15. KAPITEL

„Niemand kann mich gesehen haben“, beharrte Dean. „Das Fenster ist von allen Seiten durch Bäume verdeckt. Man kann nicht …“ Er unterbrach sich, und Reva konnte beinahe sehen, wie er zwei und zwei zusammenzählte. „Wer hat das Gerücht in die Welt gesetzt?“

„Keine Ahnung“, sagte sie. „Macht das einen Unterschied?“

„Allerdings. Die einzige Stelle, von wo aus man Coopers Fenster sehen kann, ist die Seite vom Restaurant, wo das Fenster offen stand. Der Urheber des Gerüchts ist der Einbrecher.“

„Bist du sicher?“

„Es ist die einzige Möglichkeit.“

Reva war nicht so sicher wie Dean, aber sie rief Tewanda zurück und fragte, von wem sie den Klatsch gehört hatte.

Zwei weitere peinliche Telefonate später wusste Reva, wo das Gerücht seinen Anfang genommen hatte.

Sie teilte es Dean mit, der in sich hineinlächelte, als ergäbe das Ganze einen Sinn für ihn. Er versprach ihr, sich am nächsten Morgen darum zu kümmern, und schien sich um den Klatsch, der unweigerlich die Runde machen würde, nicht weiter den Kopf zu zerbrechen.

Im Gegenteil, er zog sie in seine Arme, als wäre nichts passiert.

„Wie kannst du nur so ruhig sein?“, fragte sie.

„Warum nicht? Ein paar Leute in der Stadt wissen also, dass ich die Nacht mit dir verbracht habe. Ist das so eine Katastrophe?“ Zärtlich strich er ihr über den Rücken. „Wir sind erwachsen, Reva. Was wir hinter geschlossenen Türen tun, geht niemanden etwas an außer uns. Nächstes Mal, wenn ich die Nacht hier verbringe, komme und gehe ich durch die Haustür.“

Die Nachricht, dass Eddie Pinchon seit ein paar Tagen nicht mehr gesehen worden war, beunruhigte Dean. Was, wenn der entflohene Sträfling auf dem Weg nach Somerset war oder sich bereits in der Nachbarschaft versteckt hielt?

Nach dem Telefongespräch mit Alan packte Dean ein paar Sachen in seine Reisetasche. Entweder würde er bei ihr wohnen oder sich ein Zimmer im Restaurant aussuchen, von dem aus er das Gästehaus im Blick hatte. Die gemietete Mansarde reichte jedenfalls nicht mehr aus.

Schnelle Schritte ertönten von der Treppe her, und kurz darauf wurde die Tür aufgerissen. Ohne Klopfen oder sonstige Ankündigung stand Reva vor ihm, das Gesicht gerötet und atemlos.

„Was ist los?“ Doch als er den Sheriff hinter Reva auftauchen sah, wusste Dean die Antwort.

„Ist es wahr?“, fragte sie.

„Ich weiß nicht, was er dir erzählt hat.“

„Dass du hierher gekommen bist, um mich auszuspionieren.“ Sie legte den Kopf schräg und betrachtete ihn, als wäre er ein Fremder, ein Monster, das dabei war, sie zu verschlingen. „Stimmt das?“

„Reva“, sagte Dean ruhig. „Ich kann es erklären.“

Sie lachte ihn aus, fuhr sich mit der Hand nervös durchs Haar. „Ich verdiene wirklich einen Preis für das größte Pech mit Männern.“

Ärgerlich trat sie in den Raum. Der Sheriff folgte ihr gelassen.

„Welche Erkenntnisse hast du denn erwartet? Ich hoffe, du bist nicht allzu enttäuscht. Mein Leben ist ziemlich langweilig. Aber natürlich hast du selbst für etwas Abwechslung gesorgt, nicht wahr?“

Dean blickte den Sheriff finster an. „Was haben Sie ihr bloß erzählt?“

„Ich bin nicht weit gekommen, bevor sie davonstürmte“, antwortete Ben Andrews. Wenigstens sah er angemessen zerknirscht aus. „Ich wollte sie nicht aufregen, aber nachdem ich gehört hatte, dass … Ich konnte einfach nicht zulassen, dass Sie sie weiter belügen.“

„Raus“, sagte Dean.

„Reva?“, fragte Andrews, Dean ignorierend. „Ich kann hier bleiben, wenn du mich brauchst. Und dich nachher nach Hause begleiten.“

Sie schüttelte den Kopf und setzte sich auf den Stuhl am Fenster. „Danke, aber hiermit muss ich alleine fertig werden.“

Widerwillig verließ der Sheriff den Raum, und Dean schlug die Tür hinter ihm zu. Als er sich wieder umdrehte, hob Reva das alte Foto vom Tisch auf.

„Nicht …“, begann Dean. Zu spät.

Reva starrte das Foto lange an. „Ich hatte solche Angst, dass du etwas über meine Vergangenheit herausfinden würdest, und du wusstest es die ganze Zeit.“

Ihre Stimme war dünn und unsicher. Dean machte einen Schritt auf sie zu, doch sie hob abwehrend die Hand. „Bleib weg von mir“, sagte sie, ohne von dem Foto aufzublicken. Schließlich hielt sie es hoch und blickte ihn anklagend an. „Wenn das die Frau ist, die du in Somerset gesucht hast, dann hast du Pech. Sie war naiv und leicht zu manipulieren. Sie starb an dem Tag, als Cooper geboren wurde.“

„Reva, es tut mir so leid.“

„Ja, von wegen. Was genau hast du erwartet, hier zu finden? Ich habe nichts zu tun mit den Leuten, die ich damals kannte. Du verschwendest deine Zeit.“

Er seufzte. Die Zeit der Ausflüchte war vorbei.

„Eddie Pinchon ist vor zweieinhalb Wochen aus dem Gefängnis ausgebrochen. Alan und ich sind hierher gekommen, weil die Möglichkeit bestand …“

Dean hatte keine Zeit, den Satz zu beenden, denn Reva wurde weiß wie die Wand, sprang auf und rannte davon. Dean griff nach seiner Reisetasche und folgte ihr, holte sie an der Haustür ein.

„Beruhige dich.“

„Ich habe Cooper allein zu Hause gelassen“, sagte sie, ohne langsamer zu werden. „Ich muss ihn wecken. Wir müssen die Stadt verlassen. Eddie darf uns nicht finden. Niemals hätte ich damit gerechnet, dass er aus dem Gefängnis kommt!“

Sie war in Panik, also versuchte er erst gar nicht, sie aufzuhalten. Er blieb an ihrer Seite und folgte ihr nach Hause.

„Ich kann dich beschützen“, sagte er, als Reva die Treppen zur Haustür im Sprung nahm.

„Aber sicher“, sagte sie und riss die Tür auf. „Bisher hast du mich ja auch ganz fabelhaft beschützt.“

Vor Coopers Zimmer blieb sie stehen, holte ein paar Mal tief Atem und trat in den dunklen Raum. Als sie Cooper selig schlafend im Bett vorfand, schwankte sie leicht. Dean versuchte, ihr Halt zu geben, doch sie schob seine Hände weg.

Leise schloss sie die Tür wieder und lehnte sich im Flur an die Wand. Nach einer Weile rutschte sie langsam zu Boden.

„Hast du mich die ganze Zeit ausgelacht?“, fragte sie leise.

„Nein“, antwortete er und ging neben ihr in die Hocke. „Niemals.“

„Was war es dann? Der Beobachtungsposten wurde dir zu langweilig, also hast du zum Zeitvertreib ausprobiert, ob du mich herumkriegen kannst?“

„Nein“, antwortete er schnell. „Verdammt, Reva …“

„Rede nicht mit mir, als ob ich etwas falsch gemacht hätte. Ja, ich habe Geheimnisse, ich bin nicht perfekt. Aber ich habe dich nie darüber belogen, wer ich bin.“

„Ich wollte es dir sagen. Hundert Mal. Einmal war ich kurz davor.“

„Was hat dich abgehalten?“

„Dass du mich so ansehen würdest wie jetzt, wenn du es erfährst.“

Reva verbarg das Gesicht in den Händen. „Ich habe keine Zeit für so was. Wir müssen weg von hier.“

„Vielleicht versucht Eddie gar nicht, dich zu finden“, sagte Dean beruhigend. „Bis jetzt hat er jedenfalls …“

„Oh doch, er wird kommen“, unterbrach sie ihn. „Früher oder später taucht er hier auf.“

„Glaubst du, jemand würde ihm von Cooper erzählen? Wer weiß überhaupt etwas von ihm? Kennst du jemanden, der …“

Er hielt inne, als Reva aufstand und an ihm vorbeiging. Sie steuerte auf einen Einbauschrank im Flur zu, öffnete ihn und warf einen Stapel Handtücher auf den Boden. Das Regalbrett, auf dem sie gelegen hatten, folgte. Danach löste sie die Rückwand und zog eine schwarze staubige Reisetasche aus dem Hohlraum dahinter.

Sie warf sie Dean vor die Füße. „Los, mach sie auf“, sagte sie heiser. „Nur zu, Deputy Sinclair. Tun Sie Ihre Arbeit“, fügte sie hinzu.

Dean blieb fast das Herz stehen. Er wusste, was sich in der Tasche befand. Wieder ging er in die Hocke und zog den Reißverschluss auf. Säuberlich gebündelte und gestapelte Hundertdollarnoten, ganz wie er vermutet hatte.

„Es fehlt kein Cent“, flüsterte Reva. „Das ist der Grund, warum du hier bist, oder? Ihr habt nach dem Geld gesucht …“

„Nein. Bis gestern Nacht wussten wir überhaupt nichts davon. Woher stammt das Geld?“

„Das weiß ich nicht. Als ich hörte, dass Eddie in Florida wegen Mordes verhaftet worden war, nutzte ich die Chance zur Flucht. Das Geld war im Kofferraum des Wagens, ich habe es erst Tage später gefunden. Was sollte ich machen? Ich konnte es nicht ausgeben, aber ich wusste auch nicht, wie ich es loswerden sollte, ohne auf mich aufmerksam zu machen. Es ist Drogengeld. Keine Ahnung, woher, aber ganz bestimmt hat Eddie es nicht ehrlich verdient.“

Als Dean sie nur ansah, fuhr sie fort: „Was hätte ich tun sollen? Es bei der Polizei abgeben? Ich war schwanger, verängstigt und wollte mich bloß verstecken, bis alles vorbei war. Schließlich konnte ich nicht sicher sein, dass Eddie nicht wieder freikam. Es verbrennen? Das hatte ich ein paar Mal vor.“ Hektisch strich sie sich das Haar aus dem Gesicht. „Ich wollte meinen Namen ändern, aber ich wusste nicht, wie. Ich brauchte meinen Führerschein und meine Sozialversicherungsnummer, um Geld für Cooper und mich zu verdienen. Eddies Freunde hätten sicher gewusst, was zu tun war, aber genau mit diesem Gesindel wollte ich ja nie wieder etwas zu schaffen haben.“ Ein Schauer überlief sie. „Ich glaube nicht, dass Eddie meinetwegen hierher kommen würde. Aber ich habe sein Geld, und sobald er das herausfindet, kommt er auf jeden Fall. Wenn ich Glück habe, nimmt er es sich einfach und verschwindet dann wieder.“ Wieder wurde sie blass und schwankte. „In letzter Zeit habe ich aber eher eine Pechsträhne“, stellte sie fest.

Dean übernahm ruhig die Führung.

Er erlaubte ihr nicht, kopflos zu fliehen, sondern arbeitete einen Plan mit ihr aus. Sie packten eine Tasche für Cooper, dann trug Dean ihn zum Auto.

Tewanda war sofort einverstanden, ihn für die Nacht aufzunehmen, und fragte nicht nach dem Grund.

Reva brauchte Bargeld, um zu fliehen, doch sie wollte auf keinen Fall etwas von Eddies Drogengeld nehmen. Lieber verbrachte sie noch eine Nacht in ihrem Haus. Außerdem hatte sie Angst vor Eddie. Wenn er sie fand und entdeckte, dass das Geld fehlte, würde er sie ohne zu zögern umbringen.

Schweigend fuhr Dean sie nach Hause, nachdem sie Cooper abgeliefert hatten.

„Pack ein paar Sachen zusammen“, schlug er vor, als sie nervös ins Haus trat.

„Das mache ich morgen früh, bevor ich zur Bank gehe“, sagte sie.

Sie trat zögernd ins Wohnzimmer, wo sie das Licht hatte brennen lassen, als erwartete sie, dass Eddie jeden Moment hinter dem Sofa hervorsprang.

„Du kannst heute Nacht nicht hier blieben“, beharrte Dean. „Du wirst bei Miss Evelyn schlafen.“

„Ich kann nicht …“

„Es ist zu spät, sich darüber Gedanken zu machen, was die Leute denken werden“, sagte Dean ungehalten. „Du musst morgen ausgeruht sein, und hier wirst du kaum ein Auge zu tun.“

„Warum hast du mir nicht von Anfang an die Wahrheit gesagt?“, fragte sie leise. „Wenn ich gewusst hätte, dass Eddie auf freiem Fuß ist, hätte ich Cooper schon viel früher in Sicherheit bringen, ein paar Angelegenheiten regeln und innerhalb von ein paar Stunden die Stadt unauffällig verlassen können. Stattdessen hast du …“

„Als ich herkam, kannte ich dich nicht. Nach allem, was wir wussten, hättest du mit Eddie unter einer Decke stecken können.“

Sie lachte bitter auf.

„Ich konnte es mir nicht leisten, dir zu sagen, warum ich hier war. Und als ich wusste, dass du nichts mit Pinchon zu tun hattest, war es zu spät. Ich hatte zu viel zu verlieren.“

Reva hatte sich wieder gefangen. „Gehört es zum normalen Ermittlungsprozess für dich, das Beobachtungsobjekt zu verführen, Deputy Sinclair?“

„Nein“, erwiderte er scharf.

„Wie kam ich dann zu der Ehre?“ Sie marschierte an ihm vorbei auf ihr Schlafzimmer zu. Tränen brannten in ihren Augen, und sie wollte nicht, dass er sie sah. „Ich gehe nirgendwohin, und ganz bestimmt nicht mit zu dir. Lieber riskiere ich es, Eddie zu begegnen. Er ist gefährlich, aber das weiß ich wenigstens schon. Eddie würde mir ohne Zögern ein Messer ins Herz rammen. Du ziehst es anscheinend vor, Leute von hinten zu erwischen.“

„Du kommst mit zu Miss Evelyn“, beharrte Dean und lief ihr nach.

„Ich gehe nirgendwo mit dir hin.“

„Sollst du ja auch nicht.“ Sie blieben vor der Schlafzimmertür stehen. Letzte Nacht hatte er sich in ihrem Bett so heimisch gefühlt, als könnte er den Rest seines Lebens dort verbringen. Heute trat er nicht mal über die Schwelle.

„Du schläfst in Miss Evelyns Haus. Ich bleibe hier.“