9
Jace wies seinen Chauffeur an, zu dem Asyl zu fahren und dabei auf die Tube zu drücken. Er konnte sich nicht sicher sein, ob Bethany dort bleiben würde, und er wollte kein Risiko eingehen, sie wieder zu vepassen. Nicht, nachdem sie ihm schon einmal entschlüpft war.
Kate hatte gesagt, dass Bethany verletzt sei, und durch seinen Kopf flimmerten Bilder, von denen kein einziges hübsch war. Sie hatten das Thema nicht näher erörtert, weil Jace zu sehr darauf gebrannt hatte, zu Bethany zu gelangen. Wie zur Hölle hatte sie sich die Verletzungen zugezogen?
Eine Frau, die allein auf der Straße lebte … Bethany könnte auf tausenderlei Arten verletzt worden sein, und jede einzelne bewirkte, dass sich ihm vor Angst der Magen zusammenzog.
Als seine Limousine vor dem Heim hielt, befahl er seinem Fahrer, zu warten. Es würde hoffentlich nicht lange dauern, aber er stellte sich auf alles ein.
Der eisige Wind biss sich durch seinen Mantel, während Jace zum Eingang rannte. Er hatte kaum die Tür aufgezogen, als er auch schon nach Bethany Ausschau hielt. Dann endlich entdeckte er sie im hinteren Teil des Raums, abseits von den anderen Frauen. Sie kauerte auf einem Stuhl und wirkte blass und verloren. Trotzdem jubelte sein Herz bei ihrem Anblick, so erleichtert war er darüber, sie gefunden zu haben. Dann bemerkte er, dass ihre Hose an den Knien und an einer Seite zerrissen war. Außerdem sah er das Blut an ihrer Kleidung und die Schürfwunden an ihren Ellbogen. Was war ihr bloß zugestoßen?
Bevor er zu ihr gehen konnte, hielt Kate ihn mit besorgt gerunzelter Stirn auf.
»Werden Sie sie mitnehmen, Mr Crestwell?«
»Ja, das werde ich«, bestätigte er. »Sie kommt mit mir. Ich werde mich gut um sie kümmern. Versprochen.«
Kates Züge entspannten sich. »Da bin ich froh. Ich mache mir nämlich Sorgen um sie. Um sie alle.«
Darauf brennend, zu Bethany zu gelangen und festzustellen, wie schlimm sie verwundet war, setzte er einen Fuß nach vorn, doch Kate hielt ihn wieder auf.
»Ich möchte Ihnen danken«, sagte sie mit sanfter Stimme. »Für alles. Die Heizung. Die Lebensmittel. Die großzügige Spende. Sehen Sie sich um, Mr Crestwell. Dank Ihnen haben all diese Frauen einen warmen Schlafplatz und etwas zu essen.«
Ihre Dankbarkeit war Jace unangenehm, darum nickte er nur kurz, bevor er zu Bethany ging. Ihre Augen waren geschlossen. Sie schien im Sitzen zu schlafen. Jace nutzte die Gelegenheit, um sie genauer in Augenschein zu nehmen, dann fluchte er über das, was er sah.
Bethany wirkte noch dünner, falls das überhaupt möglich war. Sie war blass und hatte dunkle Schatten unter den Augen.
Und sie litt Schmerzen.
Leise kniete er sich vor sie hin. Sobald sie seine Gegenwart spürte, riss sie die Augen auf und zuckte mit panischem Blick zurück.
»Es ist alles gut, Bethany«, murmelte er beschwichtigend.
Sie starrte ihn an, und Jace war froh zu sehen, dass ihre Angst verebbte und einem Ausdruck der Verwirrung wich.
»Jace?«
Sein Name kam als zögerliches Flüstern heraus, fast so, als könne sie nicht glauben, dass es wirklich er war, der da vor ihr kniete. Dann setzte sie sich gerade auf und drehte die Handflächen nach unten, um die Kratzer und das Blut zu verstecken.
»Was tust du hier?«, fragte sie mit zitternder Stimme.
Seine Miene verhärtete sich, und er stand auf. Sie folgte der Bewegung mit den Augen, als er sich ohne ein Wort nach unten beugte und ihren federleichten Körper vom Stuhl hob.
Er schmiegte sie schützend an seine Brust, fest entschlossen, sie von nichts und niemandem mehr verletzen zu lassen. Mit einem erschrockenen Keuchen versteifte Bethany sich in seinen Armen.
»Was tust du?«, wiederholte sie.
»Ich bringe dich von hier fort«, beschied er ihr knapp.
Bethany setzte zu einem ernsthaften Protest an, und Jace fing Kates besorgten Blick auf. Er nickte der älteren Frau beschwichtigend zu und drückte Bethany noch fester an sich.
»Genug«, befahl er zähneknirschend. »Kämpf nicht gegen mich an. Du beunruhigst Kate. Ich werde dir nicht wehtun. Ich habe versprochen, mich um dich zu kümmern. Mach keine Szene. Willst du die anderen Frauen erschrecken?«
Bethany biss sich auf die Lippe und gab ihren Widerstand auf. Dabei schüttelte sie langsam den Kopf. »Nein«, wisperte sie. »Aber du kannst mich nicht einfach hier raustragen, Jace.«
»Das wollen wir doch mal sehen.«
Er stieß die Tür mit der Schulter auf, und der kalte Luftschwall bewirkte, dass Bethany sofort zu frösteln begann. Jace fluchte leise, wütend darüber, dass sie nicht besser vor der Kälte geschützt war. Ihre Kleidung war kein bisschen für diese Temperaturen geeignet.
»Du machst mir Angst.«
Ihre Stimme war nur ein Hauch, und er spürte, wie sie in seinen Armen bibberte. Ob vor Kälte oder tatsächlich vor Angst, konnte er nicht sagen.
»Ich werde dir nichts tun, das weißt du ganz genau.«
Sie schaute mit nervöser Miene zu ihm hoch. Ohne sich um die neugierigen Blicke der Passanten zu kümmern, blieb Jace am Randstein stehen, während sein Wagen vorfuhr.
»Woher soll ich das wissen?«
Er presste die Lippen zusammen. »Wenn du das immer noch nicht begriffen hast, dann wird es allerhöchste Zeit.«
Das Auto hielt vor ihnen an, sein Chauffeur stieg eilig aus und öffnete ihm den Schlag. Jace beugte sich ins Innere und setzte Bethany hinein, dann glitt er neben sie. Ihr entschlüpfte ein wohliges Seufzen, als ihr Körper mit den beheizten Sitzen in Kontakt kam.
Einen Moment später scherte der Wagen in den Verkehrsstrom ein, und Stille senkte sich über die Rückbank.
»Wohin fahren wir?«, fragte sie schließlich mit noch immer zittriger Stimme.
Jace nahm ihre Hände und drehte die Innenseiten nach oben, um die Schnitte zu inspizieren.
»Was ist passiert, Bethany?«
Sie wurde so still neben ihm, dass er hinsehen musste, um sich zu vergewissern, dass sie noch atmete. In ihren Augen stand eine solche Traurigkeit, eine solche Hoffnungslosigkeit, dass ihm das Herz stockte. Und da wusste er ohne jeden Zweifel, dass er das Richtige getan hatte. Unabhängig davon, gegen welche inneren Dämonen sie ankämpfte, unter welchen Umständen sie lebte oder gelebt hatte, es war richtig gewesen, sie zu suchen und mitzunehmen.
Bethany entzog Jace ihre Hände und drehte das Gesicht zum Fenster. Was um alles in der Welt hatte er vor? Wie hatte er sie aufgespürt? Warum hatte er sie überhaupt gesucht?
Ihn in dem Asyl zu sehen, war ein Riesenschock gewesen, der sie jedes vernünftigen Gedankens beraubt hatte. Sie war zu kaum mehr als einem symbolischen Protest fähig gewesen, als er sie dort rausgetragen und in sein Auto verfrachtet hatte. Fiel das nicht unter Kidnapping?
»Bethany, sieh mich an.«
Seine Stimme klang freundlich, doch der Befehlston darin war unmissverständlich. Bethany konnte nicht anders, als zu gehorchen. Sie wandte ihm den Kopf zu und spähte durch ihre Wimpern zu ihm hoch. Ihr stockte der Atem.
Jace war ein wirklich faszinierender Mann. Er wirkte so düster, so schwermütig. Gleichzeitig strahlte er Macht aus. Nur ein Dummkopf würde seine natürliche Autorität nicht spüren. Er verströmte sie aus jeder Pore.
Obwohl sie instinktiv wusste, dass eine Frau sich bei ihm stets sicher fühlen konnte, war sie in diesem Moment das reinste Nervenbündel. Denn der Ausdruck in seinen Augen suggerierte, dass sie sich lieber in Acht nehmen sollte, auch wenn sie nicht wusste, wovor.
Jace würde sie nicht verletzen. Davon war sie überzeugt. Allerdings konnte man nicht nur auf körperliche Weise verletzt werden.
»Hab keine Angst vor mir.«
Bethany schürzte die Lippen. »Das ist nichts, was du einfach befehlen kannst. Jemandem vorzuschreiben, sich nicht vor dir zu fürchten, verhindert nicht, dass er es trotzdem tut!«
Sein Blick wurde erbittert. »Habe ich dir irgendein Indiz dafür geliefert, dass ich dir wehtun will?«
»Du hast mich gerade gegen meinen Willen aus dem Asyl verschleppt! Was du getan hast, kommt einer Entführung gleich! Wieso warst du überhaupt dort, Jace? Wie und warum hast du mich aufgespürt? Ich begreife es nicht.« Ihre Worte sprudelten viel hitziger aus ihr heraus, als sie beabsichtigt hatte. Die Schrillheit in ihrer Stimme verriet ihre Panik.
Er legte die Finger an ihre Wange und übte gerade so viel Druck aus, dass Bethany die Berührung spürte und das Gesicht nicht wegdrehen konnte.
»Du brauchst mich«, informierte er sie.
Ihr klappte die Kinnlade runter, und sie guckte ihn völlig verdattert an und wusste nicht, was sie darauf sagen sollte. Was gab es dazu schon zu sagen?
Dann beugte er sich vor und hauchte einen schmetterlingszarten Kuss auf ihre Stirn. Bethany schloss die Augen und kostete die süße Geste aus. Dieser Mann verhieß Kummer, und das nicht zu knapp. Bethany steckte bis zum Hals in der Klemme.
»Für heute Nacht kommst du mit zu mir nach Hause«, verkündete Jace und lehnte sich zurück in den Sitz. Er sprach mit einer Gelassenheit, die Bethany nicht mal ansatzweise empfand. »Morgen quartiere ich dich in der Wohnung meiner Schwester ein. Sie benutzt sie nicht mehr. Das Apartment ist möbliert, darum wirst du nichts weiter benötigen.«
Die Bestimmtheit in seiner Stimme machte sie sprachlos. Jace fragte sie nicht mal um ihre Meinung, sondern tat, als wäre das Ganze beschlossene Sache. Als hätte Bethany in Bezug auf ihr weiteres Schicksal überhaupt kein Mitspracherecht.
»Das ist doch verrückt«, flüsterte sie. »Du kannst mein Leben nicht einfach so in die Hand nehmen. Und ich kann unmöglich im Apartment deiner Schwester wohnen.«
Jace musterte sie mit hochgezogenen Brauen, bis sie sich wie eine Idiotin vorkam.
»Hast du eine andere Option, wo du unterkommen kannst?«
Bethany errötete. »Du weißt, dass ich die nicht habe.«
»Dann kapiere ich nicht, worüber wir diskutierten. Mia benutzt das Apartment nicht. Sie wohnt bis zu ihrer Hochzeit bei Gabe. Ihre Mitbewohnerin ist bei ihrem Freund eingezogen. Die Wohnung steht leer und gehört mir. Du wirst dort bleiben, zumindest für den Moment.«
Der Nachsatz veranlasste sie, die Stirn zu runzeln.
Jace lächelte, als ihm der Grund für ihre Verwirrung dämmerte.
»Früher oder später wirst du zu mir ziehen, aber ich akzeptiere, dass du dich erst an unsere … Situation gewöhnen musst.«
»Du bist verrückt«, fauchte sie. »Ich wurde von einem Irren gekidnappt.«
Er quittierte das mit einem finsteren Blick, als sie vor einem ultramodernen Hochhaus gegenüber dem Central Park hielten. Ein stetiger Regen hatte eingesetzt. Jace nahm Bethanys Hand und zog sie beim Aussteigen mit sich.
»Beeil dich, damit du nicht nass wirst«, sagte er, während sie zum Eingang hasteten.
Bethany musste rennen, um mit ihm Schritt zu halten, und als sie endlich in die Lobby gelangten, war sie außer Puste. Sie verzog gequält das Gesicht, als der Jeansstoff, der an ihren Knien klebte, sich löste und ihre Schürfwunden wieder aufbrachen.
Jace bemerkte ihren Ausdruck und fluchte leise, während er ihre zerfetzte Hose musterte. Er nahm Bethanys Arm, brachte sie zum Aufzug und schob sie hinein. Trotz seines Bemühens, sie ins Haus zu schaffen, bevor sie durchnässt wurde, klebte ihre Kleidung feucht an ihr, und sie fröstelte.
Der Fahrstuhl öffnete sich in ein elegantes Foyer mit Marmorböden und einem gigantischen Kristalllüster an der Decke. Jace drängte sie weiter, bis sie zögerlich seinen Wohnbereich betrat.
»Wir müssen dich aus diesen Klamotten befreien, anschließend werde ich deine Wunden versorgen«, grummelte er.
Seine Ankündigung veranlasste sie, die Arme noch fester um ihren Oberkörper zu schlingen, als könne sie damit verhindern, sich ausziehen zu müssen. Natürlich hatte er sie schon nackt gesehen, doch sie fühlte sich extrem verletzlich bei der Vorstellung, sich nun ein weiteres Mal vor ihm zu entblößen.
Bethany hatte ihn verrückt genannt, aber sie war noch viel verrückter als er, weil sie das hier geschehen ließ. Man könnte einwenden, dass er ihr kaum eine andere Wahl gelassen hatte, andererseits hatte sie sich auch nicht gerade nach Leibeskräften gewehrt.
»Wir müssen reden, Jace«, stammelte sie. »Das hier ist verrückt. Ich kann nicht bei dir übernachten. Ich verstehe noch immer nicht, warum du in dem Asyl aufgetaucht bist oder woher du wusstest, dass du mich dort finden würdest!«
Er legte den Finger auf ihre Lippen, und seine Miene drückte unmissverständlich aus, dass er keine weitere Widerrede dulden würde. »Wir haben reichlich Zeit, uns zu unterhalten, nachdem du heiß geduscht hast und ich mir diese Wunden angesehen habe. Aber du hast recht. Es gibt eine Menge zu besprechen, und ich versichere dir, dass wir das auch tun werden. Aber meine oberste Priorität für den Moment ist dein Wohlergehen.«
Bethany linste auf ihre abgerissene Erscheinung hinunter und entschied, dass eine heiße Dusche definitiv nicht schaden konnte. Was immer Jace’ Erklärung sein mochte, sie würde sich besser damit auseinandersetzen können, wenn sie trocken und aufgewärmt wäre.
»Na gut«, kapitulierte sie.
Er lächelte verschmitzt. »Siehst du. Das war doch gar nicht so schwer, oder?«
Sie runzelte die Stirn. »Was denn?«
»Mir das Kommando zu überlassen. Ich muss dich warnen, Bethany. Ich bin es gewohnt, meinen Willen durchzusetzen.«
Wie bitte? Sie hatte kein Wort davon gesagt, ihm das Kommando zu überlassen!
Sie öffnete den Mund, um ihn darauf hinzuweisen, als er die Lippen auf ihre legte und ihren Konter mit einem Kuss erstickte.