Elftes Kapitel Gebet

Bevor ich vollständig das Bewusstsein wiedererlange, spüre ich ein starkes Pochen im Kopf, als ob der Schlag immer noch im Schädel widerhallen würde. Ich öffne die Augen und sehe, dass ich in einer aufrechten Position bin und nicht liege, wie ich dachte. Anscheinend befinde ich mich in einer Art Schuppen mit hoher Decke, gegenüber durch die schmalen Ritzen einer großen Tür dringt ein wenig Tageslicht. Es liegt ein schwacher Stallgeruch in der Luft, und von draußen höre ich gleichförmige Verkehrsgeräusche. Ich habe das Gefühl, als ob ich schweben würde, und überlege, ob das vom Schlag auf den Hinterkopf herrührt, aber als ich einen Schritt nach vorne machen will, merke ich, dass ich tatsächlich etwa einen halben Meter über dem Boden in der Luft hänge. Ich drehe den Kopf, so weit es geht, aber als sich das Kinn der Schulter nähert, spüre ich einen schmerzhaften Stich oben am Kopf, als ob mir die Kopfhaut abgezogen würde. Die Kopfbewegung reicht jedoch aus, dass ich meine Arme sehen kann, wo an den Gelenken Stricke befestigt sind: Unter meinen Achseln ist ein Seil, um die Ellenbogen und die Handgelenke, und um jeden einzelnen Finger ist eine dünne Schnur geknüpft. Die Seile scheinen an der Decke befestigt zu sein. Auch an meinen Schenkeln und um die Knie sind Seile, und ich stehe in seltsamen Steigbügeln, die jedoch nachgeben, sodass sich das Körpergewicht auf die anderen Seile und Schnüre verteilt, wenn ich versuche, einen Fuß zu belasten. Auch mein Haar ist hochgebunden, sodass ich mich selbst skalpieren würde, wenn ich den Kopf sinken lassen oder zu weit zur Seite drehen würde.

«Jetzt bist du präpariert wie eine Marionette», sagt eine Stimme hinter mir, «und es bleibt dir nichts anderes übrig, als dich führen zu lassen.»

Ich brauche einige Augenblicke, bis ich die Stimme erkenne. Geir baut sich vor mir auf, lächelt und zieht an einem der Seile, die zwischen uns von der Decke hängen. Mein Bein bewegt sich ruckartig, er zieht an einer anderen Stelle, und mein anderes Bein ruckt hin und her. Obwohl sich die Beine bewegen, tun mir am meisten die Finger weh.

«Was habe ich zu dir gesagt?» Er geht ruhig einmal um mich herum. «Ja, jetzt fällt es mir wieder ein! Ich sagte, dass ich dafür sorgen würde, dass du in Zukunft nicht mehr trinkst.» Er bleibt direkt vor mir stehen. «Aber du bist rückfällig geworden und hast die ganze Nacht wie ein Schwein gesoffen. Bedeutet das, dass ich gescheitert bin?»

Ich schweige, ich weiß nicht, was ich antworten soll.

«Oder bedeutet das, dass du deinen Teil der Abmachung nicht eingehalten hast?», fährt er fort. «Moment, wie war das noch mal … ja: Deine Aufgabe ist es, das zu befolgen, was ich dir sage! Hast du befolgt, was ich dir gesagt habe? Na?» Ich beschließe einzulenken, vielleicht erzeugt ja unterwürfige Reue Mitleid bei ihm, und sage leise:

«Nein.»

«Nein! Nein, nein! Das ist es nämlich genau!», brüllt er. «Du hast nicht befolgt, was ich dir gesagt habe! Du hast aufgehört, mit deinen Schritten zu arbeiten, und die Meetings nicht mehr besucht und einfach den Dingen ihren Lauf gelassen.» Ich sage nichts dazu, nachdem ich festgestellt habe, dass Demut nichts nützt. «Aber jetzt bist du in meiner Gewalt, mein Guter, und jetzt machst du, was ich dir sage!» Er zieht erneut an den Seilen, sodass mein Körper groteske Bewegungen vollführt. Meine Bemühungen, dagegen anzukämpfen und meine Bewegungen selbst zu steuern, sind absolut sinnlos. Ohne Bodenkontakt bin ich nur ein Spielball der Schwerkraft und dieses Mannes, der vor mir steht und ruft: «Tanz, Magni, tanz!», oder: «Lauf, so ja, lauf!», und mich quält, indem er heftig an den Seilen reißt, sodass mir schier die Hände und die Haare abgerissen werden.

Ob aus Wut oder aus Furcht rufe ich:

«Ich war vollkommen damit beschäftigt, einen Serienmörder zu jagen!» Tatsächlich zeigt mein Rufen Wirkung, er hört auf, und der Schmerz lässt zum Großteil nach.

«Was sagst du da?» Geir beugt sich drohend vor.

«Ich habe nicht befolgt, was du mir gesagt hast, weil ich vollkommen damit beschäftigt war, einen Serienmörder zu jagen», sage ich.

«Serienmörder? Du kannst gerne irgendwelche Polizeibegriffe dafür verwenden, wenn du willst, aber ich habe eine klare und einfache Berufung im Leben», antwortet er. Ich schweige, damit er fortfährt und das sagt, was mir bereits schwant: «Ich bin der Rächer des Herrn, der die Welt von denen befreit, die es nicht wert sind, spirituelle Erweckung zu erfahren.» Nun weiß ich sicher, dass er derjenige ist, nach dem wir gesucht haben.

«Mit anderen Worten, Alkoholiker, denen die Genesung nicht so gelingt, wie du es dir vorstellst.»

«Mit anderen Worten, Alkoholiker, die in Wirklichkeit gar nicht genesen wollen!» Sein Gesicht ist jetzt dicht vor meinem, und ich sehe den Schweiß auf seiner Stirn und das schnelle Pochen der Adern an den Schläfen. «Was ist das denn für eine Art, jahrelang an dem zweiten Schritt herumzumachen und einfach keine innere Basis des Glaubens zu finden?»

«Ich nehme an, du sprichst von Jón Ágúst?»

«Jón Ágúst, der Versager. Er hörte zu, aber er wollte nicht auf den Herrn hören. Er wollte einfach nicht das verstehen, was wichtig war.»

«Aber er ist nie rückfällig geworden», sage ich. «Ist das nicht ein Zeichen dafür, dass er seine Sache gut gemacht hat?» Ich muss herausfinden, was dieser Wahnsinnige unter einem gerechten Mord versteht.

«Er wurde nicht rückfällig, aber war er geistig nüchtern? War er auf dem Weg der Genesung?»

«Ich weiß es nicht», antworte ich. «Ich kannte ihn nicht.»

«Aber ich kannte ihn! Und ich kann dir sagen, dass er in keinster Weise auf dem Weg der Genesung war! Und gemessen daran, wie wenig er sich anstrengte, hatte er es nicht verdient, die Erweckung des Herrn zu erfahren.»

Das ist also sein Motiv, die höhere Berufung, die laut Megan die meisten Serienmörder haben. Er tötet Menschen, die ihre Aufgabe seiner Ansicht nach nicht zufriedenstellend erfüllen, ausgehend von seiner eigenen Definition von Gott.

«War es mit Bjarni Jóhannes das Gleiche? Hat er sich nicht gebessert?» Ich will seine Erklärungen hören und wissen, warum dieser Drecksack meinen Bruder getötet hat.

«Bjarni Jóhannes kam mit dem fünften Schritt nicht weiter, er arbeitete ihn immer wieder durch, aber setzte sich niemals mit seinem schwerwiegendsten Fehler auseinander. Er hat ein kleines Kind umgebracht.» Er schaut mich gespannt an, als ob er mir eine Neuigkeit mitgeteilt hätte.

«Im Gegensatz zu dir, der nur Erwachsene umbringt.» Das hätte ich besser nicht gesagt, denn er versetzt mir einen mächtigen Fausthieb direkt auf den Mund. Ich schmecke Blut, und die Lippen werden taub.

«Ich habe dir gesagt, dass ich der Rächer des Herrn bin.» Seine Stimme ist jetzt leiser. «Ich erleichtere ihm die Arbeit, sodass er nicht mit ansehen muss, wie all diese Versager sich zu Tode trinken und dopen und wir, die wir unsere Sache gut machen, nicht unter dem Gejammer dieses Packs zu leiden haben, das ständig um seine Probleme kreist, aber nicht die Maßnahmen ergreift, die ihnen der Herr als Unterstützung geschickt hat.»

«Aber warum hast du meinen Bruder Egill getötet?» Ich merke, wie mir gegen meinen Willen Tränen über die Wangen laufen und sich mit dem Blutgeschmack im Mund mischen.

«Neun Monate nüchtern und noch nicht seine Missetaten wiedergutgemacht.» Er schnalzt einige Male mit der Zunge und schüttelt den Kopf. Er zieht wieder an den Schnüren, und ich tanze wie ein Hampelmann in der Luft. Er lacht und amüsiert sich bestens, aber egal, wie sehr ich mich bemühe, mich dagegenzustemmen, es tut weh. Nach einer Weile gebe ich auf und versuche den Körper zu entspannen, hänge kraftlos da, dann sind die Schmerzen in den Extremitäten am ehesten auszuhalten. Allmählich merke ich, wie die Bewegungen weniger werden, bis ich ruhig vor und zurück schwinge, und als ich hochblicke, ist er verschwunden.

Ich horche, aber kann außer dem Brausen des Verkehrs nichts ausmachen. Es muss einen Eingang zu diesem Schuppen hinter mir geben. Da ich nun allein bin, überkommt mich der Ehrgeiz, dass ich mich möglicherweise befreien kann. Ich werfe mich wild hin und her, aber sehe schnell ein, dass es keinen Sinn hat und das Gezappel nur noch mehr Schmerzen verursacht. Ich muss meine Lage analysieren und einen Weg finden, mich zu befreien. Die Taue unter den Armen, um die Ellenbogen und an den Beinen sind um mich herumgewickelt und zusätzlich mit grauem Tape befestigt, das ich unmöglich zerreißen oder durchscheuern kann. Man muss es abziehen. Ich komme zu dem Ergebnis, dass ich mit den Fingern anfangen muss. Wenn ich eine Hand frei hätte, könnte ich mich losmachen. Ich werde mich auf die rechte Hand konzentrieren, mit der ich geschickter bin, und versuche, mit dem Mittelfinger die Schnur vom Zeigefinger zu rubbeln. Das ist leichter gesagt als getan, denn die Fäden sind so gespannt, dass die Finger gespreizt sind, und zudem ist die Schnur so fest um den Zeigefinger gebunden, dass das letzte Glied dick geschwollen ist. Zwischendurch entspanne ich mich, dann versuche ich es erneut, in der Hoffnung, dass sich die Schnur allmählich verschiebt. Es wird dämmrig in dem Schuppen, und das schwache Tageslicht, das vorhin durch die Ritzen an der Tür drang, ist nun zu dem mattgelben Schein einer elektrischen Beleuchtung geworden. Das Rauschen des Verkehrs hat beträchtlich zugenommen, der Berufsverkehr wird eingesetzt haben. Wo bin ich bloß? Wo am Stadtrand könnten alte Bauernhöfe und Verkehrsadern sein? Ich stelle mir vor, was ich zuerst mache, wenn ich hier raus bin. Wahrscheinlich ist es am besten, auf die belebte Straße zu laufen, ein Auto anzuhalten und Iðunn anzurufen. Ich gebe mich Tagträumen über Iðunns Dankbarkeit und Bewunderung hin, wenn ich diesen größten Mordfall in der isländischen Geschichte löse. Aber dann erinnere ich mich, dass ich immer noch hier bin, verschnürt und von der Decke hängend wie ein Hähnchen im Schlachthaus, und bisher ist es mir nicht gelungen, den Finger frei zu bekommen. Die Furcht krallt sich in meine Eingeweide, als ich zum ersten Mal in Betracht ziehe, dass ich mich eventuell gar nicht werde befreien können, sondern hier darauf warten muss, bis es dem Teufel einfällt, mich zu töten. Der kalte Schweiß bricht mir aus, ich weiß nicht, ob aus Furcht oder vor Anstrengung, mich ruhig zu halten, während ich mich anstrenge, den Zeigefinger zu befreien. Ich rubbele weiter, entspanne mich, setze wieder an, aber ich muss in einer Entspannungsphase eingeschlafen sein, denn plötzlich ist vom Autoverkehr fast nichts mehr zu hören, nur noch das eine oder andere vorbeirauschende Auto. Ich setze meine Bemühungen fort, und plötzlich ist es vollbracht. Ein Triumphgefühl überkommt mich, dann konzentriere ich mich auf die Schnur am Mittelfinger. Wenn ich die ganze Nacht zur Verfügung habe, gelingt es mir womöglich, alle Finger zu befreien, und dann gibt es noch Hoffnung. Diese Hoffnung wird zunichtegemacht, als ich hinter mir Schritte höre und Geir lachend sagt:

«Nein so was, bist du schön fleißig, mein Lieber! Das geht so aber nicht.» Und dann bindet er das Stück Schnur wieder um den freien Zeigefinger, aber diesmal so fest, dass kein Blut mehr in die Fingerkuppe fließt. Die Enttäuschung ist groß, mein Magen schmerzt, und ich würde am liebsten schreien, aber den Gefallen will ich ihm nicht tun. Meine Wut findet ein Ventil, und ich überschütte ihn mit Megans Informationen über Serienmörder.

«Warst du auch eines von diesen Kindern, denen es Spaß machte, Tiere zu quälen? Und hast du vielleicht Feuer gelegt und zugeschaut, wie es sich ausbreitet, und bist dann nach Hause gegangen, du elender Zwerg, um ins Bett zu pinkeln wie all die anderen Jammerlappen?» Worte sind das einzige Mittel, mit dem ich ihm unter den gegebenen Umständen beikommen kann, und ich will Geir in die Mangel nehmen, ihn dafür bestrafen, dass er meinen Bruder getötet hat, das Leben aus ihm herausquetschen, und ich lege alles in meine Beschimpfungen, von denen ich hoffe, dass sie ihn aus dem Gleichgewicht bringen. Wenn dieser verfluchte Kerl mich sowieso umbringen will, dann soll er endlich damit anfangen. «Bist du etwa einer von denen, die Leute ermorden und dann nach Hause gehen und sich bei der Erinnerung daran einen runterholen, du verfluchter Bastard? Und dann bringst du ja nur Männer um, das bedeutet wohl, dass du schwul bist. Warum gelang es dir nicht, Fríða zu töten? War es nicht aufregend genug? Warum fickst du mich nicht einfach, während ich hier hänge, du perverses Arschloch? Traust du dich vielleicht nicht?» Er geht ruhig um mich herum und schaut mich höhnisch grinsend an, sein interessierter Blick wandert prüfend über meinen Körper. Obwohl meine Pöbeleien keinen Einfluss auf ihn zu haben scheinen, mache ich trotzdem weiter. Denn meine Beschimpfungen verschaffen mir eine gewisse Erleichterung. «Du bist nicht der Rächer des Herrn, du Idiot, keine höhere Bestimmung kann rechtfertigen, was du tust. Gott würde dich anspucken, wenn er dich träfe, du bist eine hirnlose Kreatur, die aus Lust tötet …» Weiter komme ich nicht, weil er mir kräftige Hiebe auf Augen, Nase und Mund versetzt. Er lässt seine Fäuste auf mich einprasseln, und ich hüpfe auf und ab, höre auf, die Schläge zu zählen, warte einfach, bis er fertig ist. Ich habe offensichtlich zu guter Letzt doch einen wunden Punkt getroffen. Als ich langsam vor lauter schwarzen Punkten wieder etwas sehe und das schlimmste Pfeifen in den Ohren aufgehört hat, ist er verschwunden. Ich frage mich, warum er damit wartet, mich umzubringen. Die Betäubung im Gesicht weicht allmählich dem Schmerz, aber es ist die reinste Erholung, dass es zur Abwechslung mal woanders wehtut. Ich habe kein Zeitgefühl mehr, und als immer weniger Autos vorbeifahren, packt mich die Einsamkeit. Ich beginne sie zu zählen, als seien es Zeiteinheiten, aber nach vier Autos herrscht lange Stille. Ich muss eingeschlafen sein und eine ganze Weile geschlafen haben, denn ich erwache vom ziemlich gleichmäßig dahinrauschenden Autoverkehr und sehe das Tageslicht in den Ritzen der Schuppentür.

 

Wenig später merke ich, wie eine Tür hinter mir geöffnet und geschlossen wird. Ich bin zu müde, um den Kopf zu heben. Die Schnüre im Haar scheinen lockerer geworden zu sein, denn mein Kinn ruht fast auf der Brust.

«Ich hätte gedacht, dass du ein zäherer Bursche bist.» Er zieht etwas an den Schnüren an den Händen, sodass sie in die Luft schlagen wie beim Boxen. Der Schmerz in den Händen hat sich inzwischen in ein unablässiges Brennen verwandelt, und es ist gleichgültig, ob er daran zieht. «Aber du existierst nur, tust gar nichts, existierst nur.» Er spuckt auf den Boden unter meinen Füßen. «So ein hübscher Junge, und dann unternimmst du nichts, um ein besserer Mensch zu werden, sondern gehst einfach durch das Leben und genießt die Früchte, die Gott dir gab, und schaffst es nicht einmal, dich dafür zu bedanken.» Er zieht noch einmal, scheinbar zufällig, sodass ich zuckend durch die Luft laufe.

«Kann schon sein, dass dich die Mädchen gutaussehend finden, aber in meinen Augen bist du nur eins: ein Versager.» Ich hänge völlig schlapp in den Seilen und schaue mit halbgeschlossenen Augen auf den Boden. Er schiebt sich langsam an mich heran und geht etwas in die Knie, um nachzusehen, ob ich bei Bewusstsein bin. Mein Herzschlag beschleunigt sich, als ich die winzige Chance zur Flucht erkenne. Ich bewege mich nicht, während ich warte, dass er näher kommt. Als er die Hand ausstreckt, um meinen Kopf zu heben, ergreife ich die Gelegenheit, hole Schwung, so gut ich kann, und wickle den Faden für meinen Arm um seinen Hals. Soweit es meine begrenzte Beweglichkeit erlaubt, zappele ich unkontrolliert herum in der Hoffnung, dass er sich in den Stricken verheddert. Er knurrt und gibt ein Gurgeln von sich, ich habe ihm wohl den Hals abgedrückt. Allerdings hat er im Gegensatz zu mir festen Boden unter den Füßen, sodass mein Versuch vergeblich ist. Er streicht sich durch die Haare, als er sich befreit hat, und lächelt fröhlich, wie nach einer erfrischenden Joggingrunde. Dann lässt er die Fäuste auf mein Gesicht prasseln. Mein rechtes Auge schwillt so stark an, dass ich damit nichts mehr sehe. Als ich mich wieder auf meine Umwelt konzentrieren kann, ist er weg.

 

Mein Zeitgefühl ist verzerrt, als ob die Zeit gleichzeitig schnell und langsam vergehen würde. Ich habe Hunger und denke für einen Moment ans Essen: ein Wurstbrot, eine heiße Nudelsuppe und vielleicht ein gekochtes Ei. Aber am liebsten würde ich mit Iðunn auf dem Sofa in unserer alten Wohnung sitzen und kuscheln, wir würden die Suppe essen und uns Liebesworte ins Ohr flüstern. Ich würde sie immer gut behandeln und sie nie mehr enttäuschen. Ein plötzliches Brennen im Gesicht sagt mir, dass ich weine. Ich bin so einsam, habe mich angepinkelt, und die Schmerzen in den Schultern und Beinen und im Rücken sind schier unerträglich. In meiner Einsamkeit suchen mich Bilder von Iðunn heim: ihr enttäuschtes Gesicht, ihr liebevoll dreinblickendes Gesicht, noch einmal ihr enttäuschtes Gesicht. Dann sehe ich mich stockbesoffen auf dem Sofa sitzen, vor mir auf dem Tisch türmen sich Bierflaschen, jede einzelne eine Verkörperung meiner verpatzten Lebensträume.

Während ich lausche, wird mir allmählich klar, dass ich mir inzwischen fast wünsche, dass Geir zurückkäme, nur damit ich nicht mehr länger allein bin. Er ist der einzige Mensch, den ich erwarte, und deshalb kann nur er allein meine einsamen Qualen lindern.

 

Hilfe. Hilfe. Hilfe. Hilfe. Ich weiß nicht, ob ich um Hilfe bettele, weil ich gerettet werden will, oder ob ich eine göttliche Macht bitte, mich aus diesem Erdenleben zu erlösen. Damit ich hier nicht mehr gefesselt hängen, auf mein Leben zurückblicken und erkennen muss, wie schlecht ich es genutzt habe. Meine Gebete bestehen nicht mehr länger aus Gedanken oder Sätzen, sondern ich singe unaufhörlich dieses eine Wort vor mich hin, das ich mit den geschwollenen Lippen formen kann, und ich höre auch nicht auf, als mein Gesang längst nur noch ein Wimmern ist.

 

Plötzlich überkommt es mich. Ich weiß nicht, ob ich hyperventiliert und mich durch den monotonen Gesang in eine Art veränderten Bewusstseinszustand befördert habe oder ob das die ersten Anzeichen sind, dass das Leben langsam aus meinem Körper weicht. Meine kalten und steifen Glieder werden heiß, und das Blut fließt schneller, wie wenn die Sonne auf mich scheint. Aber meine Augen sind nach den Faustschlägen so trocken und geschwollen, dass ich sie nicht öffnen kann, um festzustellen, ob an diesem Gefühl etwas dran ist. Mein Herz schlägt schneller, und auf einmal fallen alle Sorgen von mir ab, und in meinem tiefsten Inneren weiß ich, egal was passiert, alles wird gut. Es macht mir nichts aus zu sterben, denn ich weiß, dass ich dann wieder bei Baldur sein werde. Ich nehme den Duft seines Köpfchens wahr und die Wärme des kleinen Körpers sickert durch meine Haut bis ins Herz und wärmt es, als ob ich ihn im Arm hielte. Plötzlich wird offensichtlich, dass mein Zorn über seinen Tod grundlos war. Sein kurzes Leben bescherte mir nicht nur das denkbar größte Unglück, sondern auch das größte Glück meines Lebens, und ich hätte diese eine Woche um keinen Preis missen wollen. Sein kurzes Leben hatte großen Einfluss, denn es lehrte mich eine Liebe, die größer war, als ich mir je hatte vorstellen können. Ich höre Schritte und Geirs Stimme irgendwo in meiner Nähe, aber die Worte erreichen mich nicht, und ich habe keine Angst mehr. Dieses plötzliche Wohlbefinden kann nichts anderes sein als die Gnade Gottes.

 

Ich schrecke etwas hoch, als mich ein kalter Luftzug trifft, aber als sich Mund und Nase mit Wasser füllen, wird mir klar, dass Geir mich mit einem Gartenschlauch abspritzt.

«Jetzt bist du schön brav und machst gefälligst weiter, schließlich hast du ja schon angefangen, zu beten und deine Demut im Leben zu erkennen.»

Er trägt einen Regenoverall, Gummistiefel und eine Haube auf dem Kopf, wie sie in der Fischfabrik benutzt werden. «Wenn du diese Stufe ohne Zwang erreicht hättest, hättest du es verdient zu leben, aber ohne mich hättest du es nie getan. Damit hast du selbst über dich das Urteil gefällt, weil du die Führung des Herrn nicht freiwillig angenommen hast.» Er spült mich mit dem starken Strahl gründlich ab, und dann höre ich ein metallisches Klirren. Er reinigt wahrscheinlich den Abfluss, um die Vernichtung sämtlichen Beweismaterials sicherzustellen.

 

Ich spüre einen schmerzhaften Stich am Schenkel und weiß, dass er mir jetzt die Überdosis Morphium verpasst, die zum Atemstillstand führt, aber irgendwie betrifft mich das nicht mehr. Ich denke an Baldur und das Gefühl, das damit verbunden ist, bei ihm zu sein, und bin zufrieden damit, aus dem Leben zu scheiden. Spüre noch einmal einen Schmerz im Schenkel und dann einen Schlag in den Magen, ich höre Schreie um mich herum. Ich versuche die Augen zu öffnen, aber schließe sie sofort wieder wegen der gleißenden Helligkeit. Die Schuppentür scheint offen zu stehen, und ich spüre einen kühlen Zug im Gesicht.

«Es wird alles wieder gut, Magni, du bist außer Gefahr», höre ich Iðunns Stimme direkt an meinem Ohr und dann Lärm und Rufe irgendwo im Schuppen. Jemand verlangt Handschellen, und eine andere Stimme direkt neben mir sagt, dass das meiste noch in der Spritze ist.

«Holt den Arzt», sagt Iðunn, und dann passiert eine Weile nichts. Vielleicht bin ich eingeschlafen. Dann wieder ein Stich, diesmal in den anderen Schenkel, sofort beschleunigt sich mein Herzschlag, und ich kann besser hören.

«Erst die Finger», sagt eine Männerstimme, meine Hand schmerzt, und kurz darauf falle ich herunter in jemandes Arme.

 

Als ich zu mir komme, sitze ich draußen mit ausgestreckten Beinen an eine Wand gelehnt. Iðunn flößt mir aus einem Pappbecher Kaffee ein und steckt mir Apfelstückchen in den Mund, während mir jemand mit der Taschenlampe in die Augen leuchtet. Ich sauge gierig an den Apfelschnitzen, obwohl mir mein ganzes Gesicht wehtut, wenn ich nur die Lippen bewege. Das ist das Beste, was ich jemals gegessen habe. Wer hätte geahnt, dass ein Schluck Kaffee und ein Apfel so gut zusammen schmecken?

«So langsam zirkuliert wieder Blut in den Extremitäten», sagt eine Männerstimme, «nur nicht in diesem Finger, der macht mir ein bisschen Sorgen.»

«Wir bringen ihn gleich in den Krankenwagen», sagt Iðunn, und ich spüre, wie ihre Hände mein geschwollenes Gesicht streicheln. «Komm, Magni, ab in den Krankenwagen; du musst ins Krankenhaus.» Aber ich will hier nicht weg, sondern draußen in der Helligkeit sitzen und die reine und klare Luft atmen, den Apfel essen und spüren, wie mich Iðunn streichelt und ruhig mit mir spricht. Bis auf einen schmalen Spalt, durch den ich auf den Boden sehen kann, kann ich die Augen nicht aufmachen. An der abgeblätterten Schuppenwand schauen einige weiße Krokusse aus der Erde.

«Schöne Blumen», versuche ich, einfach um irgendetwas zu sagen, aber ich weiß nicht, ob man es verstehen kann.

«Er hat eine ziemliche Dosis abbekommen», höre ich Iðunn sagen. «Ich glaube, wir sollten ihn einfach hier auf die Bahre packen.»