16. KAPITEL
Dean saß lange in Revas dunklem Wohnzimmer, nachdem er sie zu Miss Evelyns Haus begleitet hatte. Sicherlich würde sie trotzdem nicht viel Schlaf bekommen, aber zumindest brauchte sie keine Angst zu haben, dass Eddie an ihrem Bett stehen würde, wenn sie aufwachte.
Das Gästehaus war zu still ohne Coopers Geplapper und Revas Lachen. Ohne sie wirkte das sonst so charmante Haus leer und kalt.
Es war nicht richtig, dass Reva fliehen musste und dadurch ihr Restaurant verlor. Sobald Eddie verhaftet war, konnte sie zurückkommen und so tun, als wäre nichts gewesen.
Es klang wie ein guter Plan, doch irgendwie hatte er das Gefühl, dass es so einfach nicht sein würde.
Reva vermied Deans Blick, als sie nebeneinander in die Stadt gingen. Sie brauchten beide Bargeld, und er hatte darauf bestanden, sie zu begleiten. Was ihr nicht unrecht war, solange sie nicht wusste, wo Eddie steckte.
Außerdem hatte sie noch immer nicht erfahren, wer in ihr Restaurant eingebrochen war. Dean sagte, dass er diesen Fall schnell aufklären konnte.
Im Moment sah er allerdings bemitleidenswert aus.
„Hast du überhaupt geschlafen?“, fragte sie.
„Nein.“
Es sollte ihr egal sein. Sie wollte ihn hassen, doch es gelang ihr nicht.
„Versuch, einen Mittagschlaf zu machen“, schlug sie vor. „Nachdem Cooper und ich die Stadt verlassen haben.“
Dean seufzte. „Was das angeht …“
„Du wirst mir nicht befehlen, dass ich hier bleibe, oder?“, fragte sie ärgerlich.
„Nein“, erwiderte er schnell. „Es geht hier nicht um Befehle. Aber ich habe letzte Nacht über deine Situation nachgedacht und jede Möglichkeit auf Vor- und Nachteile überprüft.“
Kein Wunder, dass er nicht geschlafen hatte.
„Ich glaube, es wäre besser, wenn du hier bleibst.“
Sie lachte ungläubig. „Machst du Witze?“
„Nein. Ich habe wirklich jedes Detail bedacht. Eddie kommt hierher, das wissen wir beide. Was, wenn er sofort herausfindet, dass du nicht mehr hier bist? Wenn er zum Restaurant kommt, werde ich ihn erwarten. Aber wenn er jemanden in der Stadt fragt oder die Nachbarn, und ich ihn gar nicht erst zu Gesicht bekomme, wird er dir folgen.“
Ihr wurde eiskalt. Am liebsten hätte sie Dean widersprochen, doch sie wusste, dass er recht hatte.
„Was schlägst du also vor?“
„Cooper bleibt bei den Hardys, du schläfst in Miss Evelyns Haus, ich wohne im Gästehaus und warte drauf, dass er auftaucht.“
Der Gedanke, dass Dean und Eddie sich begegnen würden, machte ihr Angst.
„Ich weiß nicht …“
„Willst du für den Rest deines Lebens fürchten, dass er dich eines Tages findet?“
Natürlich nicht. „Ich werde darüber nachdenken.“
„Tu das. Heutzutage ist es nicht so einfach, sich zu verstecken. Du müsstest deinen und Coopers Namen ändern, dir die Haare färben. Und selbst dann könntest du nicht sicher sein, dass er nicht an der nächsten Ecke auf dich wartet.“
Die Vorstellung, was es für sie und Cooper bedeuten würde, so zu leben, ließ sie erschauern.
Auf dem Weg zur Bank blieb Dean vor der Bäckerei stehen. Louella blickte ihm finster entgegen, als er an die Theke trat.
Reva wusste nach den Telefongesprächen letzte Nacht, dass es Louella gewesen war, bei der das Gerücht über sie und Dean ihren Anfang genommen hatte, doch sie konnte sich nicht vorstellen, warum die Frau in ihr Restaurant einbrechen sollte.
Gelassen bestellte Dean eine Tasse Kaffee. Reva schüttelte den Kopf, als er sie fragte, was sie wollte. Miss Evelyn, die über den neuen Gast erstaunlich wenig überrascht war, hatte ihr ein herzhaftes Frühstück zubereitet.
Dean zahlte den Kaffee. Als Louella ihm das Wechselgeld gab, fragte er beiläufig: „Wonach haben Sie gesucht?“
Sie zuckte zusammen, und die Münzen fielen auf die Theke und rollten zu Boden. „Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden.“ Schnell hockte sie sich hin, um die Münzen aufzusammeln.
„Aber sicher“, erwiderte Dean. „Sie sind in Revas Restaurant eingedrungen und haben nach etwas gesucht. Ich weiß bloß nicht, wonach.“
„Das ist doch lächerlich“, fauchte Louella, kam wieder hoch und knallte die Münzen auf den Tresen. Ihr Gesicht war hochrot.
Dean stützte sich auf die Theke. „Ich nehme an, Sie haben das Schloss an der Küchentür geknackt. Mit einer Kreditkarte? Das ist ein alter Trick. Nachdem ich das Schloss ausgewechselt hatte und das nicht mehr funktionierte, sind Sie durch ein Fenster eingestiegen. War es nicht verriegelt, oder haben Sie das auch aufgebrochen?“ Er nahm einen großen Schluck Kaffee. „Kommt wohl nicht drauf an. Der Tatbestand des Einbruchs ist erfüllt.“
Louellas Gesichtsfarbe wechselte von rot zu kalkweiß. „Sie können nicht beweisen …“
„Wie hätten Sie mich sonst sehen sollen?“, unterbrach Dean sie. „Selbst wenn Sie um diese Zeit einen Spaziergang gemacht hätten, das Fenster kann man vom Bürgersteig aus nicht sehen.“
„Sie geben es also zu!“, sagte sie, den Zeigefinger anklagend auf ihn gerichtet.
„Wir reden im Moment nicht über mich. Was den Beweis angeht … Wenn ich den Sheriff bitte, Fingerabdrücke von der Fensterbank zu nehmen, wird er meine und Ihre finden, nehme ich an. Was denken Sie?“
„Ich denke, dass Sie jetzt gehen sollten.“
„Nicht, bevor ich weiß, wonach Sie gesucht haben. Es gab keine Anzeichen für Vandalismus, nichts fehlte. Sie haben nur alles durchsucht, und ich will nur zwei Dinge: Wissen, warum, und dass Sie damit aufhören. Ansonsten muss ich den Sheriff anrufen und Anzeige erstatten.“
Louella schien immer kleiner zu werden, und schließlich blickte sie zum ersten Mal in Revas Richtung. „Ich wollte doch bloß das Rezept für ihre Schokoladentorte!“
Dean verschluckte sich beinah an seinem Kaffee. „Sie haben ein Rezept gesucht?“
„Jeder schwärmt davon, und ich bin es leid, ständig zu hören, wie fantastisch diese verdammte Torte ist. Ich dachte, dass das Geschäft besser laufen würde, wenn ich sie hier anbiete.“
„Warum haben Sie nicht gefragt?“ Reva stand auf und trat an den Tresen. „Ich hätte Ihnen das Rezept gegeben.“
„Das sagen Sie jetzt, aber wenn ich tatsächlich gefragt hätte, wäre Ihnen schon ein Grund eingefallen, warum nicht.“
„Das Rezept wird in meinem nächsten Kochbuch erscheinen!“, rief Reva. „Es ist kein großes Geheimnis. Warum hätte ich es nicht mit Ihnen teilen sollen?“
Louella starrte sie nur aus großen Augen an.
„Und warum hassen Sie mich so sehr?“, fuhr Reva fort. Sie hatte sich immer darüber gewundert, und es war eine gute Gelegenheit, den Grund herauszufinden.
Louella verzog das Gesicht. „Sie haben es so leicht mit Ihrem tollen Restaurant und den Artikeln in allen Zeitschriften, während ich hier sitze und ums Überleben kämpfe. Es ist einfach nicht fair.“
Dean fluchte leise und stellte die Tasse ab. „Lass uns gehen.“
„Nein“, widersprach Reva. Sie stützte die Hände auf den Tresen. „Ich habe auch meine Sorgen.“ Sie würde Louella nicht alles erzählen, aber sie konnte sich einfach nicht vorwerfen lassen, dass in ihrem Leben alles Sonnenschein war. Und schon gar nicht heute.
„Im ersten Jahr musste ich einen Kredit aufnehmen, um das Restaurant überhaupt halten zu können. Oft genug hatte ich Glück, wenn am Ende des Monats gerade genug übrig war, um meinem Sohn was zu essen zu kochen, wenn die Rechnungen und das Personal bezahlt waren. Ja, inzwischen läuft es besser, aber ich habe hart gearbeitet, um so weit zu kommen. Niemand hat mir das Restaurant auf einem Silbertablett serviert.“
„Ich wollte doch nur das Rezept.“
Reva wandte sich zum Gehen. „Sie können es haben. Kommen Sie heute Nachmittag vorbei, und ich mache Ihnen eine Kopie.“
Dean folgte ihr nach draußen, und sie gingen weiter zur Bank.
„War es wirklich so schwer?“, fragte er.
„Ja.“
„Und du hast nie daran gedacht, etwas von Eddies Geld zu nehmen.“
Sie zog die Augenbrauen hoch. „Natürlich habe ich daran gedacht, aber es nie über mich gebracht. Ich wollte nicht, dass mein Erfolg auf Drogengeld basiert. Ich nehme an, das findest du dumm oder lächerlich, aber …“
„Nein“, sagte er und hielt ihr die Tür zur Bank auf. „Weder noch. Und ich bin auch nicht überrascht.“
„Du kennst mich nicht gut genug, um das zu sagen“, widersprach sie, als sie an ihm vorbei in die kühle Schalterhalle trat.
„Oh doch“, sagte er und ließ die Tür hinter ihr zufallen.
Dean entschied, dass er etwas Schlaf nachholen konnte, während der Gästeansturm im Restaurant am größten war. Eddie würde höchstwahrscheinlich nachts kommen.
Doch Reva war nicht allein. Solange Pinchon frei herumlief, wurde sie ständig überwacht. Heute Mittag würde der Sheriff im Restaurant essen und sie dabei im Auge behalten, bis Dean ihn ablöste.
Es hatte Dean zunächst überrascht, dass sie so schnell zugestimmt hatte, in Somerset zu bleiben. Doch dann wurde ihm klar, dass sie lieber sich selbst in Gefahr brachte, als –Coopers Leben mit einer kopflosen Flucht durcheinanderzubringen.
Natürlich hätte Dean Alan anrufen sollen. Seine Abteilung hätte eine ganze Armee geschickt, wenn er ihnen mitteilte, dass Reva Pinchons Geld hatte. Doch entgegen seiner Natur, immer alle Regeln zu beachten, hatte er Alan noch nicht informiert. Und er würde es auch nicht tun, es sei denn, ihm blieb keine andere Wahl.
Wie konnte er Reva in Schwierigkeiten bringen für etwas, das nur ein dummer Fehler war, der auf Naivität und jugendlicher Unerfahrenheit beruhte? Und wenn man erst mal auf sie aufmerksam geworden war, konnte die Sache schnell unangenehm werden. Eventuell würde der Staatsanwalt sie in Verbindung bringen mit einigen von Eddies früheren Verbrechen. Wenn es zu einem Prozess kam, hatte sie zwar gute Chancen, weil es keine Beweise gab, doch bis dahin war ihr Leben und alles, was sie sich aufgebaut hatte, bereits gründlich zerstört.
Schließlich gelang es Dean, sich von diesen düsteren Gedanken abzulenken und einzuschlafen. Seine Waffe lag auf dem Nachttisch, die Türen waren abgeschlossen.
Er schlief unruhig, aber traumlos, und fuhr erschrocken auf, als ein Geräusch ihn weckte.
In einer fließenden Bewegung griff er nach der Pistole und stand auf. Der Radiowecker zeigte 4:15 in roten Ziffern. Er hatte länger und tiefer geschlafen als beabsichtigt.
Als Reva die Tür öffnete und die Waffe in seiner Hand sah, zuckte sie erschrocken zusammen. Genau wie er.
„Warum schleichst du hier herum?“, fragte er und legte die Pistole schnell weg. Reva warf einen kurzen Blick darauf, ging dann zum Schrank.
„Ich brauche ein paar Kleider, und ich dachte, du schläfst.“
„Wo ist Andrews?“
„Er wartet auf der Veranda auf mich.“
Dean seufzte und strich sich mit beiden Händen das Haar aus der Stirn, während Reva in ihrem Schrank wühlte. Er spürte ihre Anspannung deutlich, obwohl sie ihm den Rücken zuwandte.
Dies war seine Chance, zu erklären, wie ihm die ganze Sache aus der Hand geglitten war. Aber würde sie zuhören?
„Ich musste so handeln“, sagte er leise.
„Zweifellos“, erwiderte sie kühl.
„Es war nie meine Absicht, dich zu verletzen.“ Er stand auf und stellte sich zwischen sie und die Waffe, so dass sie sie nicht anzusehen brauchte.
Reva drehte sich um, einen Bügel mit einem hellgrünen Kleid in der Hand. Jetzt war sie ärgerlich. „Dachtest du, das Flittchen auf deinem Foto hat keine Gefühle? Stell dir vor, selbst damals hatte ich welche!“
„Ich hatte nie geplant, dass wir uns näherkommen.“
„Was war denn dein Plan?“
„Reva …“
„Ach, vergiss es einfach.“ Sie drehte sich schnell um und ging zur Tür. Im Türrahmen blieb sie stehen und wandte sich zu ihm um.
Traurig blickte sie ihn an und sagte: „Warum konntest du nicht einfach ein Handwerker sein?“
Dean wollte ihr folgen, als sie sich umdrehte und in den Flur ging, doch dann blieb er im Türrahmen stehen. Es gab wirklich nichts, was er sagen konnte. Sie würde ihm nicht glauben, dass er unter der ganzen Sache genau so litt wie sie.
Das Einzige, was er tun konnte, war, sie zu beschützen und Eddie zu verhaften. Und danach würde er ihr den Gefallen tun und aus ihrem Leben verschwinden, damit sie wieder Frieden fand.