10
Bethany saß auf dem Badezimmerwaschtisch, während Jace sorgsam jede Schürf- und Schnittwunde an ihrem Körper untersuchte. Und er ging dabei mehr als gründlich vor. Sie war komplett nackt, und er ließ nicht einen Quadratzentimeter ihrer Haut außer Acht.
Sein Mund war zu einem schmalen Strich zusammengepresst, doch er gab keinen Kommentar ab, während er sich um ihre Blessuren kümmerte. Ihr war noch immer kalt bis auf die Knochen. Sie wusste nicht, ob sie sich je wieder erwärmen würde.
Nachdem sie mehrere Minuten fröstelnd so zugebracht hatte, stieß Jace eine Verwünschung aus – was er in Verbindung mit Bethany regelmäßig tat – und hob sie vom Waschtisch.
»Ich werde die Dusche anstellen. Du musst dich aufwärmen. Wenn du wieder rauskommst, werde ich deine Wunden verbinden. Ich denke nicht, dass einer der Schnitte genäht werden muss, aber ich werde eine antibiotische Salbe auftragen, damit sie sich nicht entzünden. Ich werde uns was zum Essen machen, während du duschst.«
Er wartete nicht auf ihre Zustimmung. Das wäre auch recht absurd gewesen, nachdem er sie bisher nicht ein einziges Mal um ihre Meinung gefragt hatte. Er ging zur Dusche, drehte sie auf, dann kam er zu Bethany zurück, die noch immer ohne einen Fetzen am Leib im Bad stand. Dabei hatte sie geglaubt, dieser Tag könne nicht noch bizarrer werden.
Jace strich mit der Hand ihren Arm hinauf bis zu ihrer Schulter und drückte sie beruhigend, bevor er das Bad verließ. Bethany lehnte sich gegen den Waschtisch, dann drehte sie sich um und betrachtete sich im Spiegel. Sie sah aus wie das Leiden Christi. Ausgelaugt. Verhärmt. Besorgt. Verängstigt.
Ihr kamen noch eine Million anderer Ausdrücke in den Sinn.
Sie schloss die Augen, dabei schwankte sie vor Kraftlosigkeit und musste sich am Waschtisch festhalten, um sich abzustützen. Zumindest für heute Nacht war sie in Sicherheit. Obwohl sie Jace’ Motive nicht kannte, war sie zutiefst erleichtert, dass er sie hierhergebracht hatte. Wo niemand sie finden konnte. Noch nicht einmal Jack.
Eine Galgenfrist. So kurz sie auch währen mochte, Bethany war dankbar dafür.
Sich bewusst werdend, dass sie Warmwasser vergeudete, trat sie unter die Dusche, dann seufzte sie zufrieden, als der warme Regen über ihren geschundenen Körper strömte. Es war die pure Glückseligkeit. Das Wundervollste, was sie je gefühlt hatte.
Sie legte den Kopf in den Nacken und ließ das Wasser über ihr Gesicht und ihren Hals fließen. Ihre Wunden brannten unter dem warmen Strahl, trotzdem achtete sie peinlich genau darauf, sämtliche Schnitte in ihrer Haut zu reinigen.
Sie blieb in der Dusche, bis die ausgedehnte Wärmezufuhr ihren Körper matt und schwer machte. Nachdem sie ihre Haare ein letztes Mal ausgespült hatte, drehte sie widerstrebend den Hahn zu und trat heraus.
Warme Luft strich über ihre Haut, was sie überraschte. Sie schaute nach oben und stellte fest, dass Jace den Heizstrahler im Bad angeschaltet hatte, sodass sie nach ihrer halbstündigen Dusche von molliger Behaglichkeit empfangen wurde. Er hatte himmlische Handtücher, so groß, weich und flauschig, dass sie sich wie von einer Wolke eingehüllt fühlte. Sie konnte sich fast doppelt darin einwickeln.
Es mochte sündhafte Verschwendung sein, aber sie benutzte sogar zwei Handtücher, eins für ihren Körper, das andere als Turban für ihre Haare. Es war ein frivoler Luxus, den sie in vollen Zügen auskostete.
Bethany blinzelte verwirrt, als sie die Wechselkleidung auf dem Waschtisch entdeckte, die dort zuvor noch nicht gelegen hatte. Außerdem hing ein dicker Bademantel an der Türinnenseite. Es gab sogar ein Paar Hausschuhe. Der Mann hatte an alles gedacht.
Ihr Blick wanderte zurück zu den Klamotten, und sie runzelte die Stirn. Wie kam es, dass er Frauenkleidung in seinem Apartment aufbewahrte?
Sie nahm die Jeans und das T-Shirt und erkannte sofort, dass beides zu groß war. Nicht viel, und tatsächlich hätten ihr die Sachen vor etwa einem Jahr noch gepasst. Sie war damals nicht so schlank, nicht so dünn gewesen, sondern hatte mehr Kurven, eine echte Figur gehabt.
Ihr Busen war ihr zwar geblieben, viel mehr aber auch nicht. Sie hatte kaum Hüften, keinen nennenswerten Hintern. Der Gewichtsverlust hatte ihre Statur kantig gemacht. Das Leben auf der Straße war hart. Man alterte vorzeitig.
Nachdem sie sich die Zeit genommen hatte, sich vollständig abzutrocknen, zog sie das Höschen an, das zwischen der Jeans und dem T-Shirt steckte. Es war ihr peinlich, die Unterwäsche einer anderen Frau zu borgen, zudem gab es keinen Büstenhalter, aber vermutlich machte es sowieso keinen Unterschied. Sie selbst besaß nur zwei, und beide fielen halb auseinander. Der, den sie zuvor ausgezogen hatte – vielmehr hatte Jace das getan –, war schmutzig und zerrissen. Er war nicht mehr zu retten.
Außerdem war es ja nicht gerade so, als wäre Jace mit ihren Brüsten nicht bestens vertraut. Sie ohne BH zu sehen würde ihn nicht schockieren.
Bethany zog sich das T-Shirt über den Kopf. Es fiel sehr locker und reichte ihr bis über die Hüften, dabei spannte es noch nicht mal über ihren Brüsten, was bedeutete, dass die Frau, der es eigentlich gehörte, besser bestückt sein musste als sie.
Nachdem sie in die Jeans geschlüpft war, nahm sie das Handtuch von ihrem Kopf und kämmte sich mit den Fingern die Haare, um die feuchten, verstrubbelten Flechten zu entwirren. Es gelang ihr nur mäßig, aber sie wollte nicht in Jace’ Schubladen nach einer Bürste stöbern.
Bethany atmete tief durch, straffte die Schultern und wandte sich der Tür zu. Mit der Hand am Knauf zögerte sie wie ein furchtsames Häschen. Die Vorstellung, Jace gegenüberzutreten, machte ihr höllische Angst. Nicht weil sie glaubte, dass er ihr wehtun würde, sondern weil sie wusste, dass sie ihm nicht annähernd gewachsen war. Schlimmer noch, sie war sich noch nicht mal sicher, ob sie ihm gewachsen sein wollte. Es war wesentlich einfacher, ihm das Kommando zu überlassen. Dass jemand sich ihrer annahm, war derart unvertrautes Terrain für sie, dass sie der Verlockung kaum widerstehen konnte. Es war wie die sprichwörtliche Karotte, die vor der Nase des Esels baumelte.
Sie fuhr zusammen, als die Tür gegen ihre Hand vibrierte.
»Bethany? Bist du fertig?«
Sie schluckte schwer, öffnete die Tür und fand sich Jace gegenüber, der nur einen Schritt entfernt stand. Er ließ den Blick über ihren Körper gleiten und runzelte die Stirn.
»Du musst die Jeans wieder ausziehen. Ich wollte deine Wunden verbinden, bevor du dich ankleidest.«
»Das hatte ich vergessen«, entgegnete sie schüchtern. »Ich dachte, du willst, dass ich mich anziehe, weil du mir die Sachen hingelegt hattest.«
»Ist nicht weiter schlimm. Komm mit ins Wohnzimmer. Wir erledigen es dort.«
Jace legte die Hand um ihren Ellbogen, dann geleitete er sie aus dem Bad zurück in sein Schlafzimmer und weiter in den weiträumigen Wohnbereich.
Die Panoramafenster boten einen sagenhaften Ausblick auf die Stadt.
»Zieh die Jeans aus«, wies er sie an. »Dann mach es dir auf der Couch bequem. Das Essen ist fast fertig. Sobald ich deine Wunden vollständig versorgt habe, können wir essen.«
In dem Wissen, dass jeder Widerspruch zwecklos war, knöpfte Bethany die Jeans auf und streifte sie von den Beinen.
»Ich weiß, dass sie zu groß ist«, kommentierte Jace, als Bethany sich die Hose von den Füßen zog. Er fasste nach ihrer Hand und zog sie daran nach unten, bis sie neben ihm saß. »Morgen ziehen wir los und besorgen dir alles, was du brauchst. Und das Erste wird eine warme Jacke sein. Draußen herrschen eisige Temperaturen, und du bist ohne vernünftige Kleidung quer durch die Stadt gelaufen. Dieser Mist hat jetzt ein Ende.«
Sein Tonfall war stählern, doch die unterschwellige Besorgnis, die in seinen Worten mitschwang, brachte seine tief verwurzelte Ruppigkeit ein wenig zum Bröckeln. Er sprach wie jemand, der sich wirklich für ihr Wohlergehen interessierte.
Bethany schüttelte den Gedanken hastig ab, denn diese Art von Illusion stellte ein gefährliches Terrain dar. Sie hatte auf die harte Tour gelernt, dass sie sich auf absolut niemanden außer auf sich selbst verlassen konnte. Auch wenn sie sich selbst im Stich gelassen hatte. So wie es alle anderen auch getan hatten.
Jace beugte sich zum Couchtisch, auf dem ein kleiner Erste-Hilfe-Kasten stand. Es herrschte lange Minuten Stille, während er Salbe auf jede einzelne Wunde strich, bevor er die größeren mit Verbandsmull und Klebeband, die kleineren mit Pflastern versorgte.
Noch bevor Bethany begriff, was er vorhatte, drängte er sie rücklings aufs Sofa und schob ihr T-Shirt hoch.
»Ich bin da nicht verletzt!«, protestierte sie vehement, als seine Hand über ihren Bauch strich.
Seine Miene war grimmig, als er sie inspizierte. »Nein, aber du hast blaue Flecken. Was in Gottes Namen ist da draußen passiert, Bethany? Wer hat dir das angetan?«
Jace klang so zornig, dass sie ängstlich zurückzuckte. Es war ein Automatismus. Reiner Selbstschutz.
Ein leises Zischen drang durch seine zusammengebissenen Zähne. »Gottverdammt noch eins, Bethany. Du weißt, dass ich dir nicht wehtun werde. Das würde ich niemals tun. Aber ich will wissen, welcher Hurensohn das getan hat.«
»D-du k-klingst so w-wütend.«
»Ja, verdammt. Ich bin wütend! Aber nicht auf dich, Baby.« Seine Stimme wurde weich, als er sie Baby nannte, woraufhin auch Bethany sich wieder ein wenig entspannte. »Ich bin wütend auf den Dreckssack, der sich an dir vergriffen hat. Und du wirst mir genau berichten, wie das passiert ist.«
Sie wurde blass, und ihre Augen weiteten sich.
Und dann, als sie schon dachte, er könne sie nicht noch mehr überraschen, beugte er sich über sie und senkte den Kopf auf ihre Rippen. Er küsste jeden einzelnen Bluterguss, wobei er seine Lippen so vorsichtig auf ihre Haut drückte, dass sie die Berührung kaum spürte.
Lieber Gott, wie sollte sie diesem Mann jemals widerstehen?
»Brauchst du etwas gegen die Schmerzen?«, fragte er.
»Es geht mir gut«, wisperte sie. »Ich bin nur hungrig.«
Jace hob augenblicklich den Kopf, und sein Mund wurde wieder schmal. »Wie lange hast du schon nicht mehr gegessen? Und lüg mich nicht an.«
Sie schluckte hörbar, machte jedoch keine Ausflüchte. »Drei Tage.«
»Allmächtiger.«
Er blähte die Wangen auf und wandte das Gesicht ab, als müsse er sich erst sammeln, ehe er sie wieder ansehen konnte. Als er es schließlich tat, loderte heller Zorn in seinen Augen, und er schien kurz davor zu sein zu explodieren.
»Gib mir eine Minute«, murmelte er.
Jace atmete bedächtig durch die Nase ein und wieder aus, bevor er von der Couch aufstand. Er hielt ihr die Hand hin und wartete, dass sie ihre hineinlegte und ebenfalls aufstand. Sie ließ sich von ihm auf die Beine helfen, dann bückte er sich und hob ihre Jeans auf. Er drückte ihre Finger auf seinen Arm, damit sie sich abstützen konnte, während sie mit den Füßen in die Hosenbeine schlüpfte.
Nachdem er die Knöpfe geschlossen hatte, nahm er Bethanys Hand und führte sie in die Küche. Das ganze Apartment war offen gestaltet, sodass ein Zimmer direkt ins nächste überging. Das Esszimmer, besser gesagt der Essbereich, grenzte an die Küche, seitlich befand sich das Wohnzimmer. Es gab eine Kücheninsel mit integrierter Bar, die es demjenigen, der kochte, ermöglichte, sowohl das Ess- als auch das Wohnzimmer zu überblicken.
Jace hob Bethany auf den hochlehnigen Barhocker, dann stellte er sich hinter das Kochfeld, wo der Inhalt dreier Pfannen vor sich hinschmurgelte. Bethany beobachtete fasziniert, wie er die Pasta abgoss, bevor er sie in die Pfanne mit der Sauce gab. Er schwenkte sie fachmännisch, fügte Gewürze hinzu und verteilte sie auf zwei Tellern. Zuletzt nahm er eine sautierte Hähnchenbrust aus der dritten Pfanne, schnitt sie in dünne Scheiben und arrangierte sie über den Nudeln.
»Voilà«, verkündete er, als er sie ihr über den Tresen reichte.
»Ich bin beeindruckt«, gestand sie aufrichtig. »Es sieht lecker aus und duftet himmlisch. Ich hätte nicht gedacht, dass du kochen kannst.«
Jace hob eine Braue. »Wieso denn nicht?«
Sie fühlte, wie ihr die Röte in die Wangen stieg. »Ich begegne nicht oft wohlhabenden, begehrten Junggesellen, die selbst kochen.«
Jace lachte. »Ich habe meine jüngere Schwester aufgezogen, und damals konnten wir es uns nicht leisten, auswärts zu essen oder jemanden zu bezahlen, der das Kochen übernimmt. Ich war nur ein armer College-Student, der ums Überleben kämpfte.«
»Wo waren deine Eltern?«
Ein kummervoller Ausdruck huschte über seine Augen. »Sie kamen bei einem Autounfall ums Leben, als Mia sechs war.«
Bethany zog nachdenklich die Stirn kraus. »Du musst ein gutes Stück älter sein als sie, wenn du bereits auf dem College warst.«
»Vierzehn Jahre«, bestätigte er. »Mia war gewissermaßen ein Unfall. Sie wurde geboren, als meine Mutter die Vierzig schon überschritten hatte. Mich bekamen sie ziemlich jung, und sie hatten die Familienplanung eigentlich abgeschlossen.«
»Ich finde es ganz schön bewundernswert, dass du deine Schwester großgezogen hast«, sagte sie leise.
Jace zuckte mit den Achseln. »Was hätte ich sonst tun sollen? Ich hätte sie niemals im Stich gelassen. Sie ist meine einzige Familie.«
Mit seinem eigenen Teller in der Hand umrundete er die Kochinsel und setzte sich auf den Hocker neben ihr. Er bemerkte, dass sie ihr Essen noch immer nicht angerührt hatte, und runzelte die Stirn. »Iss, Bethany.«
Sie stach die Gabel in die köstlich aussehende Pasta und inhalierte tief, als sie den Bissen zum Mund führte. Es duftete himmlisch.
Als die Nudeln ihre Geschmacksknospen berührten, schloss Bethany genüsslich seufzend die Augen.
»Gut?«
»Göttlich«, sagte sie.
Jace stand auf, ging auf die andere Seite und holte zwei Gläser vom Tresen. Er stellte eins mit Orangensaft vor sie hin, und ihr wurde ganz weich ums Herz. Er wusste noch, dass sie beim letzten Mal um O-Saft gebeten hatte.
Sie genoss jeden Bissen und jeden Schluck, bis sie das Gefühl hatte zu platzen. Mit einem zufriedenen Ächzen schob sie den Teller von sich weg. »Danke, Jace. Das war großartig.«
Er schaute sie einen langen Moment schweigend an. »Ich mag es, wie du meinen Namen sagst.«
Bethany zog die Brauen zusammen. Was sollte sie darauf entgegnen?
In dem Wissen, dass sie viel zu bereden hatten – sie musste ihm unbedingt klarmachen, dass sie auf keinen Fall in das Apartment seiner Schwester ziehen würde! –, verschränkte sie nervös die Finger und guckte zu ihm hoch.
»Jace?«, begann sie sanft. »Wir müssen uns unterhalten.«
Die Lippen fest zusammengepresst, nickte er. »Das werden wir tun, darauf kannst du deinen süßen Hintern verwetten. Lass uns zurück ins Wohnzimmer gehen. Es gibt Fragen, auf die ich noch immer keine Antwort bekommen habe.«
Sie blinzelte überrascht. Aber noch bevor sie ihm mitteilen konnte, dass sie das Reden zu übernehmen gedachte, nötigte er sie aufzustehen, dann legte er die Hand an ihren Rücken und schob sie ins Wohnzimmer.
Sobald sie auf der Couch saß, zündete er den Kamin an. Bethany seufzte behaglich, als die Flammen hochzüngelten. Der Feuerschein verlieh dem Raum eine unglaublich heimelige Atmosphäre. Dann schüttelte sie den Kopf über die Absurdität des Gedankens. Was wusste sie schon von heimelig? Ein Heim war das, was man sich schuf, und sie und Jack hatten ein paar wirklich verwahrloste Orte zu ihrem Heim gemacht.
Niedergeschlagen dachte sie an die Quartiere, genauer gesagt die Absteigen, in denen sie im Lauf der Jahre gehaust hatten. Hin und wieder war es ihr gelungen, einen längerfristigen Job zu ergattern, der es ihnen ermöglichte, in einem schäbigen Apartment-Hotel unterzukommen. Es war nicht viel gewesen, trotzdem hatte sie es genossen, eine feste Unterkunft zu haben, die sie nicht je nach Belegung beziehen konnten oder verlassen mussten.
»Worüber schüttelst du den Kopf?«, fragte Jace stirnrunzelnd.
Bethany schaute hoch und stellte fest, dass er sich neben sie auf die Couch gesetzt hatte. Er war so nah, dass sie ihn hätte berühren können. Sie spürte, wie seine Hitze und sein Duft sie einhüllten und sie bis ins Innerste wärmten.
Ohne an die Konsequenzen zu denken, antwortete sie instinktiv wahrheitsgemäß.
»Ich dachte gerade, dass das Feuer das Zimmer so heimelig macht, dann wurde mir bewusst, wie lächerlich dieser Gedanke ist, nachdem ich nichts darüber weiß, wie sich ein echtes Heim anfühlt.«
Erst als sie die Traurigkeit in ihrer Stimme hörte, begriff Bethany, dass sie von Herzen kam. Sie biss sich auf die Lippe, als sie erkannte, dass sie besser nichts gesagt hätte.
Jace sah aus, als hätte man ihn ins Gesicht geschlagen. Dann stieß er eine weitere zornige Verwünschung aus, und Bethany merkte, wie ihr ein Schauder über den Rücken lief.
Sie zuckte zusammen, als er die Hand ausstreckte, um ihre Wange zu berühren, dann senkte er sie zu ihrer Hüfte, wo das T-Shirt ihre Blutergüsse verdeckte. Trotzdem fand er die Stelle, die am meisten wehtat, und legte die Handfläche darauf.
»Wer hat dir das angetan, Bethany? Was zur Hölle ist dort draußen geschehen? Und lüg mich nicht an. Ich will die ganze beschissene Wahrheit hören.«
Ihre Augen wurden groß, und sie schnappte nach Luft. Sie konnte es ihm nicht gestehen. Wie auch? Jace würde sie so schnell rauswerfen, dass ihr schwindlig würde. Aber war es nicht das, was sie wollte? Nämlich zu gehen? Er konnte sie nicht zwingen zu bleiben. Doch noch während sie das dachte, kamen ihr Zweifel. Er wirkte so … autoritär.
Stumm und erwartungsvoll schaute Jace sie unverwandt an. Er würde sie nicht einfach vom Haken lassen.
»Das kann ich dir nicht sagen«, antwortete sie mit erstickter Stimme. »Bitte frag mich nicht danach, Jace.«
Sein Mund wurde noch schmaler, und in seinen Augen funkelte Zorn.
»Lass uns ein paar Dinge klarstellen. Ich weiß schon jetzt eine Menge über dich. Du bist obdachlos und hast eine Vorstrafe wegen Drogenbesitzes. Du hattest seit drei Tagen nichts gegessen. Du hast kein Geld, keine Bleibe, und irgendjemand hat dich brutal misshandelt.«
Jegliche Farbe wich aus ihrem Gesicht. Ihr Magen verknotete sich schmerzhaft, als Scham sie überwältigte und ihr die Kehle zuschnürte. Sie sah ihn entsetzt an, das Gefühl der Demütigung war so schneidend, dass sie am liebsten losgeheult hätte.
Jace hob die Hand von ihrer Hüfte zu ihrem Gesicht und strich zärtlich mit dem Daumen über ihren Wangenknochen. Seine Miene wurde weich, als er ihre Erschütterung registrierte.
»Bethany«, sagte er ruhig. »Das alles war mir bereits bekannt, als ich dich aus dem Asyl geholt habe. Beweist dir das nicht irgendwas?«
»Ich weiß nicht«, flüsterte sie, unfähig, seinem Blick länger standzuhalten.
Sie senkte den Kopf und schloss die Augen. Sie kam sich so … unwürdig vor, und sie hasste dieses Gefühl. Hasste es aus tiefster Seele. Sie hatte sich ihr Leben lang als unwürdig und nicht liebenswert betrachtet. Als nicht gut genug.
»Sieh mich an«, verlangte er.
Als sie zögerte, hob er ihr Kinn an, bis ihr Gesicht seinem zugewandt war. Doch ihre Augen waren noch immer geschlossen.
»Sieh mich an, Baby«, wiederholte er.
Sie gehorchte, doch der Ansturm ihrer Tränen verschleierte ihr die Sicht.
»Wein doch nicht«, raunte er. »Es beweist, dass es für mich keinen Unterschied macht. Ich wusste das über dich, trotzdem bin ich zu dem Asyl gefahren. Ich habe dich zwei gottverdammte Wochen lang gesucht und jedes Obdachlosenheim, das ich auftun konnte, überprüft, in der Hoffnung, dich dort zu entdecken. Als ich dich nirgendwo finden konnte, bin ich fast durchgedreht, weil ich wusste, dass du irgendwo dort draußen auf der Straße bist. Halb erfroren, hungrig und allein. Ohne dass ich dich beschützen konnte. Ohne dass ich sicherstellen konnte, dass du genug zu essen hast. Ohne wenigstens eine Jacke, um dich warm zu halten.«
Obwohl er ihr untersagt hatte zu weinen, kullerte eine Träne über ihre Wange und verteilte sich auf seiner Hand. Jace beugte sich vor und küsste ihr Gesicht, dann strichen seine Lippen nach oben und trockneten die feuchte Spur.
»Und jetzt sag mir, wer dich so zugerichtet hat. Ich will alles erfahren. Ich werde mich um dich kümmern, Bethany, aber ich muss wissen, worauf ich mich hier einlasse.«
Sie schüttelte hartnäckig den Kopf. »Das geht nicht, Jace. Ich werde nicht in die Wohnung deiner Schwester ziehen. Du kannst nicht einfach in mein Leben platzen und das Kommando übernehmen. So läuft das einfach nicht.«
Ungeduld funkelte in seinen dunklen Augen. »Das Leben läuft so, wie man es sich einrichtet. Und zur Hölle damit, dass ich nicht das Kommando übernehmen kann. Ohne deine Gefühle verletzen zu wollen, Baby, aber es ist dir nicht gerade gut gelungen, auf dich selbst aufzupassen. Doch mit mir wird sich das alles ändern.«
»Aber wieso nur?«, entfuhr es ihr. »Ich verstehe dich einfach nicht. Ich war ein One-Night-Stand für dich und Ash. Ich kann das nicht noch einmal tun. Du warst wie ein Rückfall für mich. Ich kann diesen Weg nicht von Neuem beschreiten. Ich habe mich zu hart abgestrampelt, um mir diese Existenz zu erkämpfen.«
Am Ende ihres Ausbruchs zitterte sie und fühlte sich tief beschämt, weil ihr all das herausgerutscht war. War es nicht schon schlimm genug, dass er von ihrer Vorstrafe wusste? Nun würde er sie nicht nur für eine Drogenabhängige, sondern auch noch für eine Hure halten.
»Welche Existenz?«, fragte er barsch. »Eine Existenz ohne ein Zuhause? Ohne etwas zu essen?«
»Eine Existenz, in der ich mir meine Selbstachtung zurückerobert habe.«
Bereit, aus der Tür zu stürzen, rutschte Bethany ans Ende der Couch. Jace schien genau zu wissen, was sie vorhatte. Er bewegte sich schneller, als sie blinzeln konnte, dann saß er wieder direkt neben ihr und schlang den Arm um ihre Taille. Nahm sie gefangen. Sie würde nirgendwo hingehen.
»Fang an zu erzählen. Und zwar alles, Bethany. Sag mir, was du mit Rückfall meinst. Danach hörst du auf, der Frage auszuweichen, die ich dir jetzt schon viermal gestellt habe. Ich will wissen, wer dich angegriffen hat.«
Da sie nicht wusste, was sie sonst tun sollte, lehnte sie sich an seine Brust und barg den Kopf an seiner Schulter. Das schien ihn zu überraschen, doch dann nahm er sie fest in die Arme und hüllte sie mit seiner Kraft und seiner Wärme ein. Er rieb mit der Hand über ihren Rücken und küsste ihr Haar.
Dabei wartete er. Jace saß da und schmiegte sie an sich, bewahrte jedoch Schweigen, als ob er spüren würde, wie sie den nötigen Mut zu sammeln versuchte, um ihm zu sagen, was er wissen wollte.
Es war absolut ausgeschlossen, dass er sie noch begehren würde, sobald sie ihm alles gestanden hätte. Ein Teil von ihr war erleichtert. Damit wäre das Thema, dass er die Kontrolle übernehmen und sich in ihr Leben einmischen wollte, passé. Doch ein viel größerer Teil von ihr war am Boden zerstört.
Jace war die pure Versuchung. Er tat und sagte exakt die richtigen Dinge. Dinge, die ihr das Herz wärmten und, schlimmer noch, der einen Sache neues Leben einhauchten, die sie schon vor langer Zeit begraben hatte: der Hoffnung.
»Es ist eine wirklich lange Geschichte«, murmelte sie in sein Hemd.
»Ich habe nichts anderes vor, Baby. Uns steht die ganze Nacht zur Verfügung. Ich bin hier und höre dir zu.«
Gott, er war zu gut, um wahr zu sein. Bethany schloss die Augen und sog seinen Duft in sich auf. Dann endlich löste sie sich von ihm.
»Lass mich dir eine Decke holen. Anschließend machen wir es uns hier vor dem Feuer auf der Couch gemütlich. Einverstanden?«
Bethany atmete tief durch und wagte den Sprung ins Ungewisse. »Einverstanden.«