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Irgendwo bellte ein Hund. Die Sonne brannte heiß von einem wolkenlosen Himmel, und der trockene Wind, der von der Prärie herüberwehte, trug den Staub in jede noch so kleine Ritze. Vor der Rezeption des kleinen, heruntergekommenen Motels an dem wenig befahrenen Highway lehnte ein Mann an der maroden Holzbalustrade. In langsamen Mahlbewegungen schob sein Kiefer einen alten Kaugummi hin und her, während er auf die Tür des Zimmers mit der Nummer 15 starrte, dem letzten im langgestreckten Gebäude.
Langsam hob er den Kopf und schaute blinzelnd in Richtung Osten, wo am Horizont ein Hubschrauber auftauchte. Die Kieferbewegungen wurden hektisch, als er beobachtete, wie der Helikopter näher kam, ein paar Sekunden über dem Motel kreiste und schließlich in der Nähe herunterging. Aus der Staubwolke tauchten mehrere unförmige, maskierte Gestalten auf.
Ein hochgewachsener Schwarzer kam auf den Mann mit dem Kaugummi zu.
“Special Agent Dan Mullen.” Er nickte knapp zur Begrüßung. “Haben Sie angerufen?”
Der Mann musterte ihn von oben bis unten, dann nickte er und schob seinen Kaugummi in die linke Backentasche. “Ja. Ich bin Allister McLaungh. Mir gehört der Laden hier.” Er deutete mit einem Kopfnicken auf das letzte Zimmer. “Sie hat das Zimmer dahinten. Hat sich nicht von der Stelle gerührt.”
Mullen sah auf die Uhr. Seit dem Anruf des Mannes waren drei Stunden vergangen. “Und Sie haben die Frau ganz sicher erkannt?”
Der Mann nickte. “Aber hundert pro. Das Bild kommt ja ständig im Fernsehen. Linda meint auch, dass sie es ist. Das ist meine Frau”, erklärte er, als er Mullens Stirnrunzeln sah.
“Wie lange ist sie schon hier?”
“Seit Dienstagabend. Hat bar bezahlt, für zwei Nächte.”
“Und wieso haben Sie erst heute Morgen angerufen?”
McLaungh kratzte sich am Kopf. “Weil’s Dienstag dunkel war und spät und die Frau ‘ne Baseballkappe und Sonnenbrille aufhatte. Heute Morgen ist Linda zu ihr rein, um das Zimmer sauber zu machen. Da lag sie im Bett und hat gepennt, Sie wissen schon, von den Tabletten. Linda denkt, die ist tot, und brüllt los wie am Spieß.” Er schielte zum Zimmer mit der Nummer 15. “Ich hin und seh die da liegen. Erst denk ich auch, die ist tot. Aber dann merk ich, dass sie noch atmet. Und dann erst merk ich, wer das ist.” Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. “Man kommt ja erst mal gar nicht auf die Idee, dass sich so eine bei einem einquartieren könnte.” Er kaute nervös an seinem Kaugummi. “Und dann auch noch das ganze Zimmer vollkotzt.”
“Hat sie sich seitdem irgendwie bemerkbar gemacht?”, fragte Mullen. “Haben Sie die Frau gesehen? Oder gehört?”
“Nee. Linda wollte ja den Notarzt rufen, Sie wissen schon, wegen den ganzen Tabletten, aber als ich dann diese Hotline angerufen habe, sagte man mir, wir sollten nur aus sicherer Entfernung die Tür beobachten und uns sofort melden, falls sie abhaut.” Er zuckte die Achseln. “Ist sie aber nicht.”
Mullen sah sich um. Keine fünfzig Meter von der Rezeption entfernt lag die Straße, auf der um diese Uhrzeit nur wenig Verkehr herrschte. Die Autofahrer, die am Motel vorbeikamen, blinzelten neugierig zu dem schwarzen Hubschrauber mit der Aufschrift FBI hinüber. Die Männer des SWAT-Teams waren inzwischen ausgestiegen und warteten auf seine Anweisungen. Sie trugen schwarze Kampfuniformen, kugelsichere Westen, Sturmhauben und Maschinenpistolen. Mullen war als Einziger in Zivil, doch er trug Jeans und ein dunkles T-Shirt, dazu Sportschuhe. Er wandte den Blick wieder dem Motel zu. Ein heruntergekommener, langgestreckter Bau mit einer schmalen Holzveranda, von der die Zimmertüren abgingen, daneben jeweils ein kleines Fenster. Die Rezeption befand sich am Ende des Gebäudes, der kleine Raum hinter dem großen Glasfenster war hell erleuchtet. Hinter dem Tresen erkannte er eine Frau mit blondierten Haaren, deren blauer Lidschatten bis auf den Parkplatz hinaus zu leuchten schien. Das musste Linda sein.
“Haben die Zimmer Fenster oder Ausgänge nach hinten raus?”, fragte er McLaungh. Der Mann schüttelte den Kopf.
“Haben Sie im Moment noch weitere Gäste?” Der Parkplatz war bis auf einen roten Pick-up vor dem Zimmer Nummer 15 leer, und Mullen konnte sich auch nicht vorstellen, wer sich in dieser gottverlassenen Gegend in so einer Absteige einmieten sollte. Der nächste Ort war dreißig Meilen entfernt, und es war ihm ein Rätsel, wieso der Laden überhaupt noch existierte. McLaungh schüttelte erneut den Kopf. Nein, keine weiteren Gäste.
Nachdenklich nagte Mullen an der Unterlippe. Wenn die Frau tatsächlich unter Medikamenteneinfluss stand und sie zudem das Überraschungsmoment auf ihrer Seite hatten, würden sie ein leichtes Spiel haben. Bisher war es im Zimmer Nummer 15 ruhig geblieben. Keine Bewegung hinter der fadenscheinigen, schief hängenden Gardine. Fast etwas zu ruhig. Schließlich zog er seine Pistole aus dem Schulterholster.
“Okay, Mr McLaungh, ich möchte, dass Sie jetzt zu Ihrer Frau in die Rezeption gehen und erst rauskommen, wenn ich es Ihnen sage, verstanden?” Der Mann sah aus, als wollte er protestieren, doch Mullen brauchte ihn nur einmal anzusehen und dabei die Augen leicht zusammenzukneifen. “Sie wissen doch, mit wem wir es hier zu tun haben.”
McLaungh schluckte und nickte. “Aber das mit der Belohnung, das stimmt doch, oder? Die kriegen wir doch?” Nervös blickte er zum letzten Zimmer.
Schweigend musterte Mullen den Mann vor sich. “Warten wir erst mal ab, ob Sie sich nicht vielleicht geirrt haben”, sagte er schließlich. Es wäre nicht der erste Fehlalarm, dachte er, ohne es laut auszusprechen. Ohne Widerrede verschwand McLaungh in der Rezeption.
Er nickte John Carter zu, dem Chef des SWAT-Teams. Mit aufmerksamen Blicken beobachteten die Männer das Motel und die Umgebung.
“Dick”, sagte Carter leise zu einem seiner Männer, “du sicherst das Gebäude mit deinen Männern von hinten.” Der Angesprochene nickte, und sechs schwarz gekleidete Gestalten schwärmten aus. “Rob, Bosbin, ihr geht rein. Möglicherweise hat sie Tabletten geschluckt und ist benebelt, aber verlasst euch lieber nicht darauf.” Zwölf weitere Männer rannten gebückt über den Parkplatz und bauten sich links und rechts von der Tür mit der Nummer 15 auf. Die Anführer der Gruppen nickten sich zu, Rob trat die Tür auf, sicherte, Bosbin stürmte und sicherte erneut. Das Zimmer war ein typisches Motelzimmer, mit einem schmalen Doppelbett und einer Kommode, die schon bessere Tage gesehen hatte. Auf einem Nachttisch standen eine halbvolle Whiskeyflasche und ein leeres Glas, daneben lagen mehrere Tablettenfläschchen. Auf dem abgewetzten Linoleum vor dem Bett war eine halb eingetrocknete Pfütze mit grau-rotem Erbrochenem, in dem man deutlich die weißen Tabletten sah.
Die Frau lag auf der Seite im Bett und rührte sich nicht, als die Männer lärmend den Raum stürmten. Sie war vollkommen angekleidet und nur bis zur Hüfte mit dem dünnen Laken zugedeckt. Die weiße Bluse und das Kinn waren dreckig, das Gesicht bleich und verschwitzt.
Vier Männer zielten mit den Waffen auf die Frau, als Rob sie unsanft an der Schulter packte und schüttelte. Sie stöhnte leise, wachte jedoch nicht auf. Er gab ihr ein paar Ohrfeigen, bis sie schließlich mühsam die Augen öffnete, doch offensichtlich begriff sie nicht, wie ihr geschah. Rob zerrte sie aus dem Bett und warf sie auf den Boden. Auf dem kalten Linoleum presste er ihr ein Knie in den Rücken und legte ihr Handschellen an.
Mullen betrat das Zimmer und sah sich um. Rob riss die Frau an den Haaren vom Boden hoch, doch sie hatte die Augen geschlossen und war weit davon entfernt, Widerstand zu leisten. Vielleicht ging es ihr wirklich so dreckig. Vielleicht hatte sie auch nur kapiert, dass das Spiel aus war.
Grelles Sonnenlicht fiel durch die offene Tür. Eine Strähne ihres dunkelblonden Haares hing ihr ins Gesicht, auf der rechten Wange zeichnete sich das Muster des zerknautschten Kissens ab. Von den Ohrfeigen, die Rob ihr verpasst hatte, waren die Wangen gerötet. Sie trug eine weiße Bluse und Jeans, ein Paar feste Schuhe stand vor dem Bett. Obwohl sie totenblass war, erkannte man, dass ihre Haut sonnenverbrannt war, als hätte sie sich in der letzten Zeit viel im Freien aufgehalten. Mullen starrte auf sie hinab. Die hohen Wangenknochen und die schmale Nase waren ihm schon auf dem Fahndungsfoto aufgefallen, dem einzigen jüngeren Bild, das es von ihr gab. Carter hatte inzwischen die Reisetasche durchsucht, die auf einem Stuhl hinten im Raum gelegen hatte. Jetzt pfiff er leise und hob triumphierend einen Führerschein in die Höhe.
Mullen beugte sich über die Frau. Er widerstand der Versuchung, sie ins Gesicht zu schlagen, sie zu würgen oder auch nur anzuspucken.
“Elsa Jones, ich verhafte Sie wegen Mordes in mindestens zwei Fällen. Sie haben das Recht zu schweigen und das Recht auf einen Anwalt. Alles, was Sie von jetzt an sagen, kann gegen Sie verwandt werden.”
Nur mit Mühe gelang es ihr, die Augen zu öffnen. Sie schien etwas sagen zu wollen, doch sie musste sich erst räuspern. “Aber …”, stieß sie schließlich hervor, doch da hatte Mullen das Zimmer bereits verlassen.