immerhin groß genug sein, um auch hier in Deutschland aktiv werden zu können.” Nach einem kurzen Blick auf die Straße fügte er hinzu: “Wie lange muss ich mich eigentlich noch verstecken? Jetzt, wo klar ist, dass es sich bei der Toten nicht um Hannah handelt? Ich würde gerne wieder in meine Wohnung zurück.”

Miriam Winkler schwieg kurz. “Sie haben recht, eigentlich gibt es keinen Grund mehr für diese Leute, Sie aus dem Weg räumen zu wollen. Ich kläre das ab und melde mich wieder bei Ihnen.”

 

 

Am nächsten Nachmittag schloss er zum ersten Mal seit über einer Woche wieder die Tür zu seiner Wohnung auf. Und blieb wie angewurzelt stehen. Seine Jacken waren von der Flurgarderobe gerissen worden und lagen verstreut auf dem Boden, zusammen mit seinen Schuhen, dazwischen der Krimskrams von der kleinen Kommode – Briefe, Schlüssel, ein paar CDs, seine Sonnenbrille.

Vorsichtig stellte er seine Reisetasche ab und machte zwei Schritte, wobei er darauf achtete, nirgendwo draufzutreten. Ein Blick ins Wohnzimmer ließ ihn zusammenzucken. Die Bücher und CDs waren aus den Regalen gerissen worden, der Couchtisch war umgestürzt. Die Jalousie am Fenster hing schief, die Sofakissen und –polster lagen im ganzen Raum verteilt auf dem Boden. Marek wandte den Blick ab und ging weiter zur Küche. Die Schranktüren standen offen, auf dem Boden häufte sich zerschlagenes Geschirr, vermischt mit ausgekippten Lebensmitteln, Reis, Mehl, Zucker, vermengt mit Saft und Sekt aus dem Kühlschrank. Das Schlafzimmer jedoch hatte es am schlimmsten erwischt. Jemand hatte die Daunendecke aufgeschlitzt, so dass die Federn bis in den Flur hineingeflogen waren. Die Türen des Kleiderschranks standen ebenfalls offen, der Großteil der Kleidung lag auf dem Fußboden. Die Gardinen vor den Fenstern waren mitsamt der Gardinenstange heruntergerissen worden und lagen schräg auf dem Heizkörper.

Das Arbeitszimmer war einigermaßen verschont worden. Die Regale waren zwar leergefegt, Bücher und Ordner lagen auch hier auf dem Boden, doch sein Arbeitsplatz wirkte unberührt, der dunkle Monitor begrüßte ihn stumm.

Langsam ging er von einem Zimmer zum anderen und besah sich den Schaden, ohne irgendetwas anzufassen. Ihm fiel auf, dass Tanjas Sachen fehlten. Ihre Kleidung, ihr Geschirr, der kleine Beistelltisch, der immer im Wohnzimmer gestanden hatte – alles war weg. Im Badezimmer lagen nur seine Zahnbürste und sein Rasierpinsel auf dem Fußboden. Tanjas Cremes, Lotionen und Schminkzeug fehlten.

Im Arbeitszimmer blieb er stehen und holte tief Luft.

Wenn die Komplizen von Elsa Jones hier eingebrochen wären, hätten sie garantiert den Computer mitgenommen, um herauszufinden, ob er wusste, wo Hannah steckte. Er wusste es nicht, und er wusste auch, dass es keine Möglichkeit gab, das herauszufinden – selbst wenn man seine Internetaktivitäten zurückverfolgte. Selbst wenn man seinen Weg ins Darknet zurückverfolgen und auf das Forum stoßen würde, über das er mit Hannah kommunizierte – Hannah würde für jeden anderen genauso unauffindbar bleiben, wie sie es für ihn war.

Außerdem war der Computer noch da.

Er zog sein Smartphone aus der Tasche und rief Tanja an. Sie ging nicht ran. Er schrieb ihr eine SMS. Du spielst ein gefährliches Spiel. Du weißt, dass ich die Polizei informieren muss. Dann wartete er zehn Minuten, doch sie meldete sich immer noch nicht. Seine Hand schwebte zögernd über der Kurzwahltaste, ehe er die Nummer wählte, die man ihm für genau solche Notfälle gegeben hatte.

“Meine Wohnung ist verwüstet worden”, sagte er schließlich. “Vermutlich war es meine Ex-Freundin. Aber ich bin mir nicht sicher.”