2. KAPITEL

Reva brauchte nicht länger selbst die Gastgeberin zu spielen und den Gästen während des Essens die Geschichte des Hauses und der Stadt zu erzählen. Das übernahmen jetzt ihre Angestellten, die als Alteingesessene sowieso viel mehr Anekdoten kannten. Reva hatte sich hinter den Kulissen stets wohler gefühlt und war mit dieser Entwicklung sehr zufrieden. Ihr Restaurant war ein Publikumsmagnet, ihre Speisekarte weithin gepriesen. Neuerdings lebte sie nicht nur von den Einkünften des Restaurants, sondern auch vom Verkauf ihres Kochbuchs.

Die Gäste ließen sich gerade an den Tischen nieder, als Edna in Revas Büro im zweiten Stock platzte. „Hier steckst du. Ein Glück!“

Ihre offensichtliche Erleichterung erstaunte Reva. Sie war um eins immer im Büro.

„Ich frage nur ungern“, sagte Miss Edna liebenswürdig, „aber könntest du heute vielleicht meinen Tisch übernehmen? Ich habe Tisch zwei.“

Reva legte die Speisekarten für die kommende Woche zur Seite und stand auf. „Geht’s dir nicht gut?“

Edna ließ nur selten eine Mahlzeit ausfallen. Sie war eine der Glücklichen, die jeden Tag opulent essen konnten und kein Gramm zunahmen.

„Ich habe nur Kopfschmerzen“, sagte Edna leise. „Nichts Schlimmes, aber für ein Aspirin und ein Nickerchen wäre ich dankbar.“

„Natürlich.“ Reva hielt sich für weniger unterhaltsam als ihre Damen, aber immerhin hatte sie früher sechs Tage die Woche selbst die Gastgeberrolle gespielt. Wenn es um den Erfolg des Restaurants ging, war sie immer bereit, überall mit anzupacken.

„Wunderbar, danke.“ Edna nahm Revas Arm, als sie zusammen das Büro verließen. „Ich habe einen Extragast mit reingeschoben“, sagte sie beiläufig auf der Treppe. „Er sah ziemlich verhungert aus, und ich wollte ihn nicht einfach wieder wegschicken.“

„Ohne Reservierung?“

„Tisch zwei ist doch unser größter, und wir haben jede Menge Platz. Ich dachte, ein zusätzlicher hungriger Gast würde da nicht weiter auffallen.“

Verwundert schüttelte Reva den Kopf. Gerade Edna überwachte sonst immer streng die Einhaltung der Regeln. Ohne Reservierung kein Platz am Tisch.

„Sei nett zu ihm“, mahnte Edna, als sie sich dem Gastraum näherten. „Er ist unser neuer Nachbar.“

Damit ließ sie Revas Arm los und verschwand schnell durch die Vordertür.

Na prima.

Reva beobachtete durch den Türspalt, wie zwei Kellner mit schweren Tabletts ankamen und die Schüsseln auf dem Drehteller in der Mitte des runden Tisches abstellten. Normalerweise war für zehn gedeckt, die Gastgeberin mitgezählt, heute waren es elf. Schnell ließ sie den Blick über die Gruppe schweifen.

Drei Pärchen waren offensichtlich Touristen im Alter zwischen Mitte dreißig und Ende sechzig. Ihre Sandalen, T-Shirts und der überraschte Ausdruck, mit dem sie die Unmengen von Essen betrachteten, die auf dem Tisch standen, verrieten sie. Die Mitglieder einer dreiköpfigen Familie waren Stammgäste, die mindestens einmal im Monat kamen. Sharon Phillips und ihr Mann Doug saßen rechts und links von ihrer einzigen Tochter, einer scheuen Neunzehnjährigen namens Tracy.

Der zehnte Gast war der Mann, den sie am Vorabend beinahe mit einem Ast von ihrem Birnbaum erschlagen hatte, und er saß direkt neben dem Platz der Gastgeberin. Außerdem betrachtete er im Gegensatz zu den anderen nicht die dampfenden Schüsseln, sondern ganz eindeutig sie.

Dafür würde Edna büßen! Der nicht eingeplante Gast war gut aussehend und hungrig, und es war bestimmt kein Zufall, dass er neben ihr sitzen würde. Kopfschmerzen, was? Dies war ein dreister und unnötiger Versuch, sie zu verkuppeln. Seufzend nahm sich Reva zusammen. Wie konnte sie einer Frau böse sein, die ihre Großmutter hätte sein können?

Sie hoffte nur, dass Dean sie nicht erkannte. Dank der Baseballkappe und der Dunkelheit hatte sie vielleicht Glück. Obwohl sie keinen Grund hatte, sich schuldig zu fühlen – immerhin war der Mann auf ihrem Grundstück herumgeschlichen –, hatte sie keine Lust, das Thema wieder aufzuwärmen.

„Guten Tag“, sagte sie lächelnd, als sie in den Raum trat, der früher der Musiksalon gewesen war. Ein paar antike Instrumente und einige der Originalmöbelstücke erinnerten noch daran.

„Reva!“ Sharon Phillips lächelte erfreut. „Wie schön, Sie zu sehen. Sie machen sich in letzter Zeit rar.“

„Miss Edna lässt sich wegen Kopfschmerzen entschuldigen. Ich bin nicht halb so unterhaltsam wie sie, aber ich hoffe, Sie werden es mit mir aushalten.“

Reva setzte sich auf ihren Platz zwischen Dean zu ihrer Linken und einer Touristin mit leuchtend rotem Haar zur Rechten.

Ihre Gäste füllten sich die Teller aus den dampfenden Schüsseln. Reva schlug vor, dass sich jeder vorstellte, während sie sich bedienten. Sie selbst nahm von allem ein bisschen und vermied es, den Mann neben ihr anzusehen. Nicht einmal, als sie zur gleichen Zeit nach einer Schüssel griffen und ihre Hände sich kurz berührten, blickte sie auf. Gerade da nicht. Sie war viel zu verwirrt über den Funken, den sie bei der minimalen Berührung gespürt hatte, und der von Rechts wegen nicht hätte da sein dürfen.

Wie sie vermutet hatte, waren die drei Pärchen auf Urlaubsreise. Zwei waren bereits pensioniert und reisten ständig, während das dritte Ehepaar seinen zweiwöchigen Urlaub für eine Rundreise durch die Südstaaten nutzte. Ihre Stammgäste aus Alabama stellten sich vor und priesen ihre Speisekarte und ihr Kochbuch. Und dann war er an der Reihe.

Auch wenn sie sich bemüht hatte, ihn nicht anzusehen, war es unmöglich, ihn zu ignorieren. In seinem dunklen Anzug, der gestreiften Krawatte und dem weißen Hemd wirkte er fehl am Platz, doch daran lag es nicht. Ganz gleich, welche Kleidung er trug, er war einfach niemand, den man übersah. Er hatte eine beeindruckende Ausstrahlung, der sie sich nur schwer entziehen konnte. Ein paar Mal musste sie sich geradezu zwingen, ihn nicht anzusehen.

Wahrscheinlich war er verheiratet. Gut aussehende Männer wie er waren selten ohne Anhang. Natürlich trug er keinen Ring, aber das hatte heutzutage ja nicht viel zu bedeuten.

Er wirkte, als hätte er normalerweise jede Situation unter Kontrolle und fühlte sich selten fehl am Platz. Seltsam, dass er gerade hier so angespannt war. Während die anderen Gäste lächelten, plauderten und es sich schmecken ließen, verzog er kaum eine Miene.

Wenn er nicht hier sein wollte, wieso war er dann gekommen?

„Dean Sinclair“, stellte er sich vor, und das war alles. Offenbar hatte er nicht die Absicht, den anderen mehr über sich mitzuteilen. Reva fand das ziemlich unhöflich, da die anderen alle erwähnt hatten, woher sie kamen, was sie herbrachte und was sie machten, wenn sie nicht auf Reisen waren. Dean schien zu glauben, dass es reichte, wenn er seinen Namen nannte.

Auch gut.

Die anderen Gäste waren damit allerdings nicht zufrieden.

„Wo wohnen Sie, Mr Sinclair?“, fragte Sharon.

Er blickte zu ihr hinüber und zögerte. Reva beobachtete ihn, während sie alle auf seine Antwort warteten. Liebe Güte, der Mann war atemberaubend attraktiv. Er hatte ein markantes Kinn, eine gerade, perfekt geformte Nase, volle Lippen und unglaublich blaue Augen. Letzte Nacht hatte sie seine Augenfarbe natürlich nicht sehen können. Zum Glück schien auch er sie tatsächlich nicht wieder zu erkennen.

Ein Mann mit Geheimnissen, dachte sie, als sein Schweigen sich ausdehnte. Jemand, der die Welt einer gutgläubigen Frau gewaltig durcheinanderbringen konnte. Zum Glück gehörte Reva nicht mehr zu der Sorte, die einem gut aussehenden Mann alle Lügen fraglos abkaufte. Eine Lektion hatte ihr mehr als gereicht.

„Atlanta“, sagte er schließlich.

„Was bringt Sie nach Somerset?“, fragte einer der Pensionäre. Es war allen klar, dass dieser Gast im Anzug nicht auf Urlaubsreise war.

Wieder zögerte er. „Ich plane, hier ein Geschäft zu eröffnen.“

Reva blickte ihn erstaunt an. „Was für ein Geschäft?“ Somerset wurde nicht oft von Geschäftsmännern in Anzügen besucht.

Er erwiderte ihren Blick, mehr als das, er sah ihr in die Augen und atmete tief durch. Beinah lächelte er sogar. Es war dasselbe widerwillige schiefe Lächeln, das er ihr am Vorabend gezeigt hatte. Als wäre er gegen seinen Willen amüsiert. „Ich habe ein Baugeschäft, spezialisiert auf die Reparatur und Erhaltung alter Häuser. Die Architektur des 19. Jahrhunderts hat mich immer schon fasziniert.“

Damit war sie wohl ertappt. Womit hatte sie sich verraten? Oder interpretierte sie sein Lächeln falsch und er hatte sie doch nicht erkannt?

So wichtig war es sowieso nicht. Sicher, sie hatte ihn peinlicherweise bedroht, wo er offensichtlich unschuldig war, aber immerhin war er auf ihrem Grundstück herumgeschlichen.

Ein Handwerksbetrieb! Reva vergaß fast augenblicklich seine unglaublich blauen Augen, seine unberingten Hände und ihre Verlegenheit. Stattdessen dachte sie an das wackelige Treppengeländer im oberen Stock, die losen Ziegel im Küchenkamin und die vor sich hinrottende Veranda auf der Rückseite des Hauses. „Wie interessant“, sagte sie.

„Ich bin nicht sicher, dass wir uns hier niederlassen werden“, erwiderte er schnell. „Wir bleiben nur für ein paar Tage, um die Stadt und die Einwohner kennenzulernen.“

„Wir?“ Vielleicht hatte er doch eine Frau.

„Mein Geschäftspartner reist mit mir.“

Reva lächelte warm. „Sie müssen ihn demnächst zum Essen mitbringen. Ich würde ihn gerne kennenlernen.“

Sein Partner musste der mit dem Bauchansatz sein. Im Gegensatz zu ihm wirkte Dean wie aus Stein gemeißelt. Bestimmt war sein ganzer Körper so gut geformt wie sein Kinn.

Ein unerwarteter wohliger Schauer lief ihr über den Rücken, und sie ließ den Gedanken ganz schnell wieder fallen. Edna und Frances lagen völlig falsch. Sie brauchte keinen Mann. Und ganz bestimmt keinen wie Dean Sinclair.

„Ob ich was dabeihabe?“ Alan war noch nicht ganz wach. Er rieb sich den Schlaf aus den Augen und blickte zum Fenster, wo Dean auf Posten saß.

„Du weißt schon, Werkzeug“, antwortete Dean. „Vielleicht einen Hammer, einen Schraubenzieher, oder eine Bohrmaschine.“

Alan schüttelte den Kopf. „Wieso?“

Dean ließ das Haus gegenüber nicht aus den Augen, obwohl der letzte Gast vor einer Weile gegangen war. „Ich habe dem Restaurant einen Besuch abgestattet, während du schliefst.“ Und noch immer war er so satt, dass er sich kaum rühren konnte. Wie ein Besuch bei einer Großmutter, die erst zufrieden war, wenn man fast platzte.

Er konnte sich nicht erinnern, jemals so gut gegessen zu haben. In seiner Familie waren sie alle keine großen Köche, und selbst an Feiertagen kam nie so etwas Gutes auf den Tisch wie heute bei Reva.

„Es war köstlich“, erklärte er.

„Freut mich“, sagte Alan gelassen. „Aber was hat das mit Werkzeug zu tun?“

„Die Gäste essen an großen Tischen“, erklärte Dean, „und alle stellen sich vor. Du weißt schon, wo man herkommt, was man macht …“

„Hi!“, sagte Alan übertrieben jovial. „Ich bin der stellvertretende Polizeichef Dean Sinclair, der die Besitzerin überwacht, für den Fall, dass sie einen Besuch von ihrem Exfreund, dem Schwerverbrecher, bekommt.“

„Ja, von wegen. Die Besitzerin saß direkt neben mir.“

Er erinnerte sich nur zu gut an Reva Macklin. Ihre Hände hatten sich einmal zufällig berührt, und es hatte sich gut angefühlt. Viel besser, als ihm recht war. Sie war zerbrechlich und stark zugleich, hatte dieses besondere Etwas.

Und sie war weitaus attraktiver als das alte, groß gerasterte Foto oder der Blick durchs Teleskop zeigten. Erst aus nächster Nähe entfaltete sich ihre ganze Schönheit – ihr perfekter Teint, der Schimmer in ihrem Haar, der Glanz in ihren großen braunen Augen. Außerdem hatte er noch immer ihren Duft in der Nase, nach Zimt und Erdbeeren. Wenn er die Augen schloss …

„Was hast du also gesagt?“, fragte Alan.

„Dass ich ein Handwerksunternehmen habe.“

Alan klappte der Unterkiefer herunter. „Du?“

„So witzig ist das auch wieder nicht.“

„Und wie. Du bringst deinen Wagen zum Ölwechsel in die Werkstatt, lebst in einer Wohnung ohne Balkon oder Garten. Im ganzen Leben hast du noch nie was repariert. Weißt du überhaupt, wie ein Hammer aussieht?“

„Natürlich“, schnappte Dean. „Jetzt krieg dich wieder ein.“

„Wie denn?“, begann Alan, noch immer lachend.

„Ich hatte keine Zeit, mir was Besseres auszudenken“, unterbrach ihn Dean. „Außerdem hat sie mich letzte Nacht auf ihrem Grundstück erwischt.“

„Du meinst die Lady mit den langen Beinen ist Reva Macklin?“

„Jawohl. Ich wusste es gleich, als sie sich vorstellte. Sie hat diese leicht rauchige Stimme.“

Die ein Mann so schnell nicht vergaß.

„Da ich ihr schon erzählt hatte, dass ich mich für Architektur interessiere, musste ich mir was einfallen lassen, was dazu passt. Mein Schwager ist Bauunternehmer und repariert alte Häuser, daher bin ich darauf gekommen. Und alte Häuser gibt’s hier ja im Überfluss. Es war immerhin logisch.“ Dean warf Alan einen Blick über die Schulter zu. „Du bist übrigens mein Geschäftspartner.“

„Prima.“ Alan klang nicht begeistert.

Dean war in seinen Gedanken immer noch bei Reva Macklin. Er hatte einen völlig anderen Typ Frau erwartet. Eddie Pinchon war ein brutaler Krimineller. Was hatte Reva nur in ihm gesehen? Er betrachtete das alte Foto. Entweder hatte sie sich in acht Jahren völlig verändert, oder sie spielte eine Rolle. Aber war sie eine so gute Schauspielerin?

Im Allgemeinen hatte er ein gutes Gespür für Menschen. Man konnte ihn nicht anlügen, und Falschheit entdeckte er schon von Weitem. Die Reva, die er heute kennengelernt hatte, war echt. Sie gab sich freundlich, ohne zu vertraut zu tun, behielt eine professionelle Distanz, ohne wie ein Snob zu wirken. Ihre natürliche Gastfreundschaft war ganz im Stil einer echten Südstaatenlady.

„Wenn du als Reva Macklins neuer Handwerker ins Haus kommst, könntest du vielleicht ein paar Wanzen platzieren“, sagte Alan nachdenklich.

„Wir haben keinen Durchsuchungsbefehl.“

„Inoffiziell“, erwiderte Alan schnell. „Und wenn du sogar bis ins Gästehaus kämst …“

„Nein“, widersprach Dean. „Nicht ohne Absegnung von oben.“

Alan schüttelte den Kopf. „Wir können nicht mal jeden Eingang zum Restaurant beobachten, und das Gästehaus bekommt man von hier überhaupt nicht in den Blick. Immerhin sind wir nur zu zweit. Pinchon kann jederzeit hier auftauchen, und wenn wir nicht zufällig in die richtige Richtung schauen, geht er uns glatt durch die Lappen.“

Dean wusste, dass Alan recht hatte, dennoch behagte ihm die Idee nicht. Sein Partner kritisierte ihn oft genug dafür, dass er sich so strikt an die Regeln hielt, während andere Beamte sie ohne Bedenken beugten oder brachen. Dean wollte Pinchon genauso dringend wieder einfangen wie Alan, doch er sah nicht ein, dass er deshalb seine Arbeitsethik vergessen sollte.

„Gib uns ein paar Tage Zeit. Miss Macklin hat hier ein gut gehendes Geschäft, sie wird nicht Hals über Kopf verschwinden. Wenn Eddie auftaucht, kriegen wir ihn.“

„Ich glaube trotzdem, dass eine Wanze nicht schaden könnte“, murmelte Alan.

Dean stand auf. In diesem Punkt würde er sich mit seinem Partner nie einig werden. „Ich gehe in die Stadt“, sagte er.

Da die Stadt hier aus einer Reihe von Geschäften in roten Ziegelhäusern bestand, die gerade mal einen Kilometer entfernt lagen, war das keine große Expedition.

„Bring mir was zum Essen mit“, gähnte Alan.

Es war angenehm, an die frische Luft zu kommen. Revas Gäste waren mittlerweile wieder abgefahren, und die Straßen lagen ruhig und verlassen da. Dean konnte sogar die Blätter der Bäume in der leichten Brise rascheln hören. Wie von selbst verlangsamte er seine Schritte, als ob Eile hier fehl am Platz wäre.

Auch in der Geschäftsstraße ging alles seinen ruhigen Gang. Es gab einen Lebensmittelladen, eine Modeboutique, einen Friseur, einen Schönheitssalon. Und einen kleinen Eisenwarenladen.

Eine Stunde später und um einige Hundert Dollar ärmer machte sich Dean auf den Heimweg. Seine Einkaufstaschen waren schwer, und er hoffte, dass er alles hatte, was er brauchte. Jeans, ein paar billige T-Shirts, Arbeitsstiefel, eine Baseballkappe und einen Hammer.

Er hatte sich die Auswahl angesehen und sich gefragt, was sein Schwager Nick kaufen würde. Das erleichterte die Entscheidung. Mittlerweile wusste wahrscheinlich ganz Somerset, dass er der neue Handwerker war, da jeder, mit dem er zu tun hatte, dieselben Fragen gestellt hatte wie Revas Gäste.

Dabei hatte er in seinem ganzen Leben kaum je einen Nagel in die Wand geschlagen.

In einer weiteren Tasche befand sich Alans Abendessen. Er hatte es in dem Delikatessen- und Bäckereigeschäft gekauft, das neben dem Schönheitssalon lag. Es war tatsächlich mehr eine Bäckerei als ein Delikatessengeschäft, und da es um drei Uhr schloss, war er gerade noch rechtzeitig gekommen. Die rundliche Frau hinter der Theke hatte sich als Louella Vine vorgestellt und war offenbar entzückt, ihn zu sehen. Vielleicht lief das Geschäft ja so schlecht, dass jeder Kunde eine angenehme Überraschung war. Aber vielleicht war sie auch nur eine extrem extrovertierte Frau, die kein Problem hatte, mit Fremden ein Gespräch anzufangen.

Als er hinter sich schnelle Schritte hörte, blickte er über die Schulter und sah zwei kleine Jungen, einer hellhäutig und blond, der andere schwarz und einen Kopf größer. Sie waren dabei, ihn einzuholen, und er trat zur Seite, um sie vorbeizulassen. Stattdessen blieben sie stehen.

„Hi!“, rief der Blondschopf und blieb direkt vor ihm stehen. „Wer bist du?“

Der andere Junge blieb hinter seinem Freund stehen und beobachtete Dean misstrauisch.

„Hat euch niemand beigebracht, nicht mit Fremden zu sprechen?“, mahnte Dean streng.

„Bist du denn gefährlich?“, fragte der blonde Junge mit großen Augen, wenig beeindruckt von Deans harschen Worten.

„Nein.“

Der Kleine grinste. „Ich heiße Cooper. Ich kenne jeden, der in der Straße wohnt, aber dich nicht. Das ist Terrance.“ Er deutete mit dem Daumen auf den Jungen hinter ihm. „Er ist mein bester Freund. Wir gehen in die erste Klasse.“ Cooper sprach schnell und ohne Pause. „Letztes Jahr waren wir im Kindergarten, dort sind wir beste Freunde geworden, aber ich kenne ihn schon, seit ich klein war.“

Der Junge redete wie ein Wasserfall. Als er eine Pause zum Luftholen machte, fragte Dean: „Wohnst du hier in der Straße?“

„Ja!“

Na wunderbar. „Okay, Cooper, ich bin Mr Sinclair. Ich bin neu hier. Und jetzt zieht ab und sprecht keine Fremden mehr an.“ Dean setzte sich wieder in Bewegung, doch die Jungs folgten ihm.

„Hast du Kinder?“, fragte Cooper.

„Nein“, erwiderte Dean kurz angebunden.

„Schade. Wir brauchen mehr Kinder in Somerset, fürs Baseballteam. Wir sind nicht sehr gut bisher. Besonders fehlt uns ein guter Werfer. Warum hast du keine Kinder? Magst du Kinder nicht?“

Beinahe hätte Dean brutal ehrlich Nicht wirklich gesagt. „Kinder sind okay“, antwortete er stattdessen. Im Stillen fügte er hinzu: solange es nicht meine sind. „Ich habe eine Nichte und drei Neffen.“

„Kommen sie dich mal besuchen?“

„Wahrscheinlich nicht. Außerdem sind sie noch zu klein für Baseball.“

„Oh“, machte Cooper enttäuscht.

Dean dachte an seine wachsende Verwandtschaft. Der Sohn seiner Schwester war zwei und in der Trotzphase, Boones Kleine völlig verwöhnt, und die Zwillinge seines anderen Bruders Clint waren noch Säuglinge. Er hatte nur einen Blick auf die beiden zappelnden Würmchen geworfen und Clint gesagt, er solle ihn anrufen, wenn sie sprechen konnten. Wieso fand alle Welt Babys nur so süß?

Diese Einstellung machte ihn wohl nicht gerade zu einem freundlichen Onkel im Sinne des Wortes.

Die Kinder hatten ihn jetzt in die Mitte genommen. Terrance versuchte, einen Blick in die Einkaufstüten zu erhaschen, und machte sich nicht mal die Mühe, es unauffällig zu tun.

Zum Glück war er fast bei seinem Quartier angelangt.

„Und was ist mit dir?“, fragte er Terrance. Der Junge zuckte zusammen, als hätte er ihn erwischt – was ja auch stimmte.

„Was?“

„Wünschst du dir auch, dass mehr Kinder in die Stadt ziehen?“

Der Junge dachte einen Moment ernsthaft über die Frage nach. „Nicht wirklich. Ich habe meinen besten Freund Cooper und meinen zweitbesten Freund Johnny, zwei Brüder und meinen Dad und meine Mom. Das ist genug.“ Er klang zufrieden mit seinem jungen Leben.

„Kluges Kind“, murmelte Dean.

„Aber wir könnten wirklich einen Werfer gebrauchen“, fügte Terrance nachdenklich hinzu.

Dean blieb stehen. „Hier wohne ich“, sagte er. Beinahe hätte er die Kinder mit einer Handbewegung weggescheucht, doch er nahm sich zusammen.

„Das ist Miss Evelyns Haus“, sagte Cooper und nickte weise. „Iss nicht von den Zuckerkeksen“, fügte er mit Grabesstimme hinzu.

Dean wollte gerade fragen warum, als er abgelenkt wurde.

Reva Macklin kam aus dem Restaurant und trat im Schatten der Bäume auf den Bürgersteig. Wieso sah sie nur so aus, als wäre sie von einem goldenen Schimmer umgeben? Sie ließ ihn an Sonne und Zimt denken, Erdbeeren und … lieber Himmel, das war eine Frau, die sich im Kopf eines Mannes festsetzen und ihn langsam verrückt machen konnte.

Sie kam auf ihn zu, und für einen Augenblick sah Dean nichts anderes. Gefährlich. Dabei trug sie nicht einmal etwas Aufreizendes. Ganz im Gegenteil, sie kleidete sich einer Kleinstadt angemessen, schlicht und etwas altmodisch.

Dennoch gelang es ihm nicht, den Blick abzuwenden, als sie die Straße überquerte. Ihr Haar trug sie jetzt offen, und es fiel ihr bis auf die Schultern. Es war nicht lockig, aber auch nicht völlig glatt, sondern umschmeichelte in weichen Wellen ihr Gesicht. Sonnenlicht, gefiltert von den Bäumen, setzte kleine Glanzlichter darauf.

Sie lächelte ihn kurz und freundlich an. Dean fragte sich, was wohl als Nächstes passieren würde. Warum war sie hier? Vielleicht brauchte sie auf der Stelle einen Handwerker. Ein Rohrbruch. Ein loses Brett. Eine knarrende Stufe.

Na schön, er hatte nicht den leisesten Schimmer von Reparaturen jeglicher Art, aber für sie würde er es probieren.

Ganz kurz dachte er daran, dass Reva vielleicht aus einem viel persönlicheren Grund auf ihn zukam. Sicher, sie kannte ihn kaum, es gab keine Verbindung zwischen ihnen. Aber vielleicht …

„Cooper Macklin“, sagte sie streng und wandte sich dem Kind zu. „Du bist spät dran.“

„Ich musste nachsitzen.“

Reva hatte die Straße überquert und stand jetzt mit auf der Brust verschränkten Armen vor ihnen. „Was war es diesmal?“

„Ich wollte Mrs Berry nur helfen“, erklärte er. „Sie hat uns eine Geschichte vorgelesen, aber sie ganz falsch erzählt. Ich kenne das Buch und ich weiß, dass sie anders geht!“

„Cooper!“, rief Reva mit dem nötigen Entsetzen.

„Ich wollte nur helfen!“, wiederholte er leidenschaftlich. „Aber sie wollte keine Hilfe. Sie wollte die Geschichte ganz falsch erzählen.“

„Ich bin auch da geblieben“, erklärte Terrance ruhig. „Damit Cooper nicht allein nach Hause zu gehen brauchte.“

Dean war mehr als überrascht, er war überwältigt. Sein Herz schlug schneller, und sein Mund war trocken. Ungläubig blickte er von Reva zu Cooper.

Erste Klasse, das bedeutete, der Junge war sechs Jahre alt. Vor knapp sieben Jahren hatten sie Eddie Pinchon verhaftet. Cooper war Revas Sohn, und er hatte blonde Haare, blaue Augen, Grübchen und war ohne Furcht, ganz wie sein Vater.

Ganz wie Eddie Pinchon.