Zweites Kapitel Glaube

Ich starre auf die Fotos der Leiche und kann nicht glauben, dass das die Überreste eines Mannes sein sollen, der vor kurzem noch gelebt hat. Es kommt mir vor, als hätte ich ein Foto einer Theaterkulisse oder einer Installation im Nýlistasafn, dem Museum für zeitgenössische Kunst, vor mir. Der Mann ist an ein riesengroßes Holzkreuz an der Wand geschlagen, der Kopf hängt über der Schulter, die Beine sind verschränkt, und Nägel bohren sich durch Hände und Füße. Er trägt nur eine Unterhose, am Oberkörper klafft an der Seite eine Wunde, ein Kranz aus Stacheldraht thront auf seinem Kopf, Blut ist über sein Gesicht, über seinen Körper und die weiße Wand geflossen. Ein großes Gemälde von Tolli neben der Leiche lässt die Inszenierung noch unwirklicher erscheinen. Auf dem Gemälde ist ein Berg zu sehen, umgeben von einem stillen Himmel mit vereinzelten Wolkenfetzen. Es hat den Anschein, als hätte jemand diese Wanddekoration mit höchster Präzision angebracht, um sich an der Vollkommenheit der Darstellung zu erfreuen. Uns ist der Appetit vergangen, und die Brötchen, die ich heute Morgen in der Bäckerei geholt habe, liegen unberührt auf dem Tisch. Iðunn nippt von Zeit zu Zeit an ihrem Tee, mein Kaffee dagegen wird kalt.

«Das ist mein erster Mordfall», sagt sie, und ich kann nicht erkennen, was in ihrer Stimme überwiegt, Stolz oder Angst.

«Was für ein Mensch macht so was?», sage ich und stöhne auf. Während ich mir die Fotos anschaue, empfinde ich statt Mitleid mit dem Toten nur noch Ekel und Befremdung. Als ob meine Seele betäubt wäre und der Körper die Aufgabe übernähme, die Reaktionen angesichts dieser unendlichen Grausamkeit zum Ausdruck zu bringen, die dafür verantwortlich war, dass einem Menschen derart übel mitgespielt wurde. Mir wird schlecht.

«Ich muss herausfinden, was passiert ist», sagt Iðunn. «Im Moment haben wir keine Hinweise.» Sie nimmt die Bilder und steckt sie wieder in die braune Mappe. Ich bin erleichtert, dass ich sie nicht länger betrachten muss, und nehme einen Schluck kalten Kaffee.

«Ich bin für dich da, wenn ich dir irgendwie helfen kann», sage ich und hoffe, dass sie mir mit ihrer Bitte gestern im Auto signalisieren wollte, dass sie jemanden braucht, dem sie vertrauen und mit dem sie reden kann, vielleicht braucht sie auch eine Schulter, um sich auszuheulen.

«Danke. Ich benötige tatsächlich deine Hilfe», sagt sie und holt tief Luft. Es ist ziemlich offensichtlich, dass sie keine Schulter zum Ausheulen braucht, und ich spüre, wie mir ein Angstschauer über den Rücken läuft.

«Das Opfer war ein trockener Alkoholiker und Mitglied der Anonymen Alkoholiker. Er war seit fünf Jahren abstinent und besuchte einmal die Woche ein Meeting. Ich wollte dich bitten, zu den Versammlungen zu gehen und Augen und Ohren offen zu halten», erklärt sie, als wäre es die selbstverständlichste Sache der Welt.

«Aber Iðunn, ich bin erst gestern aus dem Entzug entlassen worden!», antworte ich erregt, ich bin verwirrt. «Ich bin erst bei einem einzigen Meeting gewesen! Du findest bestimmt jemand, der erfahrener ist als ich, oder du gehst einfach selber hin. Du brauchst ja nichts zu sagen.»

«Erstens muss es ein Mann sein, da er viele Männermeetings besucht hat, zweitens bringt es nichts, wenn jemand dort herumschnüffelt, von dem alle wissen, dass er Polizist ist, und drittens musst du sowieso zu diesen Meetings. Das hält dich bei der Stange.»

Ich würde sie am liebsten anschnauzen und ihr sagen, dass es nicht gerade angebracht ist, bei diesen Meetings an etwas anderes zu denken als an seine eigene Genesung, aber ich halte den Mund. Das Gefühl, dass ich ihr etwas schuldig bin, ist zu stark, diese Art von Egoismus kann ich mir nicht leisten.

«Ich bin kein Geheimagent, Iðunn. Du weißt, dass ich nicht der Typ bin, der Leute verhört, und zudem habe ich keine guten Nerven, wenn Gefahr droht.»

«Du sollst dich nicht in Gefahr begeben, mein lieber Magni, sondern lediglich die Augen offen halten und mich wissen lassen, ob dir ein oder mehrere Verdächtige auffallen oder dir Gerüchte zu Ohren kommen.» Die Worte mein lieber Magni lassen jeglichen Widerstand dahinschmelzen, und als ob sie es spürt, fügt sie sofort hinzu: «Aber der Hauptgrund, warum ich zu dir komme, ist, dass ich dir vertrauen kann.»

«Sind das anerkannte Arbeitsmethoden bei der Kriminalpolizei, ehemalige Partner in die Ermittlungen mit einzubeziehen?», frage ich schließlich, ohne jegliche Hoffnung, dass dieser letzte Strohhalm mir aus der Klemme helfen könnte.

«Ja, wir arbeiten mit Informanten und anderen Leuten zusammen, die uns behilflich sein können, und mein Vorgesetzter hat diese Maßnahme gutgeheißen.»

Informanten. Was für eine seltsame Berufsbezeichnung. Sie ist offensichtlich davon ausgegangen, dass ich zusagen würde, denn sie hat eine Schweigepflichterklärung vorbereitet, in der es heißt, dass ich zur Verschwiegenheit verpflichtet bin in Bezug auf das, was ich während der Zusammenarbeit mit der Polizei erfahre. Obwohl mich meine innere Stimme zur Vernunft aufruft, unterschreibe ich. Ich weiß nicht, ob ich es aus schlechtem Gewissen Iðunn gegenüber tue, da ich mich ihr gegenüber verpflichtet fühle, oder ob ich einen klitzekleinen Hoffnungsschimmer in meiner Brust verspüre, weil ich nun Gelegenheit habe, sie häufiger zu sehen.

 

Das Haus ist eines dieser neumodischen Häuser mit schrägem Dachfirst, es erinnert mich an ein Schiff und ist riesengroß. Die eine Hälfte besteht aus zwei Stockwerken, während die andere über eine doppelte Raumhöhe verfügt. Küche und Wohnzimmer bilden einen großen Raum, in der Mitte steht eine offene Küchenkombination. Der gekreuzigte Mann war offensichtlich nicht nur stinkreich, sondern auch ein Kenner der neuesten Trends im Bereich Innenarchitektur. Die Farbe Weiß dominiert das Innere des Hauses, sodass es zum Teil an eine Arztpraxis erinnert, aber ein wohlplatziertes Gemälde, eine Skulptur in der Ecke und eine Pflanze am Fenster schaffen eine warme Atmosphäre.

«Es scheint nichts gestohlen worden zu sein», sagt Iðunn und steigt unbefangen über die gelben Absperrbänder und die Kreidestriche auf dem Boden.

«Wie wollt ihr das wissen, wenn der Besitzer tot ist?», frage ich.

«Wir haben von der Versicherungsgesellschaft eine Liste über die Wertsachen im Haus erhalten, und zudem haben wir mit seinem Freund, genauer gesagt dem Liebhaber des Verstorbenen, gesprochen.»

«Dann war er also schwul?», frage ich, und auf einmal erhält die Kreuzigung eine neue Bedeutung.

«Ja, wir haben den Liebhaber überprüft. Er steht nicht unter Verdacht. Er war im Ausland und ist am Boden zerstört. Er wollte nichts davon wissen, dass der Tote irgendwelche Feinde hatte oder mit jemandem im Streit lag.»

«Wie hieß der Verstorbene?»

«Er hieß Jón Ágúst Karlsson, war sechsunddreißig Jahre alt und Architekt.»

Im selben Augenblick betreten wir das Wohnzimmer, und ich erblicke die Wand, die ich heute Morgen schon auf den Fotos gesehen habe. Die unmittelbar zu greifende Realität dessen, was in diesem Haus geschehen ist, dringt in mein Bewusstsein, und ich verspüre einen schmerzenden Stich im Hals. Das Ganze wird irgendwie noch konkreter, wenn man den Namen des Mannes kennt. Jón Ágúst ist ein derart geläufiger Name, dass man nicht wirklich versteht, warum jemand einen Mann töten sollte, der einen solch alltäglichen Namen trägt. Einen kurzen Augenblick fühle ich mich, als ob ich gleich in Ohnmacht falle, und ich frage Iðunn schnell, ob es in Ordnung ist, wenn ich mich in einen Stuhl in der Wohnzimmerecke setze.

«Ja, kein Problem, die Ermittlungen im Haus sind schon lange abgeschlossen», antwortet sie und fischt aus ihrer Tasche ein Bonbon und reicht es mir. «Das erhöht den Blutdruck», sagt sie. Ich zerkaue energisch das Bonbon und überlege, ob ich in ihren Augen eine totale Memme bin. Die Leiche ist entfernt worden, aber an der Wand hängt immer noch das riesige Holzkreuz aus dicken, grobgehobelten Balken, das mit einer Betonschraube oben an der Wand direkt unter dem hohen Dachfirst befestigt ist. Es reicht bis zum Boden. Das Blut sieht im Tageslicht beinahe schwarz aus und ist über das gesamte Kreuz und zu beiden Seiten über die Wand gelaufen. Links vom Kreuz hängt das Gemälde von Tolli. Die Blautöne und die Tiefe treten stärker hervor als auf den Fotos. Rechts vom Kreuz, etwas nach unten versetzt, hängt ein kleines Gemälde, das ich auf den Fotos nicht bemerkt habe. Es ist ein klassisches Landschaftsbild, offensichtlich eine isländische Landschaft: ein blauer Fjord, eine Landspitze in grüner Umgebung und im Vordergrund graue Steine. Als das Ohnmachtsgefühl verschwunden ist, stehe ich auf und versuche die Signatur zu entziffern, kann aber den Künstlernamen nicht ausmachen.

«Weißt du, wer dieses Bild gemalt hat?», frage ich Iðunn, und sie schüttelt den Kopf.

«Warum fragst du?» Sie kommt zu mir und bemüht sich ebenfalls, die Unterschrift zu entschlüsseln.

«Ich habe mich einfach gefragt, weil er schwul war, ob ihr die Symbolik der Kreuzigung etwas genauer unter die Lupe genommen habt», erwidere ich und versuche, mir die Meldungen über die Beziehung zwischen den Homosexuellen und der Kirche in den letzten Jahren in Erinnerung zu rufen.

«Hm, das meinst du», sagt Iðunn. «Ich werde nachschauen, ob auf der Versicherungsliste aufgeführt ist, von wem das Gemälde stammt.»

Vom Wohnzimmer aus machen wir einen Rundgang durch das Haus, es wirkt aufgeräumt, und es sind keine Anzeichen eines Kampfes zu sehen. Die Matratze im Schlafzimmer ist abgezogen, und ich schaue Iðunn fragend an, die mir aufgrund meines Dilettantismus beinahe schroff erklärt, dass die Bettwäsche ins Labor geschickt worden sei, das Bett jedoch sauber gewesen sei und die einzigen Spuren in der Wäsche vom Opfer herrühren würden. Auch das Bad, das an das Schlafzimmer grenzt, ist sauber, aber nach der letzten Reinigung offensichtlich noch benutzt worden, da auf dem Waschbecken ein Rasierer mit vertrockneten Schaumflecken liegt und über dem Badewannenrand ein Handtuch hängt. Unten befinden sich ein Fahrradraum und eine ausgebaute Garage sowie ein Fernsehzimmer und ein großzügiges Büro. Am Fenster erblicke ich einen hohen Zeichentisch, der dazu gedacht ist, im Stehen zu arbeiten, und an der Wand befindet sich ein gewöhnlicher Schreibtisch mit ein paar Unterlagen, ordentlicher gestapelt, als ich es gewohnt bin. Rechnungen, die Einladung zu einer Gemäldeausstellung, Schmierzettel, die mit der Arbeit zu tun haben. Besonders ein Gegenstand auf dem Schreibtisch weckt mein Interesse: ein gefalteter Veranstaltungskalender der AA. Der Kalender ähnelt meinem eigenen, blaugrau und auf Kreditkartengröße zusammengefaltet, damit er gut in die Brieftasche passt, doch in diesem Exemplar sind mindestens zwei Versammlungen am Tag mit verschiedenfarbigen Kugelschreibern, Filzstiften und Bleistiften unterstrichen. Ich fuchtle mit dem Kalender vor Iðunns Gesicht herum.

«Willst du, dass ich zu all diesen Meetings gehe?»

«Das wäre von Vorteil», meint sie, «aber wahrscheinlich müssen wir herausfinden, welche Meetings er regelmäßig besucht hat, dann haben wir einen Ansatzpunkt.»

«Okay, und wie stellen wir das an?» Mein Kopf ist plötzlich so schwer, und ich fühle mich wie betäubt, als ob ich neben mir stehen würde. Ich nehme das Dasein wie ein dumpfes Echo der Realität wahr. Entzugserscheinungen, haben die Ärzte in Vogur gesagt. Sie können auch später in Form von Müdigkeit, Anspannung, Vergesslichkeit und Verwirrtheit auftreten.

«Willst du nicht morgen Mittag mitkommen, wenn ich mich mit dem Liebhaber treffe?», fragt Iðunn. Ich bin einverstanden und bitte sie, mich nach Hause zu fahren, ich will mich hinlegen.

 

Es ist typisch für Egill, dass er mich aus dem Tiefschlaf holt, indem er die Türklingel lange gedrückt hält. Ich öffne ihm mit Hilfe der Gegensprechanlage, und kaum habe ich den Knopf losgelassen, da klopft er schon an der Tür. Er scheint die Treppe mit einem Satz genommen zu haben.

«Verdammt noch mal, wie gut du aussiehst, Mann!», sagt er und schlägt mir auf den Rücken. Das ist seine Vorstellung von Zuneigung und Wärme.

«Ebenfalls, Bruderherz», sage ich und meine es ehrlich, er strotzt buchstäblich vor Energie. Die kindliche Lebenskraft ist zurückgekehrt. Er hat ein paar Kilo zugelegt und wirkt nicht mehr so drahtig. Bis auf einen Ohrring und ein Piercing an der Augenbraue hat er das Arsenal an Ringen und Metallstiften, die er im Gesicht trug, abgelegt. Er ist ordentlich gekleidet, trägt ein gestreiftes T-Shirt und Jeans und riecht gut.

«Nun gehen wir zu einem richtigen Meeting, Bruder, kein Zögern und Murren mehr», ruft er mir ins Schlafzimmer nach, während ich mich anziehe und den Kamm durch das Haar gleiten lasse.

Wenige Augenblicke später eilen wir Seite an Seite den Frakkastígur hinunter. Obwohl es noch nicht mal fünf Uhr ist, ist die Sonne schon längst verschwunden, und ein neugeborener Mond spiegelt sich auf der glatten Meeresoberfläche. Gegenüber reflektieren die Schneefelder an den Hängen der Esja das Mondlicht, die in der abendlichen Dämmerung viel näher zu sein scheint.

 

Das Meeting, das Egill ausgewählt hat, ist um einiges besser besucht als das, auf dem ich gestern war. Über den Daumen gepeilt, haben sich mehr als hundert Leute im Saal eingefunden, und es liegt ein fröhliches Stimmengewirr in der Luft, das ohne Zweifel mit dem niedrigen Durchschnittsalter der Anwesenden zu tun hat. Da und dort fällt mir dennoch ein älteres Gesicht auf, und ich nehme erneut das wahr, was ich schon in Vogur bemerkt habe: dass Alkoholiker unter sich ohne Alter und Klassenzugehörigkeit sind. Ein achtzehnjähriger ehemaliger Junkie plaudert mit einer sechzigjährigen Hausfrau, die der Tablettensucht zum Opfer gefallen war, und man spürt, wie die gemeinsame Erfahrung sie verbindet, sich selbst aufgegeben und schließlich den Mut gefunden zu haben, der eigenen Schwäche ins Auge zu sehen.

«Ich werde dich dem Pfarrer vorstellen», sagt Egill und zieht mich im Schlepptau in den Saal. «Er ist aber kein richtiger Pfarrer, das ist einfach so eine Art Spitzname, das wirst du später verstehen.» Der sogenannte Pfarrer ist ein schlanker Mann mittleren Alters mit dunklem Haar. Er trägt ein kragenloses Hemd und eine altmodische Uhr.

«Magni, darf ich dir Geir vorstellen», sagt Egill und schaut dann erklärend zu Geir: «Magni ist mein Bruder und ist gestern aus dem Entzug entlassen worden.»

«Herzlich willkommen, Magni», sagt Geir und begrüßt mich. Er hat große Hände, und sein Handschlag ist fest und warm, und er schaut mir dabei tief in die Augen. «Ich hoffe, dass wir dir helfen können, den richtigen Weg zu finden.» Sein Lächeln ist warmherzig, und er ist mir auf Anhieb sympathisch.

«Netter Kerl», meint Egill, als wir uns auf der Suche nach zwei freien Plätzen zwischen den Klappstühlen hindurchzwängen. Das Meeting beginnt Punkt fünf. Eine junge Frau verkündet den Ablauf, was hier wichtiger zu sein scheint als bei den Versammlungen, die ich bisher besucht habe. Sie ruft einzelne Teilnehmer auf und teilt ihnen gewisse Aufgaben zu, unter anderem bestimmt sie einen Zeitwächter, da den Sitzungsteilnehmern jeweils nur eine bestimmte Zeit zum Reden zuerkannt wird. Vermutlich ist ein so strikter Ablauf notwendig, damit in einer derart bunt gemischten Gruppe alles reibungslos ablaufen kann. Nachdem sie das Meeting eröffnet hat, ernennt sie Geir zum Leiter. In dieser Position bekommt er mehr Zeit, um die Diskussion in Gang zu halten. Geir steigt aufs Podest, und da wir uns zuvor begrüßt haben, habe ich das Gefühl, als ob ich ihn persönlich kennen würde. Dadurch fällt es mir leichter, ihm zuzuhören. Er betont, dass der Glaube sehr wichtig für die Genesung sei, und macht deutlich, dass der Verlust des Glaubens in gewisser Hinsicht sogar das wahre Problem des Alkoholikers und möglicherweise sogar die Ursache der Krankheit sei. Das ist ein interessanter Blickwinkel, davon habe ich zuvor noch nie gehört. Aber dieser Punkt stimmt sehr gut mit meinen Erfahrungen überein, die ich mit meinen Leidensgenossen in Vogur gemacht habe: Keiner von ihnen konnte sich in seiner Misere auf einen Glauben stützen. Geir formuliert seine Gedanken sehr eingängig, und es herrscht Grabesstille im Saal, während er spricht, abgesehen von den Lachsalven, die ab und zu ertönen. Er spricht über die Interpretation des Glaubens, wie er im zweiten Schritt verankert ist: Wir kamen zu dem Glauben, dass eine Macht, größer als wir selbst, uns unsere geistige Gesundheit wiedergeben kann, und betont, dass die Formulierung Wir kamen zu dem Glauben einen großen Unterschied mache, zumal ein Ungläubiger den Glauben nicht einfach so finde, sondern ihn pflegen müsse und dann nach und nach zu glauben anfange. Das ist für mich eine Offenbarung und erfüllt mich mit Optimismus. Obwohl ich die Schritte schon oft gelesen habe, ist die Interpretation neu für mich, dass man den Glauben in seinem Inneren pflegen soll. Nach Geir ergreifen andere Versammlungsmitglieder das Wort, junge Leute, und ich habe den Eindruck, dass es noch halbe Kinder sind, sie sind ungefähr im Alter von Egill. Es macht Spaß, ihnen zuzuhören, und ich freue mich für sie, dass sie nicht wie ich noch zehn Jahre weitertrinken müssen, bis sie damit aufhören. Sie reden nicht lange um den heißen Brei herum, sondern erzählen von irgendeiner Begebenheit oder beschreiben ihr Befinden, als sie noch getrunken oder Drogen konsumiert haben, erläutern, was sie dazu gebracht hat aufzuhören, und zu guter Letzt, welche Methoden sie anwenden, um nüchtern zu bleiben. Reden hilft, und es ist simpel zu erkennen, was wirklich wichtig ist, da mir Geirs Worte noch immer allgegenwärtig sind. Unzählige Fragen zum Glauben und Gedanken über seine Wichtigkeit, wie man ihn hegen und pflegen sollte, schießen mir auf dem Heimweg durch den Kopf. Ich spüre, dass ich Geir gerne wieder zuhören und am liebsten persönlich mit ihm sprechen würde.

 

Egill bietet an, mir beim Kochen zu helfen, doch es scheint, dass er mit seinen Gedanken woanders und immer einen Schritt voraus ist, sodass ein großer Teil des Gemüses, das ich ihm zum Schnippeln gegeben habe, auf dem Boden landet. Ich schreite ein und nehme ihm das Gemüse ab. Stattdessen gebe ich ihm die Kartoffeln für die Suppe zum Schälen. Dann schneide ich Zwiebeln, Peperoni und frischen Ingwer klein, der das eigentliche Geheimnis der Hühnersuppe ist. Als ein köstlicher Duft aus dem Topf aufsteigt, überkommt mich das Verlangen nach Wein, und ich bin auf einmal sehr dankbar, dass Egill zu Besuch ist.

«Für gewöhnlich habe ich lieblichen Weißwein zu dieser Suppe getrunken», sage ich zu ihm, und er schaut mich an und versteht, was ich damit sagen will.

«Ach was, Apfelsaft passt viel besser dazu», sagt er und fügt mit einem Grinsen hinzu: «Und du wirst nicht so verdammt besoffen davon.» Wir essen die Suppe am Küchentisch vor dem Fenster, und ich zünde die Kerzen auf dem Tisch an, die ein angenehmes Licht auf uns und das Schneetreiben vor dem Fenster werfen.

 

Am Abend fällt es mir schwer einzuschlafen. Die Versuchung, nach dem Essen zum Eis einen Kaffee zu trinken, ist stärker gewesen als die Vernunft, und jetzt, einige Stunden später, muss ich dafür büßen. Egills Besuch scheint in mir einen Erinnerungsschub an unsere Kindheit ausgelöst zu haben, und Bilder von ihm als kleiner Junge, der wegen der alkoholgeschwängerten Streitereien unserer Eltern weint, tauchen vor mir auf. Ich habe ihn für gewöhnlich hochgehoben und in den Keller getragen, wo das Geschrei am wenigsten zu hören war. Dort habe ich aus alten Decken einen Zufluchtsort gebaut. Sein Teddy lag dort und ein Notvorrat an Schnullern, die ich gegen Taschenlampen und Bücher vertauschte, als er älter wurde. Oftmals gelang es mir, ihn in den Schlaf zu wiegen, sodass ich nur noch dem Geschrei von Papa und dem Gekeife von Mama, aber nicht mehr dem Weinen meines kleinen Bruders zuhören musste. Im Hinblick auf Geirs Worte überlege ich, ob die Umstände einer solchen Kindheit der eigentliche Grund dafür sind, warum die Leute die Fähigkeit zu glauben verlieren. Ausgehend von diesen Überlegungen, wandern meine Gedanken zu der Leiche von heute Morgen, und plötzlich lässt es mich nicht länger kalt, dass der Tote einmal ein lebendiger Mensch gewesen ist, und ich weine wie ein Schlosshund, dass der gekreuzigte Mann solche Qualen erleiden musste.

 

Am nächsten Tag laufe ich mittags eilig den Laugavegur hinunter, um Iðunn und den Liebhaber des Gekreuzigten zu treffen. Ich finde es seltsam, dass ich gestern Abend so traurig gewesen bin, denn heute finde ich das Leben lebenswert. Die Ärzte in Vogur haben gesagt, dass ich wahrscheinlich die ersten Tage nach dem Entzug empfindlich reagieren würde, was mir als Rechtfertigung für mein Geheule gestern Abend dient. Vielleicht stimmt es, dass Weinen guttut. In den letzten Jahren habe ich selten Tränen vergossen. Diejenigen, die ein neugeborenes Kind verloren haben, finden selten einen Grund, über etwas anderes zu weinen.

Iðunn sitzt alleine am Fenster und liest Zeitung. Als ich näher komme, schaut sie auf und lächelt mich an. Iðunn lächelt nicht wie andere Menschen, sie lächelt mit allem, ihre Augen leuchten, und das Lächeln breitet sich über das ganze Gesicht, ihren gesamten Körper aus. Mein Herz macht einen Sprung, und einen Augenblick lang ist es so, als ob wir noch ein Paar, uns immer noch nahe und verliebt wären; als würden wir uns zum Mittagessen treffen, weil wir uns unbedingt auch tagsüber sehen müssten. Als ich mich an den Tisch setze, ist ihr Lächeln der freundlichen Miene einer Polizistin gewichen. Bevor wir überhaupt ein Wort wechseln können, tritt ein Mann an den Tisch. Sie steht auf, um ihn zu begrüßen, und stellt uns vor:

«Árni Guðjónsson, Magni Þórsson.» Wir geben uns die Hand und nicken uns zu. Er ist groß und breit gebaut, die Stoppeln eines Dreitagebartes bedecken seine Wangen, und die altmodische Samtjacke ist zerknittert und an den Ellbogen abgewetzt.

«Wie ich dir gesagt habe, Árni, wollten wir dich in einem informellen Rahmen treffen, um mit dir über Jón Ágúst zu reden, in der Hoffnung, sein Leben besser zu verstehen», sagt Iðunn, als wir uns setzen, und fährt fort: «In einer formellen Befragung und bei einem Verhör versuchen die Leute meistens, sich an die Tatsachen zu halten, und erwähnen lediglich das, von dem sie denken, dass es eine Rolle spielt, aber bei einem ungezwungenen Gespräch kann alles zur Sprache kommen, auch eine unscheinbare Nebensache, Gedankenblitze oder sogar eine Ahnung.»

«Okay, wo sollen wir anfangen?», fragt Árni, seine Stimme ist sanft und tief. Er wirkt ruhig, und seine Augen sind auf die Tischplatte geheftet, als ob er schüchtern wäre.

 

«Wie lange habt ihr euch gekannt?», fragt Iðunn, und ich vermute, dass die Frage ihm schon unzählige Male gestellt worden ist und sie sie wiederholt, damit ich einen Einstieg finde.

«Jetzt im März wären es sieben Jahre gewesen», sagt er, und sein Blick bleibt weiterhin auf die Tischplatte geheftet. «Wir haben uns durch gemeinsame Arbeitskollegen kennengelernt. Ich arbeite auf dem Bau und er, wie ihr wisst, entwarf Häuser. Das heißt, ich kaufte die Pläne von ihm. Manchmal haben wir zusammengearbeitet und sie in Absprache mit den Kunden geändert. Dabei hat sich unsere Beziehung entwickelt, wie das eben so passiert.»

«Kannst du dich an unzufriedene Kunden oder Kollegen erinnern?»

«Ich glaube, ich kann unumwunden sagen, dass sämtliche Kunden beim Abschluss der Geschäfte zufrieden waren. Selbstverständlich gibt es oft Unannehmlichkeiten bei der Zeitplanung, die wie überall auch im Baugewerbe ein Problem ist, doch diese Verantwortung lag stets bei mir. Er verkaufte lediglich die Pläne, und die Leute kaufen nur die, mit denen sie zufrieden sind.»

«Aber die Kollegen?», fragt Iðunn weiter. Árni scheint einen Moment zu zögern.

«Ja, ich weiß nicht, ob ich das erwähnen soll, vielleicht ist es ja gar nicht wichtig», sagt er langsam, und Iðunn fällt ihm ins Wort:

«Unbedingt, raus damit. Wir möchten gerne alles wissen, was dir in den Sinn kommt, wir haben bis jetzt noch nicht viel herausgefunden.»

«Da war dieser junge Typ, er hat letztes Jahr bei mir gearbeitet, ein Elektriker. Wir arbeiteten an einem Haus, bei dem die Pläne geändert werden mussten, und Jón Ágúst war auf den letzten Drücker mit den Zeichnungen für die Elektrik beschäftigt. Er kam ab und zu vorbei und beriet sich mit dem Typen, und ich glaube, dass der Kleine dabei ein Auge auf ihn geworfen hat, im wahrsten Sinne des Wortes.»

«Und was geschah dann?», fragt Iðunn, während sie ihren Notizblock bereithält.

«Der tauchte bei ihm zu allen möglichen und unmöglichen Zeiten auf und wollte einen Kaffee; einmal kam er mit einem Sixpack, und Jón Ágúst schickte mir eine SMS, ich soll doch bitte vorbeikommen und ihm aus der Patsche helfen. Der Typ war ziemlich sauer, als ich auftauchte, machte sich aus dem Staub und ließ sich dann bei der Arbeit nicht mehr blicken. Einige Wochen später trafen wir ihn in der Homodisco im Zentrum, er war betrunken und benahm sich mir gegenüber ziemlich daneben.»

«Was hat er zu dir gesagt?»

«Ach, er hat das Maul aufgerissen und behauptet, dass es beschissen sei, bei mir zu arbeiten, dass ich ein Fettsack sei und so was.» Ein flüchtiges Lächeln huschte über sein Gesicht. «Ich möchte den Jungen trotzdem nicht in Schwierigkeiten bringen und wüsste nicht, warum er Jón Ágúst hätte schaden wollen, es ist nur …»

«Was denn?» Iðunn ist wie ein Radar, wenn jemand stutzt.

«Ach, ich habe gehört, dass er einmal wegen eines Gewaltvergehens im Gefängnis gesessen hat, aber das hat ja nichts zu bedeuten, oder etwa doch?»

«Nein, nein, überhaupt nicht», sagt Iðunn. «Wie heißt er?»

«Atli Eyjólfsson oder Eiríksson, ich werde in der Liste der Mitarbeiter nachschauen.»

«Okay», sagt Iðunn und schreibt etwas auf ihren Block. Wir bestellen beim Kellner etwas zu essen, und ich amüsiere mich insgeheim, wie unterschiedlich unsere Wahl ausgefallen ist. Iðunn wählt einen Salat und Sodawasser, ich weiß, dass sie es nicht mag, mitten am Tag so viel zu essen. Árni nimmt ein Bacon-Sandwich mit Pommes und Kaffee. Es ist offensichtlich, dass er sich keine Gedanken über seinen Cholesterinspiegel macht. Ich nehme indisches Chickencurry in scharfer Sauce und Cola und denke darüber nach, was ich mir heute Abend zu essen machen soll.

«Erzähl uns doch etwas über euer gemeinsames Leben. Jón Ágúst und du, ihr habt nicht zusammengewohnt?»

«Nein, da hatten wir unsere eigene Vorstellung. Wir brauchen … brauchten beide viel Platz und wollten unseren Freiraum. Nonni … Jón Ágúst arbeitete am liebsten nachts bei voll aufgedrehter Musik, ich gehe um elf schlafen und stehe um sechs auf – so unterschiedlich sind Bedürfnisse. Aber wir verbrachten den größten Teil der Freizeit miteinander, abwechselnd bei ihm oder bei mir, und wir sind zusammen verreist, fuhren im Sommer jeweils einen Monat ins Ausland, verbrachten zusammen die Feiertage.» Auf einmal hält er inne, neigt den Kopf und schaut erneut auf die Tischplatte. Er ist nicht schüchtern, sondern fühlt sich unwohl. Iðunn scheint es auch wahrzunehmen, denn sie legt ihre Hand für einen Augenblick auf seinen Unterarm. Wir essen, ohne viele Worte zu verlieren, und als der Kellner die Teller abgeräumt hat, fragt Iðunn:

«Gab es andere, waren noch andere im Spiel, in der Zeit, in der ihr zusammen wart?»

«Nein.» Man hat ihm diese Frage offensichtlich vorher schon gestellt.

«Bist du ganz sicher?», fragt Iðunn leise. Ich würde sie am liebsten anfahren, dass sie damit aufhören soll.

«Ja, ich hätte es gewusst, falls Nonni … Er rief mich mindestens fünf Mal am Tag an! Wir waren aufeinander eingespielt … ich weiß nicht, ob ihr versteht, was ich meine, aber ich hätte es gespürt. Und was mich betrifft, es gab nur ihn. Ich liebe ihn … auch wenn er nicht mehr länger da ist …» Er schaut nun konzentriert auf die Tischplatte, und ich höre, wie sein Atem schwer geht. Er ist rot im Gesicht, als ob sein großgewachsener Körper gleich explodieren würde.

«Er ist nicht mehr länger, das führt uns zu einer anderen Überlegung», sage ich, und er hebt halb erstaunt den Blick, da ich ihn bisher nichts gefragt habe. «Was vertrittst du für eine Position in Glaubensfragen?» Ich werfe Iðunn einen Blick zu, aber sie verzieht keine Miene, sie findet die Frage offensichtlich in Ordnung.

«Das ist wahrscheinlich so wie bei anderen Schwuchteln, Ablehnung auf beiden Seiten.»

«Inwiefern?» Ich bin etwas erstaunt, dass ein homosexueller Mann sich selbst als Schwuchtel bezeichnet.

«Was mich betrifft, so habe ich das Gefühl, dass Gott und die Kirche als sein Sprachrohr mich ablehnen, weshalb ich Gott schon in jungen Jahren den Rücken gekehrt habe und keinem Glauben nahestehe. So gesehen bin ich ungläubig.»

«Und Jón Ágúst?», wirft Iðunn ein.

«Man kann dasselbe von ihm sagen. Er hat die Kirche, eigentlich alle Religionen, abgelehnt. Er war so ein Typ, der alles anzweifelte, was er nicht berühren konnte. Aber im Gegensatz zu mir wollte er an etwas glauben. Ich denke, er hatte das Bedürfnis, irgendeine Erklärung für den Gang der Welt zu finden. Vielleicht hing es damit zusammen, dass er trocken war, mit den AA und alldem. Dort ist es ein absolutes Muss, an etwas zu glauben. Also liebäugelte er mit dem Gedanken, Buddhist zu werden, bekam das aber auch nicht so richtig auf die Reihe. Er sagte, dass die Ungläubigkeit ihn davon abhalte, mit den Schritten voranzukommen.»

«Seit wann war er trocken?», frage ich.

«Seit fünf Jahren.»

«Und hatte er noch nicht alle Schritte durchgearbeitet?» Ich bin erstaunt, da ich immer angenommen habe, dass alle dies im ersten Jahr tun.

«Nein, er hat immer wieder damit angefangen, doch dann verflüchtigte sich die Sache irgendwie. Er hatte den ersten Schritt schon oft durchgearbeitet, strandete aber immer bei der Glaubensfrage im zweiten Schritt. Doch zuletzt war er optimistisch und hatte eine neue Vertrauensperson gefunden, die das mit ihm durchziehen wollte.»

«Kannst du dich erinnern, wie er oder sie hieß?» Iðunn greift zu ihrem Notizblock.

«Tut mir leid», antwortet er. «Ich muss gestehen, dass ich manchmal nur mit einem Ohr zugehört habe.»

«Noch eine Frage», beeile ich mich zu sagen, da ich an Iðunns Miene erkennen kann, dass sie sich von ihm verabschieden will. «Das kleine Landschaftsbild an der großen Wand neben dem Gemälde von Tolli, weißt du, von wem es ist?»

«Dort hängt kein Bild.»

Er schaut uns abwechselnd mit fragendem Blick an. Iðunn greift in ihre Tasche, nimmt die DIN-A4-Fotos heraus und zeigt sie ihm.

«Ja, das hier, das war oben im Schlafzimmer. Ich weiß nicht, von wem es ist. Nonni hatte es schon, bevor ich ihn kennengelernt habe. Es war einfach immer da. Ich denke nicht viel über solche Dinge nach.»

Iðunn und ich schauen uns einen Augenblick in die Augen, und ich weiß, dass wir dasselbe denken. Der Mörder hat sich die Mühe gemacht, das Bild woanders aufzuhängen, was darauf hindeutet, dass es eine symbolische Bedeutung haben muss. Árni kreuzt auf meinem Kalender die Meetings an, die Jón Ágúst am häufigsten besucht hat, und bevor er geht, spreche ich ihm mein aufrichtiges Beileid aus. Iðunn bittet ihn, sich zu melden, falls ihm noch etwas einfallen sollte.

 

«Wir müssen noch wohin», sagt Iðunn, als wir das Restaurant verlassen, und geht zielstrebig auf den Wagen zu, den sie verbotenerweise auf dem Gehsteig geparkt hat. Ich setze mich brav neben sie und habe nichts dagegen, noch etwas länger mit ihr zusammen zu sein. Sie fährt los, ohne mich eines Blickes zu würdigen. Ich genieße es, ihre Miene zu studieren und mir in Erinnerung zu rufen, wie oft ich an ihrer Seite im Bett oder auf dem Sofa gelegen und sie einfach angeschaut habe, während sie las, fernsah oder schlief. Sie hält oberhalb vom Busbahnhof Hlemmur, und wir betreten eine große Kunsthandlung gegenüber von der Bank. Iðunn bittet die Angestellte, mit dem Besitzer sprechen zu dürfen, der mit der Brille halb auf der Nase und einem Stapel Papier in der Hand nach vorne kommt. Er hat sich gerade mit der Buchhaltung beschäftigt.

«Wir wollten dich um Hilfe bitten», sagt sie und zeigt ihm ihren Polizeiausweis. «Kriminalpolizei.» Der Mann nimmt seine Brille von der Nase und mustert uns. Ich fühle mich nicht ganz wohl in meiner Haut, einem leicht schockierten Bürger gegenüberzutreten, der mich für einen Kriminalbeamten hält. Iðunn zeigt dem Mann das Foto von dem kleinen Gemälde, das er sich mit der Brille auf der Nase anschaut. Dann sagt er:

«Ich glaube, ich weiß, von wem das ist.» Er geht nach hinten und kommt mit einem Vergrößerungsglas wieder, das er auf die Signatur hält. «Ja, ich wusste es. Dieses Bild ist von Kristinn Morthens. Ich muss das Bild im Original sehen, wenn ihr es schätzen lassen wollt.»

«Vielen herzlichen Dank», sagt Iðunn und steckt das Foto wieder in ihre Tasche. Auf einmal verbinden sich die losen Fäden, und wir schauen uns draußen auf dem Gehsteig einen Augenblick an.

«Ist Kristinn Morthens nicht …?»

«Doch», unterbricht mich Iðunn, «er war der Vater von Tolli.»

«Also hat der Mörder es so inszeniert: Vater und Sohn auf je einer Seite des Gekreuzigten.»

«Ich werde die Techniker darum bitten, die Wandbefestigung zu untersuchen», sagt Iðunn.