Achtes Kapitel Missetaten
Im Polizeipräsidium sinken Megan und ich im Sitzungsraum auf die Stühle, während die anderen beschäftigt sind. Sie nimmt das Gebäck aus der Tüte von der Bäckerei, an der wir auf dem Weg anhielten, aber entgegen meiner Gewohnheit habe ich keinen Appetit. Das Gesicht des Mannes auf dem Sofa und die Symbole überall, die mit den traurigen Umständen seines Lebens verknüpft sind, haben mich stark mitgenommen. Eine junge Polizistin kommt herein und reicht Megan ein Blatt Papier, das sie liest, während sie einen halben Kopenhagener verspeist. Sie isst bestimmt oft Kuchen zu Mittag. Ich gehe auf den Flur und hole mir einen Schluck Wasser. Als ich zurückkomme, sagt Megan:
«Die vermutete Todesursache ist die Lähmung der Atemwege aufgrund einer Überdosis Morphium. Die Todeszeit liegt zwischen sieben Uhr abends und sieben Uhr morgens, der Arzt tippt auf Mitternacht, da die ‹rigor mortis› bei der Untersuchung voll entwickelt war.»
«Rigor was?»
«… mortis, die Leichenstarre. Du weißt, dass sie nach etwa drei, vier Stunden einsetzt und nach zwölf Stunden alle Gelenke steif sind. Nach drei Tagen lässt sie wieder nach. Die Mitarbeiter im Leichenhaus werden ihre Freude daran haben, unseren Freund in sitzender Stellung zu manövrieren, so korpulent wie er ist.»
«Ja, das mit der Starre wusste ich, aber ich kannte nicht den lateinischen Ausdruck», antworte ich und spüre, wie mir das Blut ins Gesicht schießt. Mir brennen die Augen bei dem Gedanken an die Vorkehrungen, die nötig sind, um den armen Kerl zu transportieren. «Ich habe den Eindruck, dass er seine Opfer demütigt.» Megan nickt mir zustimmend zu.
«Das denke ich auch», sagt sie. «Solche Mörder wählen sich ihre Opfer häufig symbolisch aus, und vielleicht steht das Opfer für etwas, das er verachtet. Solche Mörder verachten nicht grundsätzlich alle Menschen oder fühlen sich über alle erhaben.» Sie dreht sich um und starrt nachdenklich auf die Wand mit den Fotos. Ich tue es ihr nach. Wie viele Fotos wohl noch dazukommen, bevor es vorbei ist?
«Wann kommt dieser AA-Fritze?», fragt Megan auf einmal, und ich taste nach meinen Handy in der Hosentasche, bis mir wieder einfällt, dass es weg ist. Ich kann vorne am Empfang das Telefon benutzen.
«Habe mein Handy verloren», sage ich entschuldigend zu dem Mädchen hinter der Theke, und sie lächelt mitleidsvoll.
«Die Schritte sind die spirituelle Basis der Anonymen Alkoholiker», ist das Erste, was Geir sagt, als ihn Megan bittet, ihr kurz von der Organisation zu berichten. «Sie wurden in den dreißiger Jahren gegründet, nachdem schon eine Unzahl von Vereinigungen, wie die Guttempler, die Heilsarmee und der Washington-Verband, daran gescheitert ist, das Alkoholproblem in den Griff zu kriegen. Als die AA gegründet wurden, übernahmen sie ein Programm, das schon die Oxford-Gruppe zur Psychohygiene benutzt hatte und das darauf hinausläuft, einem anderen Christenmenschen gegenüber seine Sünden und Versuchungen zu bekennen und damit sein Gewissen zu erleichtern. Die Kontrolle über sein Leben abzugeben und sie stattdessen in Gottes Hände zu legen, mit allen, denen man geschadet hat, ins Reine zu kommen, und in jeder Hinsicht auf Gott zu hören und seiner Kontrolle zu vertrauen. In der neuen Organisation waren es zwölf Schritte, aber man kann sie eigentlich in drei Abschnitte einteilen, die ersten drei Schritte sind die Kapitulation, die Schritte vier bis neun die Reinigung und die letzten drei schließlich das Erleben.»
«Wie wichtig sind diese Schritte für Alkoholiker, die gesund werden wollen?» Megan schaut Geir konzentriert an.
«Sie sind das A und O», antwortet er und erwidert aufmerksam ihren Blick. «Ohne sie ist Abstinenz sinnlos.»
«Das muss aber vielleicht nicht ausschließlich so sein», füge ich vorsichtig hinzu, mit Hinblick auf die Leute, die nicht die Schritte durchlaufen haben und trotzdem seit langer Zeit trocken sind.
«Jetzt spricht wieder das Nicht-wahrhaben-Wollen», sagt Geir. «Wie kommst du übrigens mit deinen Schritten voran?» Ich nehme es ihm insgeheim übel, dass er mir mein schleppendes Vorankommen als Argument in diesem Gespräch ins Gesicht schleudert. Ich zucke nur mit den Schultern, stehe auf und gehe auf den Flur, um mir mehr Wasser zu holen. Durch die offene Tür höre ich, dass sie weiterreden, und bleibe draußen, damit Megans Befragung nicht durch meine Empfindlichkeit beeinträchtigt wird. Ich höre, wie Geir über den Ursprung, die Geschichte der Anonymen Alkoholiker und ihre Gründung auf Island spricht. Sein Englisch ist hervorragend. Hin und wieder unterbricht Megan ihn mit einer Frage, aber ich lausche nur mit halbem Ohr, spaziere Wasser schlürfend vor der Tür auf und ab. Natürlich weiß ich, dass ich die Schritte brauche. Mein Nüchternsein hängt an einem seidenen Faden, und nur die Willenskraft hält mich davon ab zu trinken. Und von den Meetings weiß ich, dass Willenskraft allein noch nie ausgereicht hat, um nüchtern zu bleiben. Als Geir auf den Flur hinauskommt, gehe ich auf ihn zu, verabschiede mich herzlich von ihm und mache deutlich, dass ich nicht eingeschnappt bin.
«Ich werde mich bald an dich wenden», sage ich, als er mir auf den Rücken klopft. «Ich war einfach so mit dem Fall beschäftigt.»
«Das verstehe ich», sagt er milde lächelnd. Ich bin froh, dass er nicht sauer auf mich ist.
Megan nimmt sich schon wieder ein Teilchen aus der Tüte, als wir den großen Sitzungsraum betreten, läuft im Zimmer herum und starrt auf die Fotos an der Wand. Dort hängt in einem neuen Viereck ein Foto von dem Mann auf dem Sofa, im Vordergrund der Tisch mit den drapierten Requisiten des Mörders.
«Er schickt uns Botschaften, die wir nicht entschlüsseln können. Wahrscheinlich sind sie trotzdem offensichtlich», sagt Megan laut schmatzend. «Es ist anzunehmen, dass sie die AA betreffen oder irgendwie mit Suchtkranken und Alkoholikern zu tun haben.»
«Als ich zuerst den Gedanken hatte, dass es ein und derselbe Mörder sein könnte, dachte ich, dass es ein Trinker ist, der einen Hass auf Nichttrinker hat», sage ich.
«Serienmörder sehen sich normalerweise in einer besseren Lage als die Opfer», antwortet Megan, «das passt also nicht zum Profil.»
«Kann es denn nicht sein, dass alle Toten Probleme hatten, nüchtern zu bleiben?», überlege ich laut.
«Guter Einfall», sagt sie, greift zum Telefon und bittet jemanden, die letzten Tage der Männer danach durchzugehen, ob einer von ihnen, soweit bekannt, rückfällig geworden ist.
«Drei der Opfer starben unter Umständen, die oft typisch für Alkoholiker sind», sage ich. «Sie nehmen eine Überdosis Medikamente oder trinken zu viel Alkohol, verlieren das Bewusstsein und wachen nicht mehr auf, zu Hause im Wohnzimmer, im Bad oder irgendwo draußen.»
«Und bei den anderen Fällen gibt es offensichtliche religiöse Bezüge», ergänzt Megan, während wir weiter auf die Vierecke an der Wand starren.
«Der Mörder könnte wie Geir der Meinung sein, dass Abstinenz ohne die Schritte sinnlos ist», sage ich. «Das ist eine sehr verbreitete Ansicht unter den AA. Vielleicht taten sie sich einfach schwer mit den Schritten.» Megan starrt an die Wand. Plötzlich reißt sie das Laptop aus der Tasche und fährt es hoch.
«Ich glaube, dass wir allmählich ein Muster erkennen können», sagt sie. Ich stelle mich hinter sie, während sie die Schritte auf Englisch sucht und sie aufmerksam liest. Den ersten Schritt liest sie laut vor: «Wir gaben zu, dass wir dem Alkohol gegenüber machtlos sind – und unser Leben nicht mehr meistern konnten.» Während sie spricht, blicke ich zu dem Foto von Aðalsteinn, wie er zusammengekrümmt unter einem Busch liegt, und mein Herz macht einen Sprung.
«Mein Bruder, der Aðalsteinn gut kannte, sagte, dass er es nie geschafft habe, seine Machtlosigkeit gegenüber dem Alkohol zuzugeben. Dass er immer gedacht habe, aus eigener Kraft die Kontrolle über das Trinken erlangen zu können.»
«Wir kamen zu dem Glauben, dass eine Macht, größer als wir selbst, uns unsere geistige Gesundheit wiedergeben kann», liest Megan von der Homepage vor und dreht sich zur Wand um.
«Jón Ágúst Karlsson», sagen wir wie aus einem Mund und blicken auf die Kreuzigung. Das Symbol des Glaubens, hat der Pfarrer gesagt, und Jón Ágúst war Atheist. Megan dreht sich um, liest weiter und sagt dann:
«Wir haben nichts, was zum dritten und vierten Schritt passt.» Sie starrt auf die Fotos und fügt hinzu: «Noch nicht.» Dann erhebt sie sich und reißt alle Fotos der Opfer und die dazugehörigen Berichte, die sie so sorgfältig in die Vierecke geklebt hat, herunter und wirft sie in einem Haufen auf den Tisch. Wieder zieht sie ihren Marker heraus und malt eine noch viel gewaltigere Reihe von Vierecken an die Längswand, insgesamt zwölf.
«Kann ich dir helfen?», frage ich behutsam, um sie nicht bei diesem verblüffenden Treiben zu stören. Ich weiß, was sie macht, aber muss mich trotzdem darüber wundern, dass diese Frau direkt auf die Wand zeichnet, anstatt Kreppband oder dergleichen zu benutzen, um die Felder abzugrenzen.
«Ja, du kannst die Schritte auf Isländisch und Englisch über jedes Feld schreiben», sagt sie.
«Bist du sicher, dass das das Muster ist?» Ich beginne, die Wand zu beschreiben.
«Absolut.» Wie kann sie sich so sicher sein? Nun ist nur noch eine Wand frei, falls sie eine weitere neue Idee hat. Als ich die letzten Schritte oberhalb der Vierecke hingeschrieben habe, klebt sie die Fotos der Opfer und die Untersuchungsberichte auf. Aðalsteinn kommt in das Viereck mit dem ersten Schritt, Jón Ágúst in das zweite, das Foto von Kristján in der Krankenhauskapelle klebt sie in das Viereck, wo ich den sechsten Schritt notiert habe: Wir waren völlig bereit, all diese Charakterfehler von Gott beseitigen zu lassen. Glaube und Heilung. Ich habe das Symbol richtig gedeutet und nur den Zusammenhang nicht erkannt. Über dem siebten Feld steht: Demütig baten wir Ihn, unsere Mängel von uns zu nehmen. Dort hängt Megan das neueste Foto von dem Mann auf dem Sofa auf, mit dem Tisch vor sich, vollgepackt mit den Symbolen seiner Fehler und dem Rosenkranz unter einem Stapel Pizzakartons. Megan hält das letzte Foto in der Hand und begutachtet die Schritte an der Wand, die noch übrig sind.
«Er gehört zum fünften Schritt», sage ich, und sie klebt das Bild von Bjarni Jóhannes in das Viereck, über dem steht: Wir gaben Gott, uns selbst und einem anderen Menschen gegenüber unverhüllt unsere Fehler zu. Ich dachte an den Abend, als ich mit seinem Arbeitsbuch dasaß und nach Hinweisen suchte, aber nicht sah, dass der Hinweis das war, was eben nicht im Buch stand. Der Mörder weiß, was passiert ist und nicht im Buch stand. Wenn nicht Gott oder er selbst seinen Tod verursachten, dann muss es dieser «andere Mensch» gewesen sein. Sein Vertrauensmann.
«Megan, wir müssen herausfinden, wer die Vertrauensleute von den Opfern waren», sage ich. Dem Lover von Jón Ágúst zufolge hatte er gerade einen neuen Vertrauensmann bekommen, er wusste aber nicht, wen. Megan greift erneut zum Telefon und spricht in den Apparat:
«Iðunn, wir haben die Lösung.»
Seitdem die Sitzung einberufen worden ist und sich das Team die Erklärungen zu den Verbindungen zwischen den fünf Morden anhört, wirft mir Njörður tödliche Blicke zu, während Iðunn mich und Megan abwechselnd mustert. Ich kann aus ihrer Miene nichts anderes herauslesen, als dass sie erstaunt und froh ist und endlich einen Hoffnungsschimmer sieht. Njörður bohrt immer wieder eindringlich und ungläubig nach, aber Megan hat stets eine Antwort parat; sowohl das Muster als auch das System des Mörders seien klar.
«Allerdings», sagt sie, «könnte er sich jetzt, wo der Kreis enger wird, bedrängt fühlen, von seinen Gewohnheiten abweichen und Opfer auswählen, die nicht in sein Wunschbild passen, um das Werk zu vollenden.» Alle haben einen betretenen Gesichtsausdruck.
«Kannst du bitte zusammenfassen, was wir bereits über den Mörder wissen», sagt Iðunn. Immer praktisch, immer bereit, ihr eigenes Ego zurückzunehmen, um die Fälle zu lösen. Das kann man von Njörður nicht behaupten, der sichtlich Probleme hat, die Tatsache zu schlucken, dass nicht er einen Lösungsansatz für den Fall gefunden hat.
«Es handelt sich um einen gläubigen Mann mittleren Alters in guter körperlicher Verfassung, der sich seine Opfer innerhalb der Anonymen Alkoholiker sucht», beginnt Megan. «Inzwischen wissen wir», fährt sie fort, «dass er Mitglied bei den AA ist, und zwar vermutlich ein sehr aktives Mitglied, das die Ideologie dahinter wörtlich nimmt – so wörtlich, dass er Leute umbringt, die sich nicht von den Schritten leiten lassen. Wie er weiß, wer mit den Schritten gut oder weniger gut zurechtkommt, ist noch ein Rätsel, aber entweder sucht er sich die Opfer auf den Meetings aus, wo er sie hat reden hören, oder er ist ihr Vertrauensmann.»
«Wir haben ein Team losgeschickt, das sich im engsten Kreis der Opfer nach ihren Vertrauensleuten erkundigen soll, und wollen nach dieser Sitzung auch noch Verstärkung schicken», informiert Iðunn uns, und Njörður nickt säuerlich.
«Gut», sagt Megan. Abschließend möchte sie das Gedächtnis der Anwesenden zum Thema Serienmorde und Serientäter noch ein wenig auffrischen. Die gesamte Gruppe nickt dankbar. Ich halte es nicht für wahrscheinlich, dass isländische Polizisten jemals etwas über Serienmörder gelernt haben.
«Als Serienmörder gilt, wer mindestens drei Menschen umgebracht hat. Häufig sind es weitaus mehr, und manchmal tötet er in Schüben, zwischen denen er Ruhephasen einlegt und unauffällig ist. Meist kennt der Mörder seine Opfer nicht oder hat höchstens mal ein Wort mit ihnen gewechselt. Oft wirken die Morde auf den ersten Blick sehr unterschiedlich und scheinen keine Verbindung aufzuweisen, aber die Opfer haben manchmal eine symbolische Bedeutung für den Mörder, und die Morde spiegeln diese Bedeutung wider. Manchmal führt diese Symbolik dazu, dass man, wie in unserem Fall, verschiedene Morde in Zusammenhang bringen kann. Es gibt in der Regel keinen weltlichen Grund für solche Morde, Serienmörder töten in den seltensten Fällen für Geld oder sonstige Vorteile, vielmehr stecken psychologische Gründe dahinter. Sadismus gehört eigentlich fast immer dazu. Serienmörder haben ein großes Bedürfnis, ihre Opfer zu beherrschen, und wählen sie meist im Hinblick darauf aus, dass sie eine leichte Beute darstellen.» Megan hört einen Augenblick zu sprechen auf, um aus ihrem Kaffeebecher zu trinken, und währenddessen ist es mucksmäuschenstill. Ich habe das undeutliche Gefühl, dass die Mitglieder des Teams ihre Machtlosigkeit gegenüber dieser Aufgabe spüren. Die meisten hier haben es normalerweise mit Eifersuchtsmorden im Suff oder versehentlich abgegebenen Schüssen bei der Schneehuhnjagd zu tun.
«Viele Serientäter hatten eine schwierige Kindheit und sind mit Gewalt oder Vernachlässigung aufgewachsen, aber das trifft nicht auf alle zu. Den meisten ist jedoch gemein, dass sie als Kinder oder Jugendliche Bettnässer, Brandstifter und Tierquäler waren. Diese drei Merkmale solltet ihr im Kopf haben, wenn ihr euch über Kindheit und Jugend eines Verdächtigen informiert. Die meisten Serientäter fasziniert die Polizei und ihre Arbeit, was sich zum Beispiel darin äußert, dass sie dementsprechend den Tatort gestalten oder das Opfer in Szene setzen.»
Nach dem Vortrag von Megan ruft mich Iðunn auf dem Flur zu sich. Sie zieht mich in eine Ecke und raunt mir zu:
«Njörður hat einige Leute zu deinem Bruder Egill geschickt, um mit ihm zu reden.»
«Was meinst du damit, um mit ihm zu reden?»
«Na ja, Njörður fand ihn irgendwie verdächtig auf zwei Meetings, auf denen er sprach, und beschloss, ihn sich ein bisschen vorzuknöpfen.» Wir schauen uns an, und ich weiß nicht, was ich sagen soll.
«Iðunn, das ist verrückt! Ich … du weißt genauso gut wie ich, dass Egill keiner Fliege etwas zuleide tun kann.»
«Ich weiß, und ich habe es auch zu Njörður gesagt, aber das Einzige, was wir jetzt tun können, ist zu versuchen, so viele wie möglich auszuschließen, je mehr, desto besser.»
«Und, ist es ihnen gelungen, ihn durch dieses Gespräch auszuschließen?», frage ich und spüre, wie mich die Frage innerlich aufwühlt. Für meinen kleinen Bruder hatte ich immer eine Schwäche, und ich habe es nie geduldet, wenn ihm Unrecht geschah.
«Tja, eigentlich nicht, er ritt sich nur immer tiefer hinein. Er hatte keine Erklärungen dafür, wo er zu bestimmten Zeiten gewesen ist, und plapperte ziemlich viel darüber, dass er mit seiner Umwelt ins Reine kommen will. Der Bericht ist ziemlich anstrengend zu lesen.»
«Verdammt!», presse ich zwischen den Zähnen hervor. «Iðunn, du weißt, wie Egill ist; wenn er in Stress gerät, redet er zusammenhangloses Zeug und dreht sich ständig im Kreis. Du solltest das wissen, du hast ihn doch nicht selten selbst verhört! Und wenn es um diese Abstinenzsache geht, kann man ihm überhaupt nicht mehr folgen», sage ich, während ich an das Meeting denke, auf dem Egill sich selbst als Racheengel bezeichnete. Iðunn nickt, drückt einen Moment fest meinen Arm und blinzelt mir aufmunternd zu.
«Ich wollte nur, dass du es weißt», sagt sie. «Und da ist noch etwas. Eine Kioskfrau in der Njálsgata hat mich angerufen und behauptet, sie hätte dein Handy.»
«Warum hat sie dich angerufen?», frage ich, aber es gelingt mir nicht, mich auf diese Nebensächlichkeit zu konzentrieren vor lauter Sorge um meinen Bruder.
«Wir sind wohl immer noch unter beiden Telefonnummern verzeichnet», antwortet sie. «Das müssen wir bald mal ändern.»
«Okay, danke», murmele ich, während ich überlege, ob ich Egill anrufen und ihn direkt fragen soll, wie dieses Verhör verlaufen ist. Aber bevor ich den Gedanken zu Ende denken kann, stehe ich schon in Njörðurs Büro.
«Wieso schickst du Leute zu meinem Bruder?» Meine Stimme klingt schrill, so verärgert bin ich.
«Ja», sagt Njörður und dreht sich einmal mit seinem Schreibtischstuhl. Er sieht aus wie ein Elefant auf einem kleinen Zirkusstuhl. «Ich wusste anfangs gar nicht, dass es dein Bruder ist, zumal das ja auch nichts mit der Sache zu tun hat. Ich wollte ihn genauer unter die Lupe nehmen, weil er merkwürdige Dinge von sich gibt und er uns bei den Meetings aufgefallen ist.»
«Du solltest dich lieber mal selber unter die Lupe nehmen!», schnaube ich. «Ich habe dich auf diesen Meetings gesehen, du hast gesagt, dass du Trinker und Junkies hasst.» Ich knalle die Tür hinter mir zu und stapfe den Flur entlang. Wenn ich mich jetzt im Spiegel sähe, würde ich ein flammend rotes Gesicht erblicken.
Vor dem Polizeipräsidium bin ich einen kurzen Moment orientierungslos und weiß nicht, was ich als Nächstes tun soll. Ich könnte nach Hause fahren, aber es herrscht ruhiges Wetter, sodass ich lieber laufe, um mich zu beruhigen. Danach ist mein Körper hoffentlich müde und mein Geist ruhiger. Seit dem Aufwachen heute Morgen scheinen Wochen vergangen zu sein. Das Gesicht des toten Mannes auf dem Sofa schleicht sich immer wieder in meine Gedanken, und ich kann mir nicht vorstellen, wie es zu Lebzeiten aussah. Jedes Mal, wenn ich daran denke, wie ungehalten ich ihm gegenüber war, habe ich das Gefühl, als würde mir jemand einen Tritt in den Magen versetzen, als hätte sich meine Verärgerung wie ein böser Fluch auf ihn gelegt und ich würde die Schuld an seinem Tod tragen. Permanent läuft das letzte Mal, als ich ihn lebend gesehen habe, vor meinem inneren Auge ab, wie ein Film, der immer an derselben Stelle stehen bleibt. Ich sehe, wie meine Hand in seinen Pranken verschwindet. Und dann beginnt der Film von neuem dort, wo er sich hinter mir die Treppe hinunterschleppt. Plötzlich schrecke ich hoch, als ich mich an Elís Pétursson erinnere, wie er ihn nach dem Meeting zum Gespräch einlud. Ob sie wohl zusammen irgendwo hingegangen sind, um sich zu unterhalten? War etwa Elís der Letzte, der ihn lebend gesehen hat? Ist es möglich, dass er der Mörder ist? Der Gedanke geht mir eine Weile durch den Kopf, aber dann weise ich ihn von mir. Die braunen Welpenaugen machen es unmöglich, sich Elís als Mörder vorzustellen. Wie soll Grausamkeit in diesem Blick Platz haben? Trotzdem werde ich mit Iðunn darüber sprechen.
«Ich habe gehört, dass ihr ein Handy gefunden habt», sage ich, als ich die Tür zu dem kleinen Laden in der Njálsgata öffne.
«Ist das dein Handy?», fragt die junge Kassiererin und hält ein Handy hoch, das genauso aussieht wie meins.
«Scheint so.» Ich untersuche das Handy. Da ist der Kratzer auf dem Display, und Iðunn ist die erste Nummer im Verzeichnis. «Ja, das ist meins, wo war es?»
«Es lag heute hier auf dem Fußboden.»
«Ich verstehe das nicht, ich habe ewig nicht mehr hier eingekauft.» Ich stecke das Handy in die Hosentasche.
«Vielleicht hat es jemand gefunden und dann hier verloren», sagt die Kassiererin und kaut heftig auf ihrem Kaugummi herum, als wollte sie ihren Worten Nachdruck verleihen.
«Vielen Dank», sage ich und verlasse den Laden. Ich gehe weiter die Straße entlang, getrieben von unruhigen Gedanken an Egill, den toten Mann und diesen verdammten Idioten Njörður.
Ich nähere mich dem alten Innenstadtviertel Kvos, als mir einfällt, dass ich bei Fríða vorbeischauen könnte, um ihr alles zu erzählen. Nur mit ihr reden und mein Herz erleichtern und mit ihr kuscheln bis zum Morgen, wenn alles wieder heller aussieht. Ich drücke dreimal auf den Klingelknopf, aber nichts passiert, obwohl in ihrer Wohnung Licht brennt. Vielleicht hat sie vergessen, es auszumachen, oder ist im Bad? Vielleicht will sie mir nicht aufmachen? Meine Gedanken drehen sich im Kreis: Fríðas weiche Brüste unter der Bettdecke, ein gefährlicher Serienmörder auf Beutejagd, die furchteinflößende Dunkelheit in der Wohnung des toten Mannes, Egill, der ins Bett gemacht hat und zu mir kommt, und der Flächenbrand im trockenen Gras an der Küste unseres Viertels. Mir platzt gleich der Schädel, und ich wähle Iðunns Nummer, aber lege auf, als ich ihre Stimme höre. Ich möchte nur ein paar warme Worte von ihr hören, nichts über die Morde. Aber sie will ja alles auf einer sachlichen Ebene halten und macht jedes Mal dicht, wenn ich mich ihr nähern will. Nachdem ich vergeblich versucht habe, Fríða anzurufen, bummele ich den Laugavegur wieder hoch und lasse mich, ohne weiter darüber nachzudenken, von den Geräuschen einer Bar anlocken. Stürze einen halben Liter Bier in einem Zug hinunter, bestelle noch ein Bier und mehrere Schnäpse. Mein Körper heizt sich von innen auf, und einen Augenblick denke ich, dass ich Geir hätte anrufen und um ein Treffen bitten sollen, anstatt rückfällig zu werden. Aber nachdem ich das dritte Bier samt Hochprozentigem intus habe, sind meine Nerven viel ruhiger und die Gedanken, die mich vorhin geplagt haben, nicht mehr so dunkel und furchterregend. Ich setze mich an einen Tisch zu einem interessant wirkenden Mann, der sich mit seinem Bekannten über die Erderwärmung und die Wirtschaftskrise unterhält. Mit unbekannten Leuten über Gott und die Welt zu palavern ist eine willkommene Abwechslung, um die eigene desperate Situation zu verdrängen.
Es ist Nacht, als ich den Laugavegur entlanggehe. Mir kommt es so vor, als hätte ich mich erst vor einem Augenblick zu den Männern an den Tisch gesetzt, als wären wir auf den Vorschlag der beiden gerade zu dieser Party gegangen, aber nun ist es mitten in der Nacht, und alle Türen zu den Bars, an denen ich rüttele, sind fest verschlossen. Ich versuche, langsam zu gehen, um besser das Gleichgewicht halten zu können, aber ich merke, wie ich schwanke, als ob die Straße unter meinen Füßen Wellen schlüge. Weiter vorne sehe ich ein Pub, das gerade seine letzten Gäste nach Hause schickt, und steuere hoffnungsvoll darauf zu. Vielleicht verkaufen sie mir Bier zum Mitnehmen. Ich stelle mich ins Gedränge vor dem Eingang und versuche wie viele andere, den Türsteher anzusprechen; einer sagt, er müsse hinein, um seine Schulden zu bezahlen, eine weinende Frau hat ihre Handtasche auf der Toilette vergessen, und ich brauche ein paar Bier als Wegzehrung. Jedes Mal, wenn die Tür aufgeht, um jemanden hinauszulassen, hoffen alle, dass sie erhört werden und der Türsteher in seiner unendlichen Güte gegenüber dem unausweichlichen Gesetz der Ausschanklizenz ein Auge zudrückt und Leute hineinlässt. Als sich die Tür beim nächsten Mal öffnet, verlagert sich meine Aufmerksamkeit vom Türsteher auf einen anderen Mann, der herauskommt, ich kenne das Gesicht, aber brauche einen Moment, bis mir einfällt, wer das ist. Er ist gut angezogen, trägt einen schwarzen Anzug und ein hellgelbes Hemd, das am dicken und stierartigen Hals offen steht.
«Atli Eyjólfsson!», rufe ich. Er schaut mich an, und ich sehe, dass er mich erkennt. «Neulich mal wieder jemanden umgebracht?», schiebe ich nach und muss einen Schritt zur Seite machen, um nicht in der sich auf und ab bewegenden Straße hinzufallen.
«Du bist ja in einem schönen Zustand, mein Lieber», sagt er und weicht vom Gehsteig auf die Straße aus, um an mir vorbeizukommen. Er wird von einem Mann begleitet, aber es will mir nicht gelingen, ihn zu fokussieren, wie wenn man durch eine Kameralinse schaut, die nicht scharfgestellt ist.
«Nimm dich vor ihm in Acht», rufe ich dem Mann zu, «er hat eine Neigung, seine Liebhaber zu verdreschen. Du solltest es dir noch einmal gut überlegen, bevor du mit zu ihm nach Hause gehst.» Plötzlich fühlt es sich so an, als ob ich ein Stück vom Boden abheben würde, und Atlis Griff um den Mantelkragen drückt mir die Luft ab.
«Pass auf, was du über mich sagst, du verfluchter Idiot!», zischt er, nur Millimeter von meinem Gesicht entfernt, durch die Zähne, bevor er mich von sich schleudert. Ich kann das Gleichgewicht nicht halten, falle auf den Hintern und habe Schwierigkeiten, wieder auf die Füße zu kommen. Einer der Bargäste reicht mir seine Hand und bringt mich wieder in die Senkrechte, aber ich halte mich sicherheitshalber erst einmal an der Straßenlaterne fest. Ich brauche eine Weile, um mich wieder zu orientieren, aber dann sehe ich Atli und den Mann den Laugavegur Richtung Innenstadt entlanglaufen. Trotz meines Rauschs bin ich erschrocken über die Heftigkeit und das Gefühl, in den Händen dieses starken Mannes ein Nichts gewesen zu sein. Ich klammere mich an die Laterne. Jemand reicht mir ein Bier, von dem ich gierig trinke, während ich vor mich hin plappere, dass Atli Eyjólfsson bestimmt der Mörder ist. Dann werde ich auf einmal abgelenkt, als ein frohes Raunen durch die Menge an der Bartür geht: «Party, Party», flüstert jemand, und die Adresse gleich dazu. Das Losungswort aller, die noch nicht nach Hause wollen, obwohl die weltliche Obrigkeit bestimmt hat, dass es genug ist.
Später in der Nacht stehe ich wieder vor Fríðas Tür und klingele Sturm und rufe ihren Namen in der Hoffnung, dass sie aufwacht und mich hineinlässt. Es ist immer noch Licht in ihrer Wohnung, aber sie reagiert nicht. Sie wird inzwischen kaum heimgekommen sein, wenn immer noch Licht brennt, sie muss beim Weggehen vergessen haben, es auszuschalten. Vielleicht hat das aber auch sein Gutes, denn ich bin betrunken, und sie will mich sicher so nicht sehen. Ich setze mich auf die Treppe vor ihrer Wohnung, lehne den Kopf an die Tür, flüstere ein paarmal ihren Namen und nicke ein. Eine Weile später schrecke ich hoch, als sich die Tür öffnet und ich rückwärts in das Treppenhaus kippe. Ein Mann steigt über mich hinweg und sagt:
«Du darfst hier nicht schlafen, mein Freund.»
«Ich wollte nur zu Fríða.» Ich rappele mich hoch. Ich muss eine ganze Weile geschlafen haben, denn ich bin schon wieder ziemlich nüchtern und sicherer auf den Beinen. Was für eine absurde Idee, besoffen bei Fríða vorbeizuschauen. Völlig steif vor Kälte mache ich mich auf den Weg nach Hause. Meine Glieder tun mir weh, und ein altbekannter Kopfschmerz überfällt mich.
Kaum bin ich aufgewacht, wird der Gedanke an ein eisgekühltes Bier so übermächtig, dass ich ungeachtet des Schwindels, der Übelkeit und des beinahe unerträglichen Kopfschmerzes aufstehe. Trinken, um den Kater zu bekämpfen, ist eines der Hauptsymptome des Alkoholismus, aber meine Argumentation geht so: Entweder liege ich den ganzen Tag wie ein Elender schlotternd vor Entzugserscheinungen und Gewissensbissen im Bett, oder ich zwinge mich aufzustehen und bringe mich mit einem Schluck wieder ins Lot. Ich überlebe die heiße Dusche, ziehe mir etwas an und bin kurz darauf auf dem Weg in die Stadt. Die Luft ist frostig und mein Haar nass, und ein kalter Wind bläst mir ins Gesicht. Die Kälte ist erfrischend, und ich bin nicht mehr so schlapp wie vorhin. In der Bäckerei hole ich mir ein belegtes Brötchen, das ich auf dem Weg hinunter in den Alkoholmonopolladen esse. Ich habe einen tierischen Kater und kaufe Bier und dänischen Schnaps in kleinen grünen Flaschen, den ich auf dem Rückweg den Laugavegur hoch in mich hineinschütte. Ich gehe an der Bar vorbei, wo ich Atli letzte Nacht getroffen habe, und spüre einen kleinen Stich im Magen angesichts meines Verhaltens ihm gegenüber. Aber wahrscheinlich hat er es nicht anders verdient, der Teufel, diese Drohgebärden sehen ihm ähnlich. Was denken sich die Leute dabei, im Fitnesscenter endlos Gewichte zu stemmen? Machen sie das nur, um mit ihren Muskeln ihre Überlegenheit zu demonstrieren? So dreht sich mein Gedankenkarussell, bis ich eine Rechtfertigung für mein Verhalten von gestern Nacht gefunden habe, für meine Frage, ob er, Atli, ein Mörder sei, und für die Warnung gegenüber seinem Begleiter, die letztendlich auf einer Jahre zurückliegenden Gewalttat basiert. Der einzige Sinn dieser sogenannten Selbstrechtfertigung besteht darin, dem Alkoholiker grünes Licht zu geben, damit er weiter trinken kann. Der verfluchte Entzug hat mich um die Möglichkeit gebracht, guten Gewissens zu trinken. Jetzt durchschaue ich mich, und deshalb ist die angenehme Sorglosigkeit des Vergessens dahin und kehrt aller Wahrscheinlichkeit auch nie mehr wieder. Der dänische Schnaps hat mich von innen aufgewärmt, ich lebe langsam wieder auf, und mit aller Gewalt macht sich der Hunger bemerkbar.
Ich betrete einen thailändischen Schnellimbiss und bestelle mir eine Suppe. Dann öffne ich unter dem Tisch ein Bier aus der Plastiktüte, stelle es auf den Stuhl neben mir und nippe unauffällig daran. Die Suppe ist heiß und scharf, mit Kokos und Garnelen. Die Nährstoffe fließen durch meinen Körper, und ich empfinde sogar ein gewisses Wohlbefinden. Auf einmal fällt mir Egill ein, und ich möchte ihn anrufen, aber ich kann nicht, weil er sofort hören würde, dass ich getankt habe. Dieser verdammte Njörður, der dem Jungen die Polizei auf den Hals hetzt. Wenn er sich erst nach ihm erkundigt hätte, hätte ich ihm gesagt, dass er mein Bruder ist. Ich kichere in mich hinein, wie jemand auf den absurden Gedanken kommen kann, dass Egill ein mutmaßlicher Serienmörder ist. Er könnte keiner Fliege etwas zuleide tun. Als ich mir den Satz vorsage, erinnere ich mich allerdings daran, dass Egill, als er klein war, sehr wohl Fliegen etwas zuleide tat, und überhaupt allen Insekten. Er erforschte sie, sammelte sie, bewahrte sie in Einweckgläsern auf und tötete sie manchmal. Er trocknete Regenwürmer auf dem Fensterbrett und riss Spinnen die Beine aus, um zu sehen, wie sie mit weniger Beinen laufen. Ob dieser Forscherdrang bei einem kleinen Kind unter Tierquälerei im Sinne Megans fällt? Plötzlich ist mir wieder schlecht, und ich kann die Suppe nicht aufessen, sondern bezahle und mache mich mit meiner Tüte mit den Bierflaschen auf den Heimweg.
Egill war bis zu seinem zehnten Lebensjahr Bettnässer, aber das wird dadurch aufgewogen, dass ich auch einer war. Könnte ein erblich bedingter Fluch in der Familie sein. Dann wäre da der Flächenbrand. Egill war zwölf, dreizehn Jahre alt, als der ganze Küstenstreifen unterhalb unseres Viertels in Flammen stand. Einige Fischereischuppen brannten ab und ein Boot. Die Polizei erkundigte sich nach Egill und wo er sich an jenem Tag herumgetrieben habe, aber es kam nichts dabei heraus. Was, wenn Egill den Brand gelegt hatte? Das muss nicht automatisch bedeuten, dass er der Serienmörder ist. Zum Teufel noch mal. Der dänische Schnaps und das Bier haben mehr bewirkt, als mich ins Lot zu bringen, denn ich habe Probleme, logisch zu denken. Ich habe im Grunde keine Angst, dass Egill der Serienmörder ist. Ich weiß, dass er ein anständiger Junge ist und es gut mit allen meint und nie einem anderen Menschen absichtlich schaden könnte. Allerdings könnte der Polizei so manches an seinem Verhalten und in seiner Vergangenheit verdächtig erscheinen, und er könnte in Schwierigkeiten geraten.
Jetzt, wo es mir wieder bessergeht, will ich mir mein klares Denken bewahren. Ich werfe die Tüte in den nächsten Mülleimer und beschließe, zum Laugavegur umzudrehen und bei Fríða vorbeizuschauen. Ich will sie um Verzeihung bitten, falls sie mein Rufen vergangene Nacht gehört hat, und nachsehen, ob sie nicht mit mir zum Meeting gehen will. Ich habe nicht vor, weiter zu trinken. Ich will heute noch Egill erreichen und mich erkundigen, wie es ihm geht. Der verantwortungsvolle Bruder sein und versuchen, ihn in seiner jetzigen Situation zu unterstützen. Betrunken bin ich nicht sehr viel nütze.
Sowie ich um die Ecke biege, sehe ich, dass Fríðas Straße voller Polizeiwagen ist. Die blinkenden Blaulichter machen das Winterlicht noch kälter, und ein schneidender Wind fegt durch die Straße direkt in mein Gesicht wie ein Unglücksbote. Ich weiß sofort, dass Fríða etwas passiert ist. Die Tür zu ihrem Haus steht offen, und auf der Treppe spricht Njörður mit ein paar uniformierten Polizisten.
«Njörður!», rufe ich und winke. Das gelbe Plastikabsperrband ist quer über die Straße gespannt. Njörður sieht auf und blickt suchend um sich. Als er mich sieht, läuft er sofort auf mich zu, hebt das gelbe Band hoch, ergreift meinen Arm und dirigiert mich darunter durch.
«Der richtige Mann am richtigen Ort!», knurrt er und zieht mich ins Treppenhaus, die Treppe hoch und in Fríðas Wohnung. «Nicht immer kommen die Verdächtigen selbst zum Tatort und stellen sich», ruft er Iðunn zu, die in den Flur tritt, weiß im Gesicht, mit zusammengepresstem Kiefer.
«Was zum Teufel machst du hier?», zischt sie mich an.
«Ich wollte nur bei Fríða vorbeigucken …», sage ich, «… und dann sah ich die Polizeiwagen und Njörður vor dem Haus, sodass …»
«Wann hast du sie zuletzt gesehen?», brüllt Iðunn. Sie hat mich noch nie so angebrüllt. Nicht einmal, als wir uns sehr heftig gestritten haben. Ich muss einen dicken Kloß im Hals hinunterschlucken, bevor ich antworten kann.
«Vorgestern», murmele ich.
«Wann vorgestern?», schreit Iðunn zurück.
«Nachmittags, ich weiß nicht die genaue Uhrzeit, ich bin vielleicht so kurz vor dem Abendessen gegangen.» Njörður steht daneben und notiert etwas in seinem kleinen Schreibblock, der zur Standardausrüstung aller Kriminalpolizisten zu gehören scheint, aber in seinen trollartigen Schaufeln verschwindet, sodass es aus meiner Perspektive aussieht, als würde er etwas auf seine Handfläche kritzeln.
«Und hast du sie gebumst?», zischt Iðunn etwas leiser.
«Ja», antworte ich, auch wenn ich es nicht so bezeichnen möchte. «Was ist mit Fríða passiert?»
«Sie ist auf schreckliche Weise angegriffen worden», antwortet Iðunn. «Wahrscheinlich wollte man sie umbringen, und es nicht sicher, ob sie überleben wird. Es scheint aber die gleiche Handschrift wie bei den anderen Fällen zu sein. Deshalb sind wir hier, auch wenn es kein Mord ist – noch nicht. Sie kam ganz offensichtlich nicht schnell genug mit den Schritten voran.» Iðunn dreht sich auf dem Absatz um, geht wieder ins Schlafzimmer zurück und gibt mir ein Zeichen, ihr zu folgen. Fríða wurde offenkundig im Bett misshandelt, denn eine Polizistin im weißen Overall packt gerade das blutige Bettzeug zusammen und steckt es in einen Plastiksack, den sie versiegelt. Die minzgrüne Holzverkleidung in der Dachschräge ist komplett mit schwarzem Filzstift vollgekritzelt. Ich kneife die Augen zusammen, um die Wörter zu erkennen, aber die Schrift ist klein, und ich rühre mich nicht von dem Fleck weg, wo ich auf Iðunns Anordnung stehen darf.
«Hier hat Fríða all ihre Missetaten aufgelistet, wie man es im achten Schritt machen soll, das heißt das, was sie ihrer Ansicht nach anderen gegenüber falsch gemacht hat und was ihr Schuldgefühle bereitete. Das ist alles recht schillernd und wäre interessant für dich gewesen zu wissen, bevor du sie gebumst hast, zum Beispiel hier: Tommi mit Chlamydien angesteckt und ihm nicht Bescheid gesagt. Oder: Lehnte es ab, Anyja zu helfen, als sie mit dem Nackttanz aufhören wollte. Und dann, urkomisch: Habe dem alten Botschafter für den Blowjob immer zu viel abgeknöpft, obwohl er nett zu mir war. Und dann will ich dir das Neueste vorlesen, was auch unser größtes Interesse weckte: Habe mit Magni geschlafen, ohne es wirklich zu wollen. Habe ihn danach rausgeschmissen, und ich glaube, das hat ihn verletzt.» Iðunn ist so wütend, dass ihre Stimme ein klein wenig zittert.
«Jetzt erzähl uns mal, wie sehr es dich verletzte, Magni», höre ich Njörðurs Stimme hinter mir, er steht in der Schlafzimmertür. «Vielleicht so sehr, dass du versucht hast, sie umzubringen?»
«Spielt euch nicht so auf», sage ich. Mir wird schwindlig, und in meinem Kopf geht alles durcheinander. Ich hätte nicht das verfluchte Bier wegwerfen sollen. Die weißgekleidete Polizistin drängt sich mit dem Bettzeug im Plastiksack an mir vorbei. Es ist so blutig, dass mehr Rot als Weiß durch das Plastik zu sehen ist.
«Es hat wenig Sinn, so zu tun, als sei nichts geschehen. Ich nehme an, dass man bei der DNA-Analyse deine Spuren in dem Bettzeug finden wird, oder?»
«Wohl schon», sage ich, und der Ernst der Lage wird mir schlagartig klar. Es ist wahrscheinlich besser, mich zurückzuhalten und nüchtern zu werden, bevor ich mich darüber aufrege, dass sie sich erdreisten, mich zu verdächtigen. So richtig ist das Ganze noch nicht in mein Bewusstsein gedrungen.
«Was hat man ihr angetan?», frage ich Iðunn und schaue sie bittend an. Sie erwidert meinen Blick. Ein Mundwinkel zuckt leicht, und sie hat müde Augen.
«Soll das heißen, du weißt es nicht?», sagt Njörður mit scharfer Stimme. Ich würdige ihn keines Blickes.
«Es ist besser für dich, wenn du es nicht vor dem Verhör erfährst.» Entweder spielen sie «böser Polizist und guter Polizist», oder Iðunn verdächtigt mich nicht. Es kann nicht sein, dass sie mich verdächtigt. Sie kennt mich am besten von allen.
Iðunn bietet mir an, mich heimzufahren, und wir gehen gemeinsam die Treppe hinunter und auf die Stufen hinaus, wo ich heute Nacht eingeschlafen bin. Vielleicht war der Verrückte bei ihr, als ich besoffen vor ihrer Haustür pennte. Ein Gefühl packt mich, es ist eher Entsetzen als der Ekel, den ich normalerweise vor mir selbst nach einem Besäufnis empfinde. Iðunn nimmt eine kleine Tasche aus einem der Polizeiautos und lehnt Njörðurs Begleitung dankend ab. Als wir zur Hverfisgata hinunterfahren, sagt sie:
«Ich merke am Geruch, dass du getrunken hast.»
«Ja, nachdem der Mörder nach dem Zwölf-Schritte-Programm tötet, fand ich es besser, nicht damit zu arbeiten und die AA zu meiden, bis er gefasst ist.»
«Wie clever von dir, Magni. Die Arroganz und die Ausflüchte sind wieder da. Glückwunsch. Ich habe sowieso nicht daran geglaubt, dass es bei dir klappt.»
Als wir beim Haus angelangt sind und ich mich von ihr verabschieden will, steigt sie aus dem Auto und nimmt die kleine Tasche mit.
«Ich muss Fingerabdrücke und DNA-Proben von dir nehmen», sagt sie.
Ich sitze auf dem Sofa, Iðunn setzt sich auf den Sessel gegenüber und reiht die Sachen aus dem Täschchen zwischen uns auf dem Tisch auf. Die Abdrücke von meinen Fingern kommen in die entsprechenden Felder eines Formulars, das Iðunn anschließend in eine Plastikhülle steckt. Dann nimmt sie ein Wattestäbchen und lässt mich den Mund öffnen. Es dauert ewig, als würde sie die Innenseite der Wange abschaben.
«Ich brauche dir vermutlich nicht extra zu erklären, dass du, nachdem du jetzt zum Kreis der Verdächtigen gehörst, uns nicht mehr bei den Ermittlungen unterstützen kannst», sagt sie, während sie ihre Utensilien zusammenpackt. Ich nicke und sinke auf das Sofa. Sobald Iðunn die Tür hinter sich geschlossen hat, schlage ich die tintenbefleckten Hände vors Gesicht und weine wie ein Kind.