17. KAPITEL

Die nächsten zwei Tage verbrachten sie gezwungenermaßen unter den neuen Regeln. Reva schlief in Miss Evelyns Haus, Dean in ihrem Bett. Cooper, der mittlerweile eine Menge Fragen stellte, blieb bei den Hardys, kam aber an den Nachmittagen ins Restaurant, um Zeit mit seiner Mutter zu verbringen.

Auf dem Schulweg wurden die Jungs entweder von Charles, dem Sheriff oder einer seiner Mitarbeiter begleitet. Dean bestand darauf, auch wenn er Reva damit beruhigte, dass es nur eine Vorsichtsmaßnahme war. Die Kinder waren noch zu klein, um sich darüber zu wundern, dass in den letzten Tagen immer einer der Erwachsenen, die sie kannten, zufällig in die gleiche Richtung ging.

Dean und Ben wechselten sich damit ab, in Revas Nähe zu bleiben. Sie konnte nur hoffen, dass Eddie bald gefasst wurde und dieser Albtraum ein Ende nahm.

Doch natürlich war es damit noch nicht vorbei. Dean wusste von dem Geld, und es fiel ihm sicherlich schwer, diese Information auch nur ein paar Tage geheim zu halten. Würde er sie später wegen des Geldes verhaften? Er hatte nichts davon erwähnt, aber das wäre ja auch nicht besonders klug gewesen. Vielleicht hatte er alles längst geplant und benutzte sie schon wieder nur, um an Eddie heranzukommen. Sobald sie ihren Zweck erfüllt hatte, würde er ihr Handschellen anlegen.

Reva saß im Büro, während sie über diese beängstigende Möglichkeit nachdachte. Aus dem dritten Stock klangen Arbeitsgeräusche. Dean arbeitete im Flur, von wo aus er ihre Tür im Auge hatte. Zu tun gab es genug – einige Stäbe im Treppengeländer mussten ersetzt werden, der Flur brauchte einen neuen Anstrich.

Sie schloss ihre Bücher, stand auf und trat in den Flur hinaus. Dean beobachtete sie, bereit, ihr zu folgen. Doch sie wandte sich zur Treppe und kam zu ihm hinauf, was ihn offensichtlich überraschte.

Schnell legte er das Schmirgelpapier zur Seite und klopfte sich das Sägemehl vom T-Shirt. „Ist alles in Ordnung?“, fragte er, bevor sie den oberen Treppenabsatz erreicht hatte.

„Nein, nicht wirklich.“

Manchmal dachte sie, es würde nie wieder alles in Ordnung sein. Doch immerhin hatte sie Eddie überlebt, da würde sie auch über Dean hinwegkommen.

„Ich muss etwas wissen“, sagte sie leise, damit niemand im unteren Stockwerk sie hörte. „Wirst du mich ins Gefängnis stecken?“

Dean schüttelte den Kopf. „Natürlich nicht.“

„Aber das Geld …“

„Du warst an keinem Verbrechen beteiligt“, sagte Dean. „Es war ein Fehler, das Geld zu behalten, aber ich glaube, ich kann darlegen, dass es nicht nötig ist, Anklage gegen dich zu erheben, da du uns unterstützt, Eddie zu verhaften, und ja auch keinen Cent des Geldes ausgegeben hat. Selbst wenn der Staatsanwalt daran interessiert wäre, hätte er nicht wirklich etwas gegen dich in der Hand.“

Das ich glaube jagte ihr einen gehörigen Schrecken ein. „Du kannst nicht wirklich beeinflussen, ob Anklage gegen mich erhoben wird oder nicht, richtig?“

Er zögerte. „Nein. Nicht, wenn die Sache beim Staatsanwalt von North Carolina oder dem Bundesgericht landet.“

Damit lag ihr Schicksal in den Händen eines Fremden, der keine Ahnung hatte, unter welchen Umständen sie damals das Geld behalten hatte.

„Ich weiß nicht mal, was Eddie genau gemacht hat“, sagte sie. „Mir erzählte er immer, er wäre ein Vertreter. Als ich endlich herausfand, was wirklich vorging, war es zu spät.“

„Es ist nie zu spät.“

„Wenn ich mich nicht mal jetzt vor Eddie verstecken kann, wie hätte das dann damals funktionieren sollen? Ich habe versucht, ihn zu verlassen. Du weißt, was passiert ist.“

„Die Waffe.“

„Genau.“ Sie wusste, dass auch er im Augenblick irgendwo eine am Körper trug. Er konnte schlecht unbewaffnet Geländer reparieren, wenn Eddie jeden Moment auftauchen würde.

Dean streckte den Arm aus und nahm vorsichtig ihre Hand. Sie wusste, wenn sie sich ihm entzog, würde er sie in Ruhe lassen, doch sie rührte sich nicht. Ein warmes Gefühl ging von dem Punkt aus, an dem er sie berührte, und floss durch ihren Körper. Wie sehr sie das vermisst hatte!

„Es fällt mir schwer, dich so in Angst zu sehen“, sagte er, den Blick auf ihre Handfläche gerichtet.

„Das hast du schon mal gesagt.“

Deans Argument, dass die Gefahr von der Person ausging, nicht von der Waffe, war natürlich richtig. Doch das änderte nichts an der tödlichen Furcht, die der Anblick in ihr auslöste. Vielleicht würde sie nach Monaten oder Jahren weniger empfindlich reagieren, doch so viel Zeit hatten sie leider nicht.

Er hielt sie weiter fest, und sie betrachtete seine großen starken Hände. Sie waren gebräunt und hatten einige Kratzer, die nicht da gewesen waren, als er nach Somerset kam. Sie strich mit einem Finger leicht über eine kleine, frische Abschürfung auf seinem Handrücken.

„Vor ein paar Tagen hast du gesagt, dass du wünschst, ich wäre ein Handwerker“, sagte Dean leise. „Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich denselben Wunsch.“

„Nicht …“

„Aber ich bin keiner. Und ich werde niemals einer sein.“

Er zog sie näher zu sich, und sie folgte ihm. „Aber ich wünschte wirklich, ich hätte dir früher gesagt, warum ich wirklich hier bin.“

Reva legte den Kopf in den Nacken und küsste ihn. Damit hatte er nicht gerechnet, und sie selbst offenbar auch nicht. Es geschah einfach, als hätte ihr Körper die Regie übernommen und seine eigene Entscheidung getroffen.

Sie klammerte sich an seinem T-Shirt fest, als er ihren Kuss erwiderte. Zuerst sanft, dann immer heftiger. Seine Arme umschlossen sie, beschützten sie vor allem, was außerhalb lag. Er küsste sie anders als sonst, verzweifelter.

Der Kuss tröstete sie. Wie seltsam … ihre Lippen berührten sich, und sie war nicht mehr allein in dem Chaos, das sie selbst geschaffen hatte. Dean war bei ihr, und alles war gut.

Ihre Knie gaben nach und Wärme breitete sich in ihr aus. Wie sehr sie sich wünschte, er wäre ein Handwerker!

Dean folgte ihr die Treppe hinunter. Beide waren sie aufgewühlt. Gerade, als er akzeptiert hatte, dass zwischen ihnen alles vorbei war, kam sie ihm so nahe.

Hoffentlich tauchte Eddie bald auf. So konnte es auf keinen Fall lange weitergehen.

Cooper und Terrance kamen durch die Haustür gehüpft, gefolgt vom Sheriff. Als er Dean sah, nickte er kurz und ging wieder hinaus.

„Hi!“, grinste Cooper. „Sheriff Andrews ist wieder mit uns nach Hause gelaufen, aber er sagt, er kann keine Limonade mit uns trinken, weil er ein paar böse Jungs fangen muss oder so. Er hat heute wieder in der Schule einen Vortag gehalten, aber nicht über Drogen, sondern über Fremde. Dass wir nicht mit Fremden reden sollen und auf keinen Fall mit ihnen irgendwohin gehen.“

„Aber das wussten wir schon“, fügte Terrance etwas genervt hinzu.

„Ja“, sagte Cooper.

„In der Küche gibt’s was zu essen“, sagte Reva, und die Jungs rannten sofort los.

„Können sie überhaupt langsam gehen?“, fragte Dean. Wann immer er Cooper sah, schien er zu hüpfen oder zu rennen.

„Nein.“ Reva ging ebenfalls in Richtung Küche, überlegte es sich dann aber anders. Sie lehnte sich an die Wand und blickte ihn an. „Ich möchte dich etwas fragen“, begann sie. „Bisher konnte ich nie mit jemandem darüber sprechen, weil niemand etwas davon weiß. Ich liebe Cooper, und ich tue alles, um ihn gut zu erziehen und ihm alles zu geben, was er braucht.“

„Und das machst du prima.“

„Aber reicht das aus?“, fragte sie. „Cooper ist Eddies Sohn. Er hat seine Gene.“ Sie erschauerte. „Er sieht ihm jeden Tag ähnlicher. Was, wenn …“

Dean ging auf sie zu, blieb jedoch in gebührendem Abstand von ihr stehen. „Cooper wird nicht wie sein Vater.“

„Wie kann ich da sicher sein?“

„Er ist auch dein Kind, Reva.“ Dean kannte Eddies Vorgeschichte in allen Einzelheiten. Der Vater gestorben, als er vier war, ein Stiefvater, der ihn misshandelt und mit zwölf ins Drogengeschäft eingeführt hatte. Eddie war verdorben worden, doch er war nicht so geboren.

„Cooper ist ein wunderbarer Junge, und das wird er auch bleiben, weil du auf ihn aufpasst. Weil du ihn liebst und ihm den Unterschied beibringst zwischen Recht und Unrecht. Eine Garantie gibt es natürlich nie, aber Cooper hat die besten Chancen auf ein gutes Leben. Dank dir.“

„Sagst du das nur, damit ich mich besser fühle?“

„Nein. Keine Lügen mehr, nicht mal mehr kleine.“

Sie schüttelte den Kopf. „Ist es dafür nicht ein bisschen spät?“

„Ich weiß nicht. Meinst du?“ Er rückte näher an sie heran. „Und du brauchst Cooper nicht allein aufziehen. Es gibt ehrliche Männer, die dich nie belügen würden.“ Wie gern wäre er derjenige gewesen, der ihr Leben mit ihr teilte, doch diese Chance hatte er vertan. „Cooper braucht einen Vater und du einen Mann an deiner Seite. Mehr Kinder. Tanzen gehen am Wochenende, romantische Abendessen. Ein Mann, der dich liebt.“

„Aber …“

„Dem Richtigen ist deine Vergangenheit oder Coopers Vater egal.“

„Und wo soll ich den Richtigen finden?“

Hier. Das Wort blieb ihm im Hals stecken. Er steht genau vor dir.

Die Eingangstür wurde aufgerissen, und ein Mann, der eine Baseballkappe trug, trat ein. Mit einem Fußtritt knallte er die Tür zu. Als er den Kopf hob, klammerte sich Reva unwillkürlich an Deans T-Shirt fest und schnappte nach Luft.

„Hey, Baby“, sagte Eddie Pinchon mit einem breiten Grinsen. „Hast du mich vermisst?“

Sie hatte gedacht, allein sein Anblick würde sie in Panik versetzen, doch es gelang ihr, ruhig zu bleiben. Allerdings breitete sich kalte Furcht in ihr aus, als Eddie sie an Dean vorbei von oben bis unten betrachtete.

Er nahm die Kappe ab und warf sie achtlos beiseite. Sein Haar war noch immer blond, aber sehr kurz. Früher hatte er es länger getragen. Der Schnurr- und Kinnbart waren neu, und er hatte abgenommen. Dennoch war es unverkennbar Eddie.

„Was willst du hier?“, fragte sie.

„Das weißt du doch genau.“ Sein Grinsen erstarb. „Es hat eine Weile gedauert, bis ich herausfand, wo es ist, aber da niemand sonst es hat, ist es wohl bei dir.“

Es. Da Dean zwischen ihnen stand, war Eddie vorsichtig genug, das Wort Geld nicht zu erwähnen.

Eddie wandte seine Aufmerksamkeit Dean zu. „Und wer ist das?“

„Nur ein Handwerker“, sagte Reva schnell.

„Der Handwerker.“ Wieder grinste Eddie. „Und für welche Aufgaben beschäftigst du ihn?“

Dean machte einen Schritt auf Eddie zu, der sofort eine Hand hinter seinem Rücken verschwinden ließ. Natürlich hatte er eine Waffe. Revas Herz begann ängstlich zu klopfen.

„Warum verschwindest du nicht, Handwerker?“, sagte Eddie. „Die Lady und ich haben etwas Wichtiges zu besprechen.“

Wieder machte Dean einen Schritt in Eddies Richtung. „Ich denke nicht.“ Reva sah die Ausbuchtung über seinem Hosenbund, wo das T-Shirt die Waffe nur dürftig verbarg.

Eddie zog gleichzeitig mit Dean seine Waffe. Es ging so schnell, dass Reva den Bewegungen nicht folgen konnte. Und dann standen sie sich im Flur gegenüber, die Waffen aufeinander gerichtet. Sofort wurde Revas Mund trocken und ihre Ohren begannen zu rauschen.

„Reva“, sagte Dean ruhig, „warum gehst du nicht in die Küche und sagst deinen Angestellten, dass sie nach Hause gehen können? Schick sie durch die Hintertür raus. Wir wollen nicht, dass jemand verletzt wird, und je weniger Leute hiervon erfahren, desto besser.“

„Für einen Handwerker redest du zu viel“, sagte Eddie, als Reva langsam rückwärtsging. „Und gehst zu gut mit einer Pistole um.“

Dean wartete, bis sie das Ende des Flurs erreicht hatte, rief dann: „Und du gehst mit ihnen nach draußen, Reva.“

„Vergiss das!“, rief Eddie. „Wenn du nicht in zwei Minuten zurück bist, erschieße ich deinen kleinen Handwerker-Freund.“

Reva rannte in die Küche. „Wir haben ein kleines Problem vorne“, sagte sie so ruhig wie möglich, doch es gelang ihr nicht, das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken. „Ihr müsst bitte gehen. Sofort.“

„Aber Mom“, begann Cooper, „was …“

„Geh mit Tewanda, bis ich dich abhole.“

„Aber warum?“

Sie hatte keine Zeit, mit ihm zu diskutieren. Zwei Minuten, hatte Eddie gesagt, dann würde er schießen. Zwar hatte Dean auch eine Waffe, aber das würde jemanden wie Eddie nicht abhalten.

„Geht.“

Während die Kinder mit den Erwachsenen sich durch die Küchentür in Sicherheit brachten, verließ Reva im Laufschritt die Küche. Wenn sie die Fassung verlor, würde sie Dean nur schaden oder sie beide umbringen. Sie musste sich beruhigen. Aber wie?

Dean hatte recht gehabt. Es war nicht die Waffe, in der das Übel lag, sondern die Person, die sie hielt. Dean würde seine Pistole niemals benutzen, um jemanden zu quälen, nicht mal einen Verbrecher.

Sie fand die beiden, wie sie sie verlassen hatte, sich gegenüberstehend wie bei einem Duell.

„Ich hatte gesagt, du sollst gehen“, sagte Dean, als er ihre Schritte hörte.

„Vielleicht will sie nicht, dass ich dich erschieße, Handwerker“, höhnte Eddie und bewegte sich zur Seite.

Reva warf einen Blick auf Eddies Waffe. Ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen, doch sie geriet nicht in Panik. Das Dröhnen in ihren Ohren hatte aufgehört und sie wusste, dass sie nicht schreien würde.

Dennoch hatte sie Angst. Die Waffe war auf Dean gerichtet, und Eddie kannte keine Skrupel.

„Du wirst mich nicht erschießen“, sagte Dean.

Eddie lachte. „Ach ja? Was macht dich da so sicher?“

„Ich weiß als Einziger, wo dein Geld ist.“