1. KAPITEL
Jemand beobachtete ihr Haus. Reva blieb überrascht stehen, und ihr Herzschlag beschleunigte sich.
Der Fremde stand reglos im Schatten einer alten Eiche und ließ ihre Haustür nicht aus den Augen. Sie hatte das Licht in der Küche brennen lassen, also vermutete er wahrscheinlich, dass jemand zu Hause war.
Der Rest der Straße lag friedlich und verlassen da. Es war zwar noch vor neun, doch bereits dunkel. Nur die spärlich gesäten Straßenlaternen und ein paar Gartenleuchten gaben etwas Licht, doch Reva hatte den Heimweg zum größten Teil im Dunkeln zurückgelegt. Normalerweise machte ihr das nichts aus, doch natürlich begegnete sie sonst auch keinem Fremden.
Der Mann hatte sich seinen Standort gut ausgesucht. Der Stamm der Eiche verdeckte ihn fast völlig, und wenn nicht der Mond geschienen hätte, hätte Reva ihn überhaupt nicht bemerkt.
Sie kam vom Haus ihrer Freundin Tewanda Hardy, wo sie ihren Sohn Cooper abgeliefert hatte. Cooper und Tewandas Sohn Terrance waren beste Freunde und übernachteten oft miteinander. Es war so ein herrlicher Frühlingsabend, dass sie beschlossen hatten, die knapp zwei Kilometer zu Fuß zu gehen. Nach einem angeregten Gespräch mit ihrer Freundin und Coopers obligatorischem Gutenachtkuss hatte sie ihre Baseballkappe wieder aufgesetzt und sich auf den Heimweg gemacht.
Jetzt war sie froh, dass sie das Auto in der Garage gelassen hatte. Wenn sie nicht die Abkürzung durch den Garten genommen hätte, wäre ihr der Fremde gar nicht aufgefallen.
Sie sagte sich, dass sie in der Dunkelheit ebenfalls schwer zu entdecken war und betrachtete den Mann. Obwohl er sich auf ihrem Grundstück befand, fühlte sie sich nicht bedroht. Zum einen trug er einen Anzug, was ja nicht unbedingt die gängige Berufskleidung für einen Einbrecher war. Und zum anderen verhielt er sich auch sonst nicht verdächtig, indem er sich zum Beispiel nervös umschaute. Unschlüssig nagte sie an ihrer Unterlippe. Ihr Instinkt hatte schon früher versagt. Dies war sicherlich kein guter Anlass, ihm wieder zu vertrauen.
Bevor sie sich entschieden hatte, was sie tun sollte, bewegte sich der Fremde. Er stieß sich vom Baumstamm ab, machte eine Kehrtwende und kam direkt auf sie zu.
Reva hatte eine Reihe von Möglichkeiten, aber keine Zeit, lange darüber nachzudenken. Wegrennen. Verstecken. Stehen bleiben.
Der Fremde drehte den Kopf und blickte in ihre Richtung. Zum Verstecken war es also zu spät. Er hatte lange Beine, also würde auch Flucht nichts nützen. Ihre Nachbarn waren alle ältere Leute. Wenn sie um Hilfe schrie, würde irgendjemand den Sheriff benachrichtigen, aber bis dahin war sie auf sich gestellt.
Reva blickte sich hektisch um und sah einen langen Ast, den die Gärtner vom Birnbaum abgesägt, aber noch nicht entsorgt hatten. Sie machte einen Schritt zur Seite, ging in die Hocke und griff danach, federte dann wieder hoch und umfasste ihn mit beiden Händen.
„Hi“, sagte der Fremde gelassen.
Reva entspannte sich ein wenig, ließ den Ast jedoch nicht los. „Hi. Wieso schleichen Sie hier rum?“
Sie wollte ihn ja nicht gleich mit der Nase draufstoßen, dass er ihr Haus beobachtet hatte.
„Ich bin nicht …“ Er zögerte. „Bin ich herumgeschlichen?“ Zwar konnte sie im Dunkeln seine Gesichtszüge nicht genau erkennen, doch sie sah, dass er etwas schief lächelte. „Na ja, ich kann mir denken, warum es so gewirkt haben muss. Ich habe im Haus gegenüber ein Zimmer gemietet. Und da ich erst vor etwa einer Stunde hier angekommen bin, wollte ich mich ein wenig umsehen.“
Er kam auf sie zu und streckte die Hand aus. „Mein Name ist Dean Sinclair.“
Reva trat einen Schritt zurück. Vielleicht sagte er die Wahrheit, vielleicht aber auch nicht. Jedenfalls hatte sie nicht vor, ihre einzige Waffe fallen zu lassen, um ihm die Hand zu schütteln, auch wenn er normal und höflich klang und einen Anzug mit Krawatte trug. Auch ihr Name ging ihn überhaupt nichts an.
Als sie seine Geste nicht erwiderte, verschwand sein Lächeln. „Sie haben nicht vor, mich mit dem Stock zu schlagen, oder?“
Die Frage enthielt die Spur einer Drohung, und sie war froh, dass sie auf der Hut gewesen war.
In Somerset gab es so gut wie keine Verbrechen. Und unbefugtes Betreten eines Grundstücks kann man ja auch nicht gleich so nennen, dachte Reva, den Ast fester umklammernd. Dennoch war etwas an diesem Mann, das sie nicht mochte. Die Tatsache, dass sie ihn dabei erwischt hatte, wie er ihr Haus beobachtete, gar nicht mitgezählt.
„Nicht, wenn Sie mir keinen Grund dafür geben“, gab sie zurück.
Gleichmütig verschränkte er die Arme vor der Brust. Wieso hatte sie dennoch das Gefühl, dass seine Gelassenheit nur gespielt war?
„In diesem Viertel gibt es ein paar wunderbare alte Häuser“, sagte er mit seiner ruhigen, tiefen Stimme. „Ich bin nur ein bisschen herumgelaufen und habe sie mir angesehen, weil ich mich für die Architektur des 19. Jahrhunderts interessiere.“
„Die Details dieser Epoche kommen bei Tageslicht noch viel besser zur Geltung“, entgegnete Reva kühl.
„Wie gesagt, ich bin gerade erst angekommen.“ Er zuckte die Achseln. „Ich konnte es einfach nicht abwarten, mich umzusehen. Wohnen Sie in der Nähe?“
„Nein“, sagte sie. „Ich laufe nur hier im Dunkeln herum, um mir die Architektur anzusehen.“
Ihre Antwort bewirkte ein weiteres schiefes Lächeln auf dem Gesicht des Fremden. Er wirkte ganz eindeutig nicht wie ein Verbrecher, aber ganz harmlos war er auch nicht. Unter dem Anzug verbarg sich ein durchtrainierter Körper, das konnte sie an seinem Gang und seiner Haltung erkennen. Er hatte nichts Weiches an sich, wenn man seine Stimme nicht zählte.
Reva war vor Männern immer auf der Hut, besonders vor solchen wie diesem hier. Er war zu glatt, zu selbstsicher und zu sehr auf ihrem Grundstück. Von seinem Architekturfimmel konnte er seiner Großmutter erzählen.
„Ich gehe jetzt“, sagte er und trat einen Schritt zurück. „Ich würde sagen nett, Sie kennengelernt zu haben, aber leider weiß ich Ihren Namen nicht.“
Er hielt inne, doch sie schwieg.
„Und ich kann auch Ihr Gesicht nicht sehen“, fuhr er fort und legte den Kopf schräg, als würde das helfen. „Jedenfalls nicht unter der Schirmmütze. Aber wenn ich jemals eine misstrauische Frau sehe, die einen großen Ast mit sich rumträgt, werde ich auf jeden Fall Hallo sagen.“
Reva hob den Ast etwas höher. Flirtete er etwa mit ihr? Unmöglich. Sie beschloss, überhaupt nicht zu antworten.
„Tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt habe“, sagte er.
„Haben Sie nicht“, gab sie zurück.
Dean nickte, sah aber so aus, als glaubte er ihr kein Wort. Konnte er etwa hören, wie laut ihr Herz schlug? Oder hatte er das leichte Zittern in ihrer Stimme erkannt?
„Ich glaube, ich sollte meine Erkundungstouren ab jetzt tagsüber machen. Ich wusste nicht, dass hier so früh die Bürgersteige hochgeklappt werden.“
„Jetzt wissen Sie’s“, erwiderte sie knapp.
„Gute Nacht, Ma’am“, sagte er, senkte leicht den Kopf und drehte sich auf dem Absatz um. Reva beobachtete, wie er durch den Garten ging, die Straße überquerte und vor Evelyn Fisters Haustür stehen blieb. Tatsächlich stand in der Einfahrt des Hauses, in dem Dean angeblich das Zimmer mietete, ein ihr unbekannter Wagen.
Also hatte er vielleicht doch die Wahrheit gesagt. Vielleicht.
Dennoch nahm sie den Ast mit, als sie zum Haus ging.
Beschattungsjobs waren nicht gerade Deans Lieblingsaufgabe in seinem Beruf. Stunden-, tage- oder wochenlang herumzusitzen und darauf zu warten, dass sich etwas tat, war ein mühseliger, aber unumgänglicher Teil der Arbeit eines stellvertretenden Polizeichefs der Bundesbehörde.
Obwohl er gut geschlafen hatte, ging ihm seine derzeitige Aufgabe bereits auf die Nerven. Dabei waren er und sein Partner, Alan Tanner, erst seit dreizehn Stunden in Somerset, Tennessee, das mit seinen zweitausenddreihundertzweiundfünfzig Einwohnern nicht gerade eine Großstadt darstellte.
Alan, der die Nachtschicht übernommen hatte, stand auf, als Dean aus dem Schlafzimmer der gemieteten Mansarde kam. Nach sechs Stunden auf seinem Posten war er ganz offensichtlich müde.
Als Junggeselle war Alan dünn und drahtig gewesen, doch jetzt bekam er langsam einen Bauch, ein Anzeichen für die Kochkünste seiner Frau. Er war ein paar Jahre älter als Dean, bekam die ersten grauen Haare und marschierte stramm auf die vierzig zu.
Ihr neues Zuhause umfasste den gesamten dritten Stock des Hauses, das im Jahr 1820 gebaut worden war. Alles quietschte, knarrte oder brauchte dringend einen neuen Anstrich, doch immerhin hatte das Haus einen gewissen Charme.
Den großen Raum im dritten Stock hatte ihre Vermieterin ihnen als den Salon vorgestellt. Die Möblierung war älter als die reizende alte Dame selbst, und einige der Polstermöbel rochen etwas muffig. Doch ihr Quartier war sauber und lag in idealer Entfernung zu Miss Reva’s, dem Restaurant auf der anderen Straßenseite.
Sie hatten jeder ein Schlafzimmer, den Salon und ein Bad, dazu ein paar andere Räume, die sie nicht benutzen würden.
Alan stand von seinem Fensterplatz vor dem Teleskop auf und streckte sich. „Eine Person hat das Haus heute Morgen betreten.“
„So früh schon?“ Es war gerade erst acht, und das Restaurant servierte erst ab ein Uhr Mittagessen.
„Ja. Allerdings keine Ähnlichkeit mit Pinchon. Etwa eins fünfzig groß, weiße Haare, vierzig Kilo, und schätzungsweise dreiundneunzig Jahre alt.“
Alan gähnte und zog sich in sein Zimmer zurück, um ein paar Stunden Schlaf nachzuholen.
Die Linse des Teleskops war auf das große Südstaaten-Haus schräg gegenüber gerichtet. Dean ließ sich auf dem Stuhl beim Fenster nieder und betrachtete das weiße Gebäude. Das Ziel ihrer Beschattung, eine gewisse Reva Macklin, wohnte in dem Gästehaus hinter dem großen Gebäude, das zu einem beliebten Restaurant umgebaut worden war. Von ihrem Beobachtungspunkt aus konnten sie das Gästehaus nur teilweise sehen, weil es von der umlaufenden Veranda des Restaurants und ein paar Bäumen verdeckt war.
Deshalb hatte Dean sich letzte Nacht aufgemacht, um es aus der Nähe zu betrachten, wo er von einer mit einem Ast bewaffneten Anwohnerin gestellt worden war.
Er musste lächeln, als er daran dachte. Er hatte nur ihre Beine wirklich sehen können, aber die waren wundervoll geformt, lang und schlank.
Dieses Bild hatte ihm in der Nacht angenehme Gedanken beschert. Außerdem war ihm ihre leicht rauchige Stimme vom ersten Augenblick an unter die Haut gegangen.
„Glaubst du, er taucht wirklich hier auf?“, fragte Alan mit einem Gähnen.
Dean schob seine Träumerei von einer Frau, die er wahrscheinlich nie wieder sehen würde, zur Seite und konzentrierte sich wieder auf seinen Job. Er war hier, um einen geflohenen Verbrecher einzufangen.
Eddie Pinchon hatte ein lebenslängliches Urteil abgebüßt, bevor er vor zwei Tagen aus dem Gefängnis in Florida entkommen war. Laut seiner Akte galt der Mann als gemeingefährlich. Er war gewalttätig, intelligent, gierig und gelegentlich etwas verrückt. Die meiste Zeit schien er völlig normal zu sein, nur um dann etwas zu tun, was sich kein vernünftiger Mensch jemals einfallen lassen würde. Wie zum Beispiel einen Mann, der ihn bei einem Drogendeal betrogen hatte, mitten in einem Schnellimbiss vor Dutzenden von Zeugen umzubringen.
Dean blickte zu dem Foto, das sie an eine Wand neben dem Fenster gehängt hatten. Das acht Jahre alte Bild war mehrfach vergrößert worden und daher grob gerastert. Doch es würde reichen.
Reva war vor Eddies Verhaftung zwei Jahre lang seine Freundin gewesen. Auf dem einzigen Foto, das aufzutreiben war, lächelte sie glücklich. Sie war neunzehn und trug in allem etwas zu dick auf: zu viel Make-up, zu viele Ohrringe in einem Ohr, ein zu tiefer Ausschnitt, der ihre Vorteile großzügig zur Schau stellte. Ihr Haar war ganz offensichtlich blondiert. Nicht der Typ Frau, der Dean interessierte. Für ihn fiel sie in die Sparte Frauen, die man allgemein als billig bezeichnete.
Dennoch war sie recht hübsch, wenn man über das zu blonde Haar und die zu roten Lippen hinwegsah. Darunter lag eine klassische Schönheit, die auch ihre geschmacklose Aufmachung nicht völlig verdecken konnte.
Daher war er fast sicher, dass Pinchon den Weg nach Somerset finden würde. Reva war keine Frau, die ein Mann wie Pinchon ohne Bedauern zurückließ.
Andere Beamte beobachteten Pinchons Freunde und Familie, in der Hoffnung, dass der entflohene Häftling dumm genug war, seine Mutter oder alte Saufkumpane zu besuchen. Doch damit rechnete Dean eigentlich nicht. In Revas Fall hoffte Pinchon allerdings vielleicht, dass die Beamten sie übersehen hatten. Oder sein Verlangen nach ihr war einfach stärker als jede Vernunft.
„Ja“, sagte Dean leise mit einem Blick auf das Foto. „Er wird hier aufkreuzen.“
Alan ging nicht sofort zurück in sein Zimmer, sondern lehnte sich an den Türrahmen und seufzte. „Connie hasst diese Jobs.“
Connie war Alans zweite Frau, und es lief gut zwischen den beiden. Sie waren seit sechs Jahren verheiratet, hatten zwei Kinder – einen Jungen und ein Mädchen –, und Alan sprach von nichts anderem als Connie, wenn er auf einem Außenjob war. Nach ein paar Tagen ging es Dean oft auf die Nerven, von der wunderbaren Connie und den prachtvollen Kindern zu hören.
Alan klang so häuslich – und so glücklich. Diese Bilderbuchidylle konnte Dean manchmal fast auf die Palme bringen.
„Wie steht’s mit … wie hieß sie doch gleich?“, fragte Alan gut gelaunt. „Die Braunhaarige. Penny, Patty, Pansy …“
„Patsy“, antwortete Dean schroff.
„Genau“, fuhr Alan fort, als hätte er den Namen von Deans neuester Flamme nicht von Anfang an gewusst. „Ist sie wieder mal sauer?“
„Keine Ahnung“, erwiderte Dean. „Ich habe sie seit drei Monaten nicht gesehen.“
Sie schwiegen beide einen Moment lang, dann stieß Alan erleichtert die Luft aus. „Gott sei Dank. Sie war so ein … na ja, ich mag das Wort Biest nicht, aber wie soll man sie sonst bezeichnen? Ich bin froh, dass du’s endlich gemerkt hast und sie losgeworden bist. Das Einzige, was sie gut konnte, war sich beklagen. Du bist nie zu Hause, du bist zu oft zu Hause, ihr könnt keine Pläne machen …“ Alan unterbrach sich. „Jetzt warte mal. Drei Monate? Du hast vor drei Monaten mit ihr Schluss gemacht und mir nie einen Piep davon gesagt?“
Dean ließ das Haus gegenüber nicht aus den Augen. „Um die Wahrheit zu sagen, sie hat mit mir Schluss gemacht.“ Nicht, dass es ihm was ausmachte. Ihre Beziehung, wenn man es denn so nennen konnte, hatte schon lange vorher auf wackeligen Füßen gestanden.
„Autsch“, sagte Alan leise.
„Bist du nicht müde? Willst du nicht schlafen?“, fragte Dean, der das leidige Thema gerne fallen lassen wollte.
„Gleich.“ Alan kam näher. „Weißt du, was dein Problem ist?“
Dean seufzte. „Nein, aber ich bin mir sicher, du wirst mich nicht im Ungewissen darüber lassen.“
„Du hast immer nur den Job im Kopf“, sagte Alan liebenswürdig.
„Na und? Du doch auch.“
„Nein, schon lange nicht mehr.“
Dean sah aus dem Augenwinkel, wie Alan den Kopf schüttelte. „Ich liebe meine Arbeit, und ich würde nie was anderes machen wollen. Aber es hat mich meine erste Ehe gekostet, dass ich nach Feierabend auch noch über den Job nachdachte. Wenn ich jetzt nach Hause gehe, bleibt die Arbeit draußen. Ohne das wäre meine zweite Ehe auch schon vor Jahren den Bach runtergegangen.“
„Okay, ich geb’s zu, du bist ein Heiliger.“
„Nein, das bist du, mein Lieber“, schoss Alan zurück. „Du hast diesen Pfadfinder-Komplex. Du willst die ganze Welt retten und alle in deiner Familie. Und die ganze Zeit über hältst du dich an alle Regeln. Hast du dich nie gefragt, wer sich um dich und deine Bedürfnisse kümmert?“
Dean blickte seinen Partner mit hochgezogenen Brauen an. „Hast du wieder mal zu viele Talk-Shows geschaut?“
Alan wurde rot. „Nein, aber es gibt da diese neue Show mit einem Psychologen, der ein paar echt gute Ansätze hat …“
„Geh ins Bett.“ Dean wandte sich wieder dem Teleskop zu und atmete auf, als er hörte, dass Alan in sein Zimmer zurückging. Wenn sein Partner nun auch noch damit anfing, Deans Privatleben zu analysieren, würde es ein verdammt langer Beschattungsjob werden.
Als neben dem Haus auf der anderen Straßenseite eine Frau auftauchte, richtete er das Teleskop auf sie. Ihr Gang war beschwingt, doch außer einem langen gelben Rock, der ihr bis zu den Waden reichte, konnte er nichts sehen, weil ein tief hängender Ast ihm die Sicht versperrte.
Erst als sie weiterging, bekam er sie voll in den Blick. Zuerst war er sich sicher, dass es sich nicht um Reva Macklin handelte. Ihr Haar war dunkelblond und zu einem dicken Pferdeschwanz gebunden. Ihr schlichtes Kleid umspielte lose ihren Körper. Wenn sie überhaupt Make-up trug, dann war es sehr dezent. Doch als Dean sich auf die Merkmale ihres Gesichts konzentrierte, die Form ihrer Nase und die hohen Wangenknochen, wurde ihm klar, dass er doch das Zielobjekt vor sich hatte.
Sie war erwachsen geworden und hatte sich zu einer klassischen Schönheit gemausert. Das kam unerwartet. Dennoch, die Frau, die mit einem heiteren Gesichtsausdruck durch den Garten ging, war eindeutig Reva Macklin.
Ihr beeindruckender Wandel vom Flittchen zur femininen Grazie erstaunte ihn. Jetzt war sie eine Frau, die so viel elegante Weiblichkeit ausstrahlte, dass jeder Mann sich nach ihr umdrehen würde.
Ja, früher oder später würde Eddie Pinchon sich in Somerset, Tennessee, blicken lassen. Und dann würden Dean und Alan auf ihn warten.
In der Küche herrschte Chaos, doch es war die Art von geordneter Unordnung, an die Reva gewöhnt war.
Außer ihrer Freundin Tewanda Hardy, die in ihrem Alter war, bestand ihre ganze Belegschaft aus älteren Frauen. Sie waren alle grauhaarig, rüstig und im Alter zwischen sechzig und siebzig. Einige halfen beim Kochen, die anderen beim Service, und während einige nur einmal die Woche kamen, hatten die anderen eine Vier- oder Fünftagewoche. Sie alle liebten ihre Jobs, in denen sie taten, was sie am besten konnten: Kochen, die Küche in Schuss halten und Durchreisenden und Touristen die historischen Anekdoten der Stadt erzählen, in deren Nachbarschaft immerhin im Bürgerkrieg eine aufregende Schlacht stattgefunden hatte.
„Habt ihr schon gehört?“, fragte Miss Frances, während sie den Kuchenteig knetete. „Evelyn hat ihre Mansarde an zwei Fremde vermietet. Sie kommen aus Georgia, hat sie, glaube ich, gesagt.“
Reva spitzte die Ohren, als sie sich an die Begegnung der letzten Nacht erinnerte.
„Tatsächlich?“ Miss Edna schälte einen Apfel, der in dem selbst gemachten Apfelmus enden würde, das eine ihrer Spezialitäten war. „Sind sie Touristen?“
„Das wusste Evelyn auch nicht so genau.“ Frances senkte die Stimme. „Die Herren haben keine genaueren Gründe angegeben, warum sie in der Stadt sind.“ Sie verzog missbilligend den Mund. „Die Touristensaison fängt erst im Sommer an, und die meisten übernachten in den großen Hotels am Stadtrand. Wenn du mich fragst, ist die ganze Sache ziemlich seltsam. Ich kann gar nicht glauben, dass Evelyn Zimmer in ihrem Haus an Fremde vermietet, die nicht mal sagen, was sie hier wollen.“
„Nun ja“, sagte Edna und beugte sich näher zu Frances. „Sie braucht das Geld. Aber ich weiß, dass sie das Gewehr ihres Vaters unterm Bett aufbewahrt und auch weiß, wie man es benutzt. Ich glaube nicht, dass sie in Gefahr ist.“
Der allmorgendliche Küchentratsch war ein weiterer Aspekt der Arbeit, den ihre Angestellten genossen. Die zwei mysteriösen Fremden würden für Stunden Gesprächsstoff liefern. Reva hatte nicht vor, zu verraten, dass sie einen davon schon am Vorabend getroffen hatte. Sie wollte ihren Namen aus den Gerüchten raushalten, die bald die Runde machen würden. Schließlich lag ihr daran, so wenig wie möglich aufzufallen.
„Vielleicht sollten wir heute Nachmittag mal ein Wörtchen mit den Herren reden“, schlug Frances vor. „Nur um sicherzustellen, dass alles mit rechten Dingen zugeht.“
Reva lächelte, während sie Okraschoten schnipselte. Ganz egal, wer oder was Dean und sein Freund waren, sie würden es hier nicht leicht haben.
„Vielleicht wird einer der beiden Reva den Hof machen“, sagte Edna mit einem verschmitzten Lächeln. „Evelyn sagte, dass sie gut aussehende Männer sind, wenn auch einer schon einen kleinen Bauch hat. Aber es ist längst nicht so schlimm wie zum Beispiel bei Rafer Johnson“, fügte sie eilig hinzu. „Nur ein gesundes Anzeichen dafür, dass er gutes Essen zu schätzen weiß.“
„Wahrscheinlich ist er verheiratet“, vermutete Frances.
„Wieso würde er dann zusammen mit einem anderen Mann eine Mansarde mieten?“
Die beiden Frauen blickten sich an und schwiegen eine Weile. „Du glaubst doch nicht etwa …“, begann Frances leise.
„Nein, bestimmt nicht“, erwiderte Edna etwas entrüstet.
„Na ja, zwei gut aussehende Männer, die zusammenleben und sich darüber ausschweigen, warum sie hier sind …“
„Wann sind sie angekommen?“, unterbrach Reva, um zu prüfen, ob Dean ihr am Vorabend die Wahrheit gesagt hatte.
„Gestern Nacht.“
Reva lachte. „Warum geben wir ihnen nicht ein bisschen Zeit, sich einzugewöhnen und uns kennenzulernen, bevor wir voreilige Schlüsse ziehen?“
„Da hat sie natürlich recht“, stimmte Edna zu. „Und immerhin besteht die Chance, dass der, der keinen Bauch hat, Reva den Hof macht.“
„Nein danke“, erwiderte Reva schärfer als beabsichtigt. Männer wie Dean gehörten nicht zu der Sorte, die irgendjemandem den Hof machten. Und außerdem war er nicht ihr Typ. Kein Mann war ihr Typ!
„Hättest du lieber den mit dem Bauchansatz?“, fragte Frances. „Deshalb willst du also nicht mit Sheriff Andrews ausgehen? Ich weiß, dass er mehrmals um Erlaubnis gefragt hat, dir den Hof zu machen, und du jedes Mal abgelehnt hast. Ich hatte ja keine Ahnung, dass du nach jemandem Ausschau hältst, der ein bisschen besser im Futter steht. Sheriff Andrews ist ja nun nicht gerade klein, aber auch nicht besonders kuschelig. Wenn du willst, bringen wir ihm Essen in die Polizeistation, bis er sich gemausert hat …“
Reva lachte. „Bloß nicht! Warum könnt ihr nicht einfach akzeptieren, dass ich mir von niemandem den Hof machen lassen will?“ Sie betonte die altmodische Formulierung, die die alten Damen mit solcher Begeisterung verwendeten.
„Weil es nicht normal ist“, konterte Frances.
„Ich wünschte, ich hätte einen Mann“, seufzte Edna. „Ich vermisse es, abends mit jemandem zu reden, seit mein John nicht mehr ist.“
„Ich vermisse den Sex“, gab Frances freimütig zu.
„Na ja“, erwiderte Edna süffisant, „dein Billy war ja auch nie besonders redselig.“
Die beiden Frauen lachten, und Reva zog sich unauffällig aus der Küche zurück.
Ihre Belegschaft der älteren Generation hatte ihre Meinung über das Älterwerden grundlegend revidiert. Die Damen hatten ihren Spaß und genossen das Leben. Sicher, die üblichen Zipperlein machten auch ihnen zu schaffen, doch davon ließen sie sich die Lebensfreude nicht verderben.
Ihre Meinung über Männer hatten jedoch auch sie nicht ändern können. Egal ob mit oder ohne Bauch, Reva hatte vom anderen Geschlecht die Nase voll. Sie brauchte keinen Mann, sie wollte keinen Mann, und deshalb hatte sie jeden Möchtegern-Romeo abblitzen lassen, der sich in den drei Jahren, die sie jetzt in Somerset wohnte, Chancen bei ihr ausgerechnet hatte.
Sie lehnte sich im Flur an die Wand und wischte sich die Hände an der Schürze ab. Würden die Damen es jemals aufgeben, sie verkuppeln zu wollen? Ihr Leben gefiel ihr, wie es war. Sie hatte eine Bleibe gefunden, war zufrieden. Für nichts in der Welt hätte sie das eingetauscht. Bei ihrem schrecklichen Pech mit Männern ließ sie lieber ganz die Finger von ihnen. Eine Beziehung würde nur alles durcheinanderbringen, und an die große Liebe glaubte sie sowieso nicht. Das eine Mal, als sie darauf reingefallen war, hatte es eine Katastrophe gegeben, und sie hatte Jahre gebraucht, darüber hinwegzukommen.
Nein, nie wieder. Auf keinen Fall.
Edna und Frances waren noch immer dabei, ihre Vermutungen über die Männer im gegenüberliegenden Haus auszutauschen, als Reva wieder die Küche betrat, und kamen dabei auf immer abstrusere Ideen. So langsam fingen die beiden Untermieter an, ihr wirklich leidzutun.
Die neueste Entwicklung gefiel Dean gar nicht.
Schon vor zwölf waren die ersten Autos eingetroffen und hatten am Straßenrand und auf dem Schotterparkplatz des Restaurants geparkt.
Miss Reva’s war beliebter, als er vermutet hatte.
Die Gäste spazierten im Garten herum, bewunderten die Blumen, saßen auf der großen Veranda in der Sonne. Und es kamen immer mehr.
Mittlerweile war der Parkplatz seitlich vom Haus kaum noch einzusehen. Eddie Pinchon konnte leicht bis zur Seitentür vorfahren, ohne dass Dean ihn überhaupt bemerkte.
Als die Gästeschar um Viertel vor eins immer noch wuchs, traf Dean eine Entscheidung. Er griff nach seinem Jackett, das über der Stuhllehne hing, und zog es über. Die anderen Gäste waren weniger formell gekleidet, und er würde in der Gruppe auffallen, aber es war die einzige Möglichkeit, die Waffe zu verbergen, die er im Schulterhalfter trug.
Zügig ging er die Treppen hinunter. Als er gerade die Haustür erreicht hatte, fing ihn seine Hauswirtin, Mrs Evelyn Fister, geschickt ab. Er musste scharf bremsen, um sie nicht über den Haufen zu rennen.
„Mr Sinclair“, sagte sie im Plauderton. „Wo wollen Sie denn heute Nachmittag hin?“
„Ich dachte, ich gehe einen Happen essen“, antwortete er und versuchte, an ihr vorbeizukommen.
Doch sie war schneller, als er ihr zugetraut hätte, und versperrte ihm den Weg. „Meine Vorratsschränke sind gut gefüllt. Wenn Sie etwas nicht finden sollten …“
„Ich hatte vor, auswärts zu essen“, unterbrach er sie.
Sie legte den Kopf schräg. „Aber wo? Es gibt nur eine Bäckerei in der Stadt, sie gehört Louella Vine. Auf dem Schild steht Somerset Bäckerei und Delikatessen, aber jeder nennt es nur Louella’s. Sie ist eine ganz passable Köchin, aber sie hat nur Kuchen und Sandwiches. Um was Ordentliches zu bekommen, müssten Sie ganz bis zum Einkaufszentrum an der Autobahn fahren.“
„Was ist denn mit dem Restaurant gegenüber?“, fragte er. Servierte Reva Macklin nichts, was von den Stadtbewohnern als ordentlich angesehen wurde?
Die Hauswirtin lachte. „Lieber Junge, bei Miss Reva’s können Sie nicht einfach so reinschneien. Da müssen Sie reservieren. Im Augenblick könnten Sie vielleicht einen Tisch für nächste Woche bekommen. Im Sommer und Herbst, wenn die Touristen in der Stadt sind, müssten Sie mindestens zehn Tage im Voraus reservieren.“
Wie bitte? Somerset war eine Stadt mit einer einzigen Ampel und tauchte auf der Landkarte nur als winziger Punkt auf. Jeder kannte jeden, und man musste reservieren, um einen Tisch in Reva Macklins Restaurant zu bekommen?
„Ich sehe, Sie sind verwirrt“, stellte Mrs Fister zufrieden fest.
„In der Tat“, gab Dean zu.
„Nun ja“, sagte Mrs Fister, nahm Deans Arm und führte ihn auf die Veranda hinaus, „es ist eine interessante Geschichte.“
Von der Veranda aus konnten sie die Gäste sehen, die noch immer in Scharen ankamen. Sie waren unterschiedlich gekleidet – einige in Shorts und T-Shirts, manche in feineren Sommerkleidern, manche Männer in Jeans und gebügelten Hemden.
„Als Reva vor ein paar Jahren hierher zog, war sie entschlossen, mit dem alten Haus einen Erfolg zu landen. Ich weiß nicht, warum sie sich gerade für Somerset entschied, aber ich nehme an, es hatte etwas mit dem Kaufpreis des Hauses zu tun. Wir liegen hier ein bisschen abseits, und die Grundstückspreise sind in den letzten dreißig Jahren gewaltig gesunken.“
„Kann ich mir vorstellen.“
„Gleich im ersten Jahr gelang es Reva, sich mit dem Restaurant einen guten Namen zu machen. Es war nichts Außergewöhnliches, aber sie kann auf jeden Fall kochen.“ Mrs Fister sagte das in einem Tonfall, als wäre es das höchste Kompliment, was sie zu vergeben hatte. „Es war der Zeitungsartikel, mit dem sie wirklich groß rauskam.“
„Aha.“
„Ein Jungspund aus Nashville kam hier durch, hat bei ihr gegessen und einen Artikel darüber geschrieben. Ein paar Monate später ist er in einer Hochglanzzeitschrift erschienen. Das war vor zwei Jahren, und seitdem kriegen Sie bei Miss Reva keinen Tisch …“
„… ohne Reservierung“, vollendete Dean.
Mrs Fister tätschelte ihm tröstend die Hand. „Aber Sie können rübergehen und sich auf die Warteliste setzen lassen. Manchmal gibt es eine Absage.“ Sie warf ihm einen abschätzenden Blick zu. „Nicht oft, aber vielleicht haben Sie ja Glück.“
Im Grunde ging es ihm ja nicht ums Essen, er wollte sich nur kurz umschauen, um zu sehen, ob sich Eddie Pinchon unter den Gästen befand. In dem Bewusstsein, dass seine Hauswirtin ihn beobachtete, überquerte er die Straße. Das war der Grund, warum er Beschattungsjobs in Kleinstädten hasste – es war unmöglich, in so einem winzigen Ort nicht aufzufallen.
Gleichzeitig war es das perfekte Versteck. Wieso war Reva Macklin hierher gezogen? Hatte auch sie etwas zu verbergen?
Eine ältere Frau mit einem strengen Knoten begrüßte ihn an der Tür. Sie hielt einen kleinen Block in der Hand. „Guten Tag, junger Mann. Verraten Sie mir Ihren Namen?“
Na wunderbar. Vom lieben Jungen seiner Hauswirtin war er jetzt zum jungen Mann aufgestiegen. Er fing an, sich wie ein Teenager zu fühlen. „Ich habe keine Reservierung“, sagte er.
Die Frau runzelte die Stirn. „Hmm, das ist ein Problem. Vielleicht möchten Sie für nächste Woche reservieren? Ich glaube, da hätten wir was frei am Mittwoch und am Freitag.“
Dean wollte gerade sagen, dass er es sich anders überlegt hatte. Er konnte auch so auf dem Grundstück herumlaufen und die Gäste in Augenschein nehmen. Doch dann stieg ihm der Duft in die Nase.
„Was ist das?“, fragte er mit einem tiefen Atemzug.
Die Empfangsdame hob die Nase und schnupperte, lächelte dann breit. „Brathähnchen, gefüllte Paprika, Kartoffelbrei mit Soße, frittierte Okraschoten, gebratener Kürbis, Apfelmus, Brokkoli und Reis, Maiscremesuppe, grüne Bohnen und Karamelltorte.“
Sie beugte sich vertrauensvoll zu ihm. „Ich habe heute die Torte gebacken. Und das Apfelmus gemacht.“
„Nächste Woche passt mir gut“, sagte Dean laut genug, um seinen knurrenden Magen zu übertönen. „Mittwoch.“
Sie überblätterte ein paar Seiten in ihrem Buch und zückte den Bleistift. „Und Ihr Name?“
„Dean Sinclair. Ich wohne gegenüber.“
Die alte Dame hob langsam den Kopf und betrachtete ihn mit funkelnden Augen, ohne die Reservierung einzutragen. „Na so was“, sagte sie. „Wie interessant.“