Viertes Kapitel Abrechnung
«Ich habe Atli Eyjólfssons Alibi vom Wochenende überprüft, und es stimmt mit seiner Aussage überein, bis auf die drei Stunden, die er am Sonntag auf dem Öskjuhlíð-Hügel verbracht hat. Natürlich sind die Nächte nicht hieb- und stichfest, auch wenn sein Mitbewohner bestätigt hat, dass er ihn an beiden Abenden gehört hat, als er nach Hause kam», berichtet Iðunn am nächsten Morgen am Telefon.
«Kann er sich nicht leise wieder hinausgeschlichen haben?», frage ich.
«Ja. Der Mitbewohner hat auf Nachfrage bestätigt, dass er einen tiefen Schlaf hat, auch wenn er denkt, dass er bei Geräuschen in der Wohnung aufwachen würde.»
«Gut», sage ich, doch das unangenehme Gefühl, das mich ergreift, wenn ich an Atli denke, hält immer noch an. «Ist es realistisch, dass er in drei Stunden Jón Ágúst kreuzigen und töten konnte?»
«Vielleicht, wenn er alles vorher vorbereitet hat. Wir haben einen ellenlangen Autopsiebericht bekommen. Er ist aufgrund der Wunde in der Seite gestorben, die verlief durch den Rumpf bis zur Hauptschlagader am Herzen. Er ist verblutet. Die Wunde ist ihm wahrscheinlich mit einem Speer, einem Schwert oder einem anderen langen, scharfen Gegenstand zugefügt worden. Die Todeszeit haben sie auf Sonntag zwischen sechs Uhr morgens und sechs Uhr abends festgelegt.»
«Dann wissen wir das schon mal.» Ich denke an den besagten Sonntag zurück, als ich in der Mittagsbar meinen bevorstehenden Entzug feierte, indem ich bis zum Blackout Bier und ein paar Schnäpse in mich hineinschüttete, während Jón Ágúst nicht weit davon entfernt am Kreuz zu Tode gequält wurde.
«Es wurden keine Drogen oder Alkohol in seinem Blut festgestellt, aber er hatte eine Wunde am Kopf, wie von einem kräftigen Schlag mit etwas Ovalem. Also ist er bewusstlos geschlagen und danach ans Kreuz genagelt worden.»
«Gibt es noch etwas?» Ich spüre erneut die Übelkeit, die mich überkam, als ich die Fotos zum ersten Mal sah.
«Ja, die Jungs haben herausgefunden, dass ein Mann das alleine bewerkstelligen kann. Sie haben ein Loch in der Decke gefunden, das von einer kräftigen Befestigung herrührt, und die Fasern eines Nylonseils am Holz des Kreuzes. Offensichtlich ist ein Flaschenzug angebracht worden, um das Kreuz aufzurichten.»
«Haben sie die Befestigung der Bilder untersucht?» Meine Übelkeit weicht einer leichten Spannung.
«Ja, und wir hatten recht. Der Mörder hat beide Bilder umgehängt; das Gemälde von Tolli war vorher in der Mitte, da wo das Kreuz hing, also hat er es zur Seite gehängt, und das Bild seines Vaters war oben im Schlafzimmer, das hat er unten wieder aufgehängt. Für das Tolli-Bild musste er ein Loch bohren, weil es so schwer ist, doch das kleine Bild hing an einem Stahlnagel.»
«Dann hat er also genügend Zeit gehabt», überlege ich.
«Es scheint so.» Iðunn gibt mir den Namen und die Adresse des Pfarrers, den Atli verprügelt hat, und wir legen auf.
Der Pfarrer wohnt in einem kleinen Einfamilienhaus im Þingholt-Viertel. Es ist ein altes Steinhaus, das wohl schon vor der richtigen Straßenplanung dort gestanden hat, denn das Haus ragt etwas schräg über die Straße, sodass der Gehsteig schmal ist und an der Hausecke gänzlich verschwindet, um auf der anderen Seite wieder aufzutauchen. Elís Pétursson steht auf dem kleinen goldenen Namensschild oberhalb des Briefschlitzes. Als ich eintrete, muss ich wegen des niedrigen Türrahmens den Kopf einziehen. Im Haus sind die Decken jedoch ungewöhnlich hoch, weil die obere Etage teilweise herausgerissen worden ist, sodass man zum Teil bis zum Dach schauen kann.
«Darf ich dir Kaffee oder Tee anbieten?», fragt er freundlich, und ich erwidere, dass ich sehr gerne einen Kaffee nehme. Er geht in die Küche, ich höre Klappern und rufe ihm nach, dass er sich meinetwegen keine Umstände machen soll, bin dann aber doch froh, als er mit Apfelkuchen und geschlagener Sahne zurückkommt. Er ist durchschnittlich groß und schlank, seine Bewegungen sind weich, beinahe feminin. Er trägt eine blaue Jeans mit Bügelfalte und ein weißes Hemd, das am Hals aufgeknöpft ist. Pfarrer sind gut angezogen und sehen immer aus, als hätten sie Sonntagskleidung an.
«Was genau untersuchst du denn?», fragt er, nachdem er mir Kaffee eingeschenkt und großzügig Kuchen serviert hat.
«Eigentlich wissen wir das selber nicht genau», sage ich wahrheitsgemäß. «Aber wie ich dir bereits erklärt habe, stehe ich der Polizei in einer Ermittlungssache mit Rat und Tat zur Seite.»
«Und was kann ich für dich tun?» Er schaut mich mit seinen großen braunen Augen an, die irgendwie an einen Welpen erinnern. Wie er mir so gegenübersitzt, erkenne ich, dass er eine Narbe auf der Stirn und quer über der Nase hat. Auf den ersten Blick ist sie mir nicht aufgefallen, doch durch die tiefe Morgensonne, die durch das Fenster direkt auf ihn scheint, ist sie deutlich zu sehen.
«Ich dachte, ich könnte zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen, wenn ich dich treffe», sage ich. «Einerseits habe ich gehofft, dass du mir etwas über die Gewalttat erzählst, der du vor einigen Jahren zum Opfer gefallen bist, und andererseits brauche ich einige Infos über religiöse Symbolik und dachte, dass du mir vielleicht weiterhelfen kannst, da du Pfarrer bist.»
«Ich bin kein Pfarrer mehr», sagt er. «Nach dem Übergriff und den entsprechenden Berichten in der Presse hielt es der Ausschuss der Kirchengemeinde für ratsam, dass ich mein Amt nach dem Krankheitsurlaub nicht wieder antrete. Und ich habe seither kein Brot mehr austeilen dürfen, zumal alle nun wissen, dass ich schwul bin.» Er spricht ruhig und besonnen, als ob er abwesend wäre und sein Körper für ihn spräche. Ich kaue den Apfelkuchen und überlege, ob sich hinter seinen Worten ein übertriebener Verfolgungswahn verbirgt. Bekanntermaßen suchen viele Pfarrer eine Stelle, und es ist schwierig, eine gute zu finden.
«Was die Gewalttat angeht», fährt er fort, «ich habe so weit wie möglich mit der Sache abgeschlossen.»
«Meinst du damit, dass du dich davon erholt hast oder dass du dem Täter, Atli Eyjólfsson, vergeben hast?», frage ich und versuche, mich beim Kuchen etwas zu bremsen, da es unangebracht scheint, ein so ernstes Thema mit vollem Mund anzugehen.
«Ja, ich habe mein Gleichgewicht wiedergefunden, in dem Maße, wie es die menschliche Eigenschaft, aus der Erfahrung zu lernen, zulässt. Ich würde nie wieder einen fremden Mann am ersten Abend zu mir nach Hause einladen, ich würde ihn zuerst besser kennenlernen wollen. Ich bin in dieser Beziehung nun wie eine Frau», sagt er im selben abwesenden Ton und schaut lächelnd auf seinen Teller. «Das mit dem Vergeben war etwas komplizierter, und obwohl ich ein Mann Gottes bin und mich auf das Vergeben verstehen sollte, ist die beste Definition der Vergebung diejenige, dass Vergeben dem Vergessen gleichkommt. In dieser Hinsicht, ja, ich habe Atli vergeben. Es vergehen manchmal ein paar Tage, ohne dass ich daran denke. Die Narbe im Gesicht ist ein Teil von mir geworden, und wenn ich sie im Spiegel sehe, betrachte ich sie nicht länger als Erinnerung.»
«Glaubst du, dass Atli gewusst hat, dass du Pfarrer bist?», will ich wissen.
«Ja, klar, er war vorher zweimal bei mir im Gottesdienst gewesen. Deswegen, glaube ich, hat er mich an dem Abend in der Bar überhaupt angesprochen. Er wollte unbedingt über Gott und kirchliche Themen diskutieren, und ich fand ihn ziemlich aufgeweckt und unterhaltsam.»
«Hast du Atli seither wiedergesehen?»
«Ja, wir bewegen uns sozusagen in denselben Kreisen, auch wenn ich nie mit ihm gesprochen habe. Wir wechseln nur ein paar Worte, wenn er mit den Blumen zu mir kommt.» Ich schaue Elís fragend an. «Er kommt jedes Jahr zu Ostern mit Blumen für mich, es ist in der Osterzeit passiert. In seinem letzten Jahr im Gefängnis hat er angefangen, mir welche zu schicken, und seitdem kommt er immer persönlich vorbei. Ich habe ihm letztes Jahr gesagt, dass er das nicht tun müsse, doch er hat geantwortet, dass er es für sich selber tue.» Ich suche nach den richtigen Worten, denn ich will wissen, ob er mit denselben Kreisen die Anonymen Alkoholiker meint, doch mir fällt nichts Besseres ein, als ihn zu fragen, ob Atli und er vielleicht «Gemeinschaftsbrüder» seien.
«Gemeinschaftsbrüder, ja», sagt er und lächelt. «Wahrscheinlich hat dieses Ereignis uns beide von der Trinksucht weggebracht.»
«Wenn wir gerade von Ostern reden», sage ich. «Was bedeutet eigentlich die Kreuzigung?»
«Tja, das kann man natürlich sehr individuell auslegen.»
«Aber die Symbolik der Kreuzigung, ganz allgemein betrachtet?», hake ich etwas ungeduldig nach.
«Die Kreuzigung symbolisiert einerseits die Vergebung der Sünden, und andererseits ist sie ein Glaubensbekenntnis.»
«Du meinst mit der Vergebung der Sünden, dass Jesus am Kreuz gestorben ist für das Seelenheil der Menschen?»
«Ja, aus diesem Grund, aber auch aus einem anderen, den sich die Leute meist nicht überlegen: Zusammen mit ihm sind zwei Sünder gekreuzigt worden, und sie sind es, die uns den Weg ins Himmelreich zeigen. Sieben Worte Jesu am Kreuz sind bekannt, doch die werden nie alle zusammen genannt, sondern sie stammen aus allen Evangelien.»
«Ich kann mich aus dem Bibelunterricht irgendwie daran erinnern.»
«Das kann gut sein», sagt er und fährt fort: «Im Johannesevangelium wird erwähnt, dass Jesus drei Sätze am Kreuz gesagt haben soll. Es sind eher weltliche Sätze, die jeder in seiner Todesstunde sagen könnte. Zuerst sorgte er dafür, dass einer seiner Jünger seine Mutter Maria zu sich nehmen solle, was dieser auch tat. Die Katholiken legen großen Wert auf diese Worte und sagen, dass sich daraus die Wichtigkeit Marias für die Kirche manifestiert. Als Zweites sagt Jesus gemäß Johannes: Mich dürstet, was in Anbetracht der Umstände nur natürlich ist und eigentlich in keiner Weise in einem tieferen Sinn gedeutet werden kann. Als Drittes sagt er dann: Es ist vollbracht, kurz bevor er stirbt. Nach Lukas soll er aber gesagt haben: Vater, in deine Hände übergebe ich meinen Geist, was seinen starken Glauben bis kurz vor dem Tod bekräftigt. Lukas erwähnt ebenfalls Folgendes: Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun, als die Menge schrie, was uns vor allem den eigentlichen Charakter Jesu vor Augen führt und uns lehrt, dass Rachegelüste nicht die richtige Reaktion auf die bösen Taten der anderen sind. Das ist der Satz Jesu, der mir am meisten geholfen hat in Bezug auf den Übergriff und in der Kommunikation mit meinen ehemaligen Vorgesetzten. Wie Lukas erzählt, war der Dieb, der mit ihm gekreuzigt wurde, so von Angst überwältigt, dass er seine Sünden bereute und Jesus zurief, er solle doch ein gutes Wort für ihn im Himmel einlegen, worauf Jesus erwiderte: Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein, was uns zeigt, dass mit dem Glauben und dem Bereuen der Sünden auch den gewöhnlichen und schwachen Menschen der Weg zum Himmelreich offen steht. In diesem Sinne ist die Kreuzigung ein Symbol für den Sündenerlass. Doch vor allem anderen ist die Kreuzigung, allgemein betrachtet, ein Symbol für den Glauben: Jesus zweifelte nicht einmal am Kreuz.»
«Aber wenn er sagt: Vater, warum hast du mich verlassen?»
«Ja, das ist der siebte Satz, der ihm nachgesagt wird.» Er beugt sich neben dem Sofa auf den Boden und holt eine große Bibel hervor. Das Buch ist in dunkelbraunes Leder gebunden und an den Ecken ziemlich abgewetzt. Der Pfarrer hat blind danach gegriffen. «Eloi Eloi lama sabachthani? Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Er hat vielleicht einen Augenblick befürchtet, dass Gott ihn verlassen hat, doch er hat nie an seiner Existenz gezweifelt. Einige betonen sogar, dass er nie geglaubt hat, dass Gott ihn verlassen hat, sondern dass er von seiner eigenen göttlichen Kraft gesprochen hat, da sowohl im Aramäischen wie im Hebräischen Gott und die Kraft dasselbe Wort ist.»
Ich spüre, wie mein Kopf müde wird, und traue mir keinen zweiten Vortrag mit Zitaten aus dem Evangelium zu, also frage ich ihn, was ihm zuerst einfalle, wenn er an die Symbolik von Vater und Sohn im Christentum denkt.
«Da fällt mir spontan Matthäus ein. Niemand kennt den Sohn als nur der Vater; und niemand kennt den Vater als nur der Sohn und wem es der Sohn offenbaren will. Ich finde, dass dieser Satz das Verhältnis zwischen Vater und dem Gottessohn am besten aufzeigt. So auf die Schnelle und ohne nachzuschauen», sagt er und lächelt. Ich bedanke mich bei ihm für das Gespräch und den Kaffee und Kuchen, doch an der Tür fällt mir auf einmal noch etwas ein, und ich frage ihn, ob er Jón Ágúst Karlsson gekannt hat.
«Ja, ich habe ihn ganz gut gekannt. Wir waren sowohl Gemeinschaftsbrüder, wie du es nennst, und zudem waren wir beide in einem Club, dessen Mitglieder einmal im Monat zusammen mit anderen Berufsgruppen zu Mittag essen. Ich werde ihn vermissen, er war ein intelligenter und umsichtiger Mensch. Untersuchst du vielleicht seinen Tod?»
«Die Sache steht damit in Zusammenhang», sage ich.
«Aber Atli Eyjólfsson steht doch nicht unter Verdacht?» Sein Gesicht ist von einem entsetzten Ausdruck verzerrt.
«Ich kann dir eigentlich dazu nichts sagen», antworte ich und beschließe, den sicheren Weg zu wählen, da ich nicht genau weiß, wie weit die Schweigepflicht geht.
«Ich habe ihn vor Atli gewarnt», stöhnt er und setzt sich auf einen kleinen Hocker in der Diele, als ob seine Füße ihn nicht mehr länger tragen könnten. «Ich habe sie vor etwa einem halben Jahr zusammen in einem Café gesehen, und als ich Jón Ágúst das nächste Mal im Club traf, habe ich ihm gesagt, dass er sich vor dem Jungen in Acht nehmen soll, da seine Hand locker sitzt.»
«Wie hat Jón Ágúst das aufgenommen?»
«Er hat mir gesagt, dass ich mir keine Sorgen machen solle, es handle sich lediglich um eine Zusammenarbeit an einem Projekt. Dass seine Hand locker sitzt, das habe ich gesagt. Wenn ich es genauer erklärt hätte, könnte er dann noch am Leben sein?» Er formuliert es als Frage, sodass ich das Gefühl habe, ihm eine Antwort schuldig zu sein. Sein Gesicht ist vollkommen verzerrt vor Entsetzen, ich muss ihn irgendwie beruhigen.
«Atli ist nur eine von vielen Möglichkeiten, die wir untersuchen, es gibt im Grunde genommen nichts, was darauf hindeutet, dass er es war», erkläre ich, und auch wenn es mir gegen den Strich geht, ist es die Wahrheit, es gibt keine direkten Beweise, die Atlis Schuld belegen, keine, außer dass er mir verdächtig vorkommt. Ich bin kein erfahrener Ermittler, und meine Gefühle und Wahrnehmungen sind nach dem Alkoholmissbrauch und dem Entzug immer noch so intensiv, dass ich meiner Eingebung nicht besonders trauen kann.
Auf dem Weg über den Hügel überlege ich, was der Mörder für eine Botschaft hinterlassen wollte mit dieser grausamen, aber bedeutungsvollen Inszenierung der Leiche. Betrachtete er Jón Ágúst als Sünder, der seine Sünden beichten musste, um in das Himmelreich zu kommen? Oder war die Kreuzigung ein Symbol dafür, dass Glauben befreiend sein konnte? Oder sollte die Kreuzigung vielleicht Jón Águst den Glauben näherbringen?
Geir und ich treffen uns im selben Café wie am Abend zuvor. Er ist schon vor mir da und hat bereits für uns beide Kaffee bestellt, als ich mich ihm gegenüber hinsetze.
«Du kommst spät», meint er, ohne aufzublicken.
«Ja, bitte hab Verständnis», sage ich, «eine kleine Jobsache.» Es ist gerade mal acht Minuten nach eins, weswegen mich die Bemerkung überrascht. Es ist offensichtlich, dass er im Ausland gelebt und sich an die Pünktlichkeit dort gewöhnt hat, zumal die Isländer es mit der Zeit nicht so genau nehmen.
«Genau das ist es, was es mit dem Nüchternsein auf sich hat», meint er, «die Unordnung in seinem Leben nicht überhandnehmen zu lassen, und wenn es doch dazu kommt – was zu einem gewissen Grad unumgänglich ist –, dann sollte man versuchen, dem sogleich etwas Gutes abzugewinnen.»
«Ich verstehe», sage ich und bin froh, nicht zur Verteidigung ausgeholt und eine arrogante Rede über die Pünktlichkeit in verschiedenen Ländern gehalten zu haben. Ich ziehe die Jacke aus, hänge sie über die Stuhllehne und rühre eine gehörige Portion Zucker in den Kaffee.
«Ich finde es am sinnvollsten, wenn die Leute die Schritte schnell in einem Zug durcharbeiten», sagt er und schaut mir in die Augen. Ich fühle mich immer noch etwas beschämt nach der Rüge wegen der Unpünktlichkeit und kann ihm kaum in die Augen schauen. Doch ich zwinge mich dazu und nicke. «Die meisten bemühen sich sehr, sodass sie sich bei irgendeinem Schritt verheddern. Meines Wissens ist es besser, die Schritte schnell durchzuarbeiten und es nicht zu genau zu nehmen, dann kann man sich bald erneut damit beschäftigen, dafür aber gründlicher. Dann haben die meisten das Vertrauen, dass sie es schaffen, und es ist einfacher, wieder von vorne anzufangen.»
«Das klingt vernünftig», sage ich und meine es auch.
«Das Wichtigste ist, die Bedeutung jedes einzelnen Schrittes zu verstehen und sie mit dem eigenen Leben zu verknüpfen.»
«Ja, da bin ich noch grün hinter den Ohren», antworte ich, «denn ich finde es schwierig zu erkennen, wie ich diese Erfahrungsschritte mit mir in Verbindung bringen soll.»
«Genau deswegen kannst du froh sein, mich zu haben.» Er lächelt freundlich und hat ein Leuchten in den Augen.
«Ganz genau», sage ich und lächle zurück, froh darüber, dass die Lage sich entspannt hat.
«Okay, dann müssen wir nur noch herausfinden, bei welchem Schritt du dich gerade befindest.»
«Ich habe noch keinen Schritt abgeschlossen», sage ich verwundert.
«Das glaubst du. Doch wir werden jeden einzelnen durchgehen.» Er öffnet das Buch. «Erster Schritt: Hast du deine Machtlosigkeit dem Alkohol gegenüber zugegeben?»
«Ja. Ich weiß, dass ich der Alkoholsucht gegenüber machtlos bin und dass meine eigene Willensstärke nicht ausreicht, mich vom Trinken abzuhalten, sondern dass ich ein unterstützendes System dazu brauche. Meinst du das?»
«Genau!» Es liegt ein Glanz in seinen Augen, von dem ich nicht sagen kann, ob es Freude oder Stolz ist, aber es ist angenehm, wenn einen jemand mit solchen Augen anblickt, und ich muss erneut an meinen Vater denken. «Und welchen praktischen Schritt hast du unternommen, um zuzugeben, dass du mit einem Problem zu kämpfen hast?»
«Ich habe einen Entzug gemacht», antworte ich.
«Genau!», sagt er erneut. «Und war dein Leben haltlos geworden, als du in den Entzug gegangen bist?»
«Ja.» Ich denke an die letzten Wochen vor dem Entzug. «Ich habe mich verschuldet, im Job lief es schlecht, meine Frau hat mich verlassen, ich habe Erinnerungslücken, ich habe Sachen verloren, dann starb ein Freund meines Bruders wegen der Sauferei, und da erkannte ich, dass auch ich so enden könnte.» Als ich die Fakten meines Lebens in einem Zug aufzähle, klingen sie viel schlimmer, als es mir tatsächlich vorgekommen ist. Vielleicht sieht man die Dinge auch erst, wie sie in Wirklichkeit sind, wenn der Alkoholdunst verschwunden ist.
«Das war der erste Schritt», sagt Geir zufrieden, und meine Verwunderung macht einer Freude Platz, etwas vollkommen verstanden zu haben und einen Erfolg verbuchen zu können.
«Dann wollen wir uns mal den zweiten Schritt anschauen.» Er beugt sich erneut über das Buch. «Wir kamen zu dem Glauben …»
«Ich habe deine Rede über den zweiten Schritt an dem Meeting kürzlich gehört und ganz anders verstanden als vorher.» Einen Augenblick bereue ich, ihn unterbrochen zu haben, doch er nickt.
«Alle Alkis sind ungläubig oder vertrauen zumindest nicht auf eine höhere Macht, und der Glaube ist etwas, das geübt und nach und nach aufgebaut werden muss», erklärt er und klingt wie ein erfahrener Lehrer, der dieselben Phrasen immer wieder mit viel Geduld jedem neuen Schüler erklärt.
«Deswegen lautet der zweite Schritt: Wir sind zum Glauben gekommen, und nicht: Wir glauben.»
«Als du darüber gesprochen hast, hat mich das ehrlich gesagt sehr optimistisch gestimmt», sage ich.
«Und welchen praktischen Schritt hast du unternommen, um leichter zum Glauben zu finden?»
«Ich bin bei den Anonymen Alkoholikern und fange langsam an, daran zu glauben, dass die Gemeinschaft mich wieder gesund machen kann. Wahrscheinlich betrachte ich die Gruppe im Moment als meine höhere Macht.»
«Gut», sagt er. «Das war der zweite Schritt.» Ich lächle, freue mich und überlege mir, wie viele Schritte ich tatsächlich schon durchlaufen habe. Auf den Meetings scheinen sich die Leute sehr intensiv mit den einzelnen Schritten auseinanderzusetzen, doch Geir hat die spezielle Gabe, die Punkte auf einfache Art zu erklären.
«Der dritte Schritt ist leicht», sagt er, «welchen Schritt hast du unternommen, um nach Gott zu suchen und deinen Willen und dein Leben seiner Fürsorge anzuvertrauen?»
«Ich habe dich darum gebeten, meine Vertrauensperson zu werden, und vertraue mich deiner Fürsorge an, während ich nach Gott suche», sage ich aufgeräumt. «Hast du nicht gesagt, dass Gott durch andere Menschen spricht?»
«Doch, dabei steht die Demut im Mittelpunkt, der eigene Wille wird zurückgestellt, indem man zugibt, dass man nicht immer alles am besten weiß.»
«Habe ich dann also auch den dritten Schritt bereits absolviert?» Ich überlege, wie lange wir so weitermachen können.
«Ja», sagt er, «aber ich weiß, dass du mit dem vierten Schritt noch nicht fertig bist, deswegen bekommst du jetzt eine Aufgabe.»
Er reicht mir ein Formular, auf dem oben steht: Wir machten eine gründliche und furchtlose Inventur in unserem Inneren. «Füll das über das Wochenende aus und dann treffen wir uns am Montag zur selben Zeit.» Als er sich erhebt, überkommt mich eine plötzliche Einsamkeit, ich fühle mich beinahe wie ein Kind, das alleine zu Hause bleiben soll, und frage ihn, ob er nicht mit mir etwas zu Mittag essen möchte.
«Nun werde ich den nächsten Schützling treffen, mein Lieber, und dann den nächsten», sagt er und klopft mir kräftig auf die Schulter. «Wir sehen uns am Montag, und vergiss die Meetings am Wochenende nicht, geh ins Kino, Theater oder Schwimmbad, meide die Lokale am Abend und mach einen großen Bogen um die alten Saufkumpels.»
«Wir sehen uns am Montag», sage ich, und auf einmal bin ich dankbar, dass er sich Zeit für mich genommen hat. Es tut gut, ihm vertrauen zu können, und ich nehme mir vor, seinem Leitfaden auf jeden Fall Folge zu leisten.
Am Samstagmorgen nach dem Treffen versuche ich mich durch den Anfang von Geirs Formular zu kämpfen. Es ist eine Liste mit leeren Feldern und folgenden Überschriften: Was verursacht mir Verdruss? und Warum? Nachdem ich eine halbe Stunde lang das Formular angestarrt und einige vage Versuche gestartet habe, gehe ich in das andere Zimmer und nehme den Stapel mit den Fotos meines kleinen Jungen aus der Kiste. Ich wähle ein Bild von ihm aus, wo nur sein Gesicht zu sehen ist und er mir so ähnlich sieht, dass man glauben könnte, es sei ein Foto von mir, als ich klein war. Ich stelle das Foto auf den Küchentisch vor mich hin, und plötzlich habe ich keine Schwierigkeiten mehr, die Verdrussliste auszufüllen. Zuoberst schreibe ich: Gott, der kleine Kinder tötet.
Iðunn klingelt am Nachmittag an der Tür, nachdem ich gerade aus dem Schwimmbad nach Hause gekommen bin und mir für das Abendessen das eine oder andere aus dem Kühlschrank zusammensuche.
«Ein Kriminalbeamter hat mich kontaktiert, er untersucht den Tod eines Mannes, der eigentlich nicht aufsehenerregend war», berichtet sie, während sie den Mantel auszieht.
«Nun, was hat es damit auf sich?», frage ich und gebe Wasser in den Teekocher.
«Es deutet alles darauf hin, dass es Selbstmord war, doch der Verstorbene war ebenfalls trockener Alkoholiker und hat die Meetings derselben Gruppe besucht wie unser Opfer.»
«Nein, wirklich?»
«Ja», antwortet sie knapp. Plötzlich habe ich das Gefühl, dass wir immer noch ein Paar sind, ich koche, während sie am Küchentisch sitzt und von der Arbeit erzählt.
«Wow, was für ein seltsamer Zufall.» Ich setze mich ihr gegenüber an den Tisch.
«Ja, das ist wirklich seltsam für das kleine Island, und ich habe ihn darum gebeten, die letzten Tage des Opfers zu untersuchen und herauszufinden, ob er ein Alibi hatte. Der seltsame Zufall will es nämlich, dass er anscheinend am Montag, also vierundzwanzig Stunden nach Jón Ágúst, gestorben ist.»
«Vielleicht haben wir ja den Mörder gefunden», sage ich.
«Vielleicht», antwortet sie, «Mord und Selbstmord im Anschluss ist ein durchaus bekanntes Muster.»
«Wenn ich darüber nachdenke, Iðunn, dann ist er das dritte AA-Mitglied, das in kurzer Zeit auf grauenhafte Weise umgekommen ist.»
«Das dritte?»
«Aðalsteinn, kannst du dich erinnern, Egills Freund? Er war erst kurz bei den AA, als er starb.»
«Ja, richtig», meint sie nachdenklich, «doch sein Tod war ja ziemlich offensichtlich.»
«Ja, vielleicht», erwidere ich, aber der Gedanke lässt mich dennoch nicht los.
Wir sitzen einen Moment schweigend da, und Iðunn schaut zum Fenster hinaus auf den Parkplatz vor dem Haus und den hauchdünnen Streifen der Esja, der oberhalb der Häuser am Laugavegur zu sehen ist. Dann fällt ihr Blick auf den Fotoumschlag auf dem Fensterbrett, und sie öffnet ihn.
«Es ist lange her, seit ich mir meine angesehen habe», sagt sie und schaut einige Fotos durch. Die Bilder unseres kleinen Jungen scheinen sie zu beruhigen. Vielleicht, weil die stressigen Gedanken rund um die Arbeit einem viel tieferen, traurigen Gefühl über ein Schicksal Platz machen, das keiner ändern kann.
«Ich muss mich daran gewöhnen, sie zu betrachten, ohne einen betäubenden Drink in der Hand zu halten», erläutere ich, und sie schaut mich einen Moment lächelnd an. Es kommt mir so vor, als ob sie mich noch immer lieben würde. Vielleicht ist es die gemeinsame Erinnerung, die uns für immer auf eine gewisse Art miteinander verbindet; keinem Menschen steht man näher als demjenigen, mit dem man ein kleines Kind bekommen hat, das man dann wieder verloren hat. Weder Scheidung noch Hoffnungslosigkeit, noch Wut können diese Verbindung endgültig trennen.
«Wollen wir etwas zusammen essen, Iðunn?» Ich bereite mich darauf vor, dass sie ablehnt. Und gebe mich damit zufrieden, denn ich werde deshalb nicht mehr erröten oder auf einem Tiefpunkt landen. Die Fotos unseres Jungen haben eine derartige Wirkung, dass wir uns voreinander für nichts mehr schämen müssen.
«Ja, danke, das wäre prima», antwortet sie, ohne von den Bildern aufzuschauen. Ich erschrecke ein wenig und gehe in Gedanken durch, was im Kühlschrank vorrätig ist. Ich hatte mir eigentlich vorgenommen, aus dem Gemüse, das sich im Endstadium befindet, eine Suppe zu kochen. Aber ich erinnere mich, dass ich noch eine Packung Garnelen im Gefrierfach habe, nehme sie heraus und lasse fließend kaltes Wasser darüberlaufen. Ich grille das Gemüse im Ofen und gebe zum Schluss eine Honigglasur mit Dill darüber, schütte die halbgefrorenen Garnelen in siedendes Salzwasser und schmiere Knoblauchbutter auf ein paar getoastete Brotscheiben.
«Wollen wir uns zum Essen nicht die Nachrichten anschauen?», schlage ich vor, denn ich möchte nicht, dass sie denkt, das wir eine Art Verabredung haben oder ich sie anmachen will.
«Ja, das ist gut.» Sie hat gerade etwas in ihr Handy eingetippt. Ich decke den Tisch für uns vor dem Fernseher, lege große Stoffservietten auf beide Teller, da die Garnelen mit Schale sind, und um es gemütlich zu machen, zünde ich auf dem Wohnzimmertisch ein Teelicht an.
«Bitte schön», sage ich, als das Essen auf dem Tisch steht. Iðunn erhebt sich, zieht ihren dicken Pulli aus und legt das Handy zur Seite, das im selben Moment piept. Sie nimmt es erneut in die Hand, liest die SMS und sagt auf dem Weg ins Wohnzimmer:
«Nicht, dass ich wirklich was davon halte, aber aufgrund deines Verdachtes habe ich weitere Untersuchungen der Proben von Aðalsteinns Leiche angefordert.»
«Aha!», sage ich und spüre Stolz in meiner Brust. Vielleicht bin ich als geheimer Ermittler doch nicht so ungeeignet.
«Obwohl es unwissenschaftlich klingt, sind Gedankenblitze oft sehr hilfreich», erläutert sie und lächelt mich erneut liebevoll an.
«Du hättest Koch werden sollen», sagt Iðunn zufrieden, sie lehnt sich im Sofa zurück, nachdem sie eine gehörige Portion verdrückt hat.
«Vielleicht werde ich noch einer», gebe ich neckisch zurück, «ein neuer Anfang mit allem Drum und Dran.» Sie betrachtet mich eine Weile nachdenklich, lehnt sich an mich, schmiegt ihren Kopf an meine Schulter, und ich lege meine Arme fest um sie. Die Hitze, die von ihrem Körper ausgeht, wärmt mein Herz. Eng umschlungen schauen wir uns den Wetterbericht an, und es tut so gut, ihre Nähe zu spüren, dass ich kaum zu atmen wage, aus Angst, sie könnte sich bewegen. Doch sie drückt sich stattdessen fester an mich. Ich spüre ihre Lippen an meinem Hals, und ihre Finger streicheln den unteren Teil meines Rückens, ein wohltuendes Gefühl breitet sich in meinem Körper aus. Meine Hände gleiten unter ihr Unterhemd und finden blind ihren Weg. Dann liege ich auf ihr, und sie umschlingt mich mit Armen und Beinen, sodass ich mich sicher und nicht mehr länger einsam fühle. Ich weiß nicht, ob ich aufgrund des langen Alleinseins so leidenschaftlich bin oder weil ich endlich einmal nüchtern bin. In den letzten Jahren war ich immer entweder betrunken oder verkatert, wenn wir uns liebten. Ich nehme ihren Körper auf ganz andere Weise wahr, und jede winzige Bewegung erweckt in mir einen größeren Genuss als je zuvor. Ich drücke sie fest an mich und trage sie ins Bett, wo wir uns lieben. Im Kopf scheint sie vollkommen relaxt zu sein, aber ihr Körper ist angespannt wie eine Violinsaite, die gleich zerreißen wird. Meine Hände vergraben sich in ihrem dunklen, weichen Haar, als sie kommt.
Danach liegt sie ruhig in meinen Armen, ihren warmen Rücken an mich geschmiegt, ich atme den Duft ihres Haares ein, und mir kommt es vor, als ob mein Herz jeden Moment zerspringen müsste vor Glück.
«Ich liebe dich immer noch so sehr, Iðunn», flüstere ich ihr in den Nacken, bereue es aber sogleich, als sie aufspringt und ihre Sachen zusammensucht, die überall auf dem Boden verstreut liegen. «Was ist los?», frage ich sie immer wieder und folge ihr ratlos durch die Wohnung, sie antwortet nicht. Es ist, als ob sie wütend wäre, doch ich weiß nicht, ob sie wütend auf mich ist oder enttäuscht über sich selbst.
«Das war ein Fehler, Magni», sagt sie schließlich, während sie mir, mit einer Hand auf der Türklinke, einen Blick zuwirft. Dann ist sie weg. Die Einsamkeit übermannt mich, wie wenn in meinem Inneren ein Damm gebrochen wäre, und ich verspüre eine große Leere in mir, als hätte mir jemand das Herz aus der Brust gerissen. Immer muss ich mein verdammtes Maul aufreißen und alles überstürzen. Zum Teufel noch mal, verfluchte Iðunn, mich anzumachen, meinen Schwanz unbedingt zu wollen und dann gleich auszuflippen, wenn ich sage, dass ich sie liebe. Ich bin froh, dass ich keinen Alkohol im Haus habe.
Am Sonntagmorgen erwache ich nach unruhigem Schlaf, und einen Augenblick lang fühle ich mich wohl, doch schon einen Atemzug später erinnere ich mich an den gestrigen Abend, und ein Unbehagen sickert in mein Bewusstsein. Ich sende Iðunn eine SMS, bevor ich aufstehe. Ich schreibe ihr, dass es mir leidtut, wie wir uns gestern verabschiedet haben, und frage, ob wir nicht allem etwas Gutes abgewinnen können. Weil keine Antwort kommt, stehe ich auf und koche Kaffee. Im Moment bin ich nicht in Stimmung für ein aufbauendes und gesundes Frühstück. Ich habe keine Lust zu duschen, also spritze ich mir lediglich etwas Wasser ins Gesicht, schlüpfe in meine Kleider und beschließe, so schnell wie möglich etwas zu unternehmen, anstatt hier drinnen Trübsal zu blasen und auf Iðunns Anruf zu warten.
Als ich nach draußen komme, hat der Wind nach Nordost gedreht, und es ist deutlich kühler geworden. Es ist, als ob der Nordwind in Reykjavík immer klarere Luft mit sich bringt, und man kann den Duft des eisüberzogenen Hochlandes in dem beißend kalten Nordostwind förmlich riechen. Ich bin froh, dass mir nicht Regen meine Pläne vermiest. Ich gehe über den Skólavörðuholt an der Hallgrímskirche vorbei, vor der an diesem kalten Sonntag im Februar seltsamerweise ein voller Bus mit Besuchern steht. Die Leute stellen sich vor dem Ungeheuer auf, um ein Foto von der Fassade zu machen, doch die meisten, die nur einen gewöhnlichen Fotoapparat besitzen, müssen bis in den Skólavörðustígur ausweichen, um den gesamten Turm draufzubekommen. Wie es wohl sein mag, zu verreisen, jetzt wo ich mit der Trinkerei aufgehört habe? Ich wäre gern ein gewöhnlicher Tourist in einem Bus, der Fotos von Kirchen in fremden Städten macht. Die Reisen, die Iðunn und ich zusammen ins Ausland unternommen haben, standen meist in Zusammenhang mit ihrer Weiterbildung bei der Polizei. Tagsüber habe ich meistens im Hotel geschlafen, während sie bei der Arbeit war, und abends sind wir durch die Stadt geschlendert und haben uns in Restaurants und Pubs herumgetrieben. Ich gehe beim Landeskrankenhaus über die Hringbraut und folge dem Spazierweg bis zum Fuß des Öskjuhlíð-Hügels. An den alten Warmwasserrohren entlang steige ich den Hang hinauf, und mir wird plötzlich bewusst, dass dieser Ort sich unmöglich für das Schwulen-Cruising eignet, da man hier nicht mit dem Auto hinkommt. Also gehe ich am Fuße des Hügels am Flughafen entlang in Richtung der Bucht Nauthólsvík, bis ich zu einem Fahrweg gelange, der sich in Kurven den Hügel hochschlängelt. Das ist eigentlich der einzige Ort, der in Frage kommt. Ich gehe die Straße hoch, ohne auf irgendein lebendes Wesen zu treffen. Auf dem Weg hinunter begegne ich einem Mann, dem ich einen guten Tag wünsche, der den Gruß aber nur zögernd erwidert und mich keines Blickes würdigt. Plötzlich sitzt ein hellbraunes Kaninchen furchtlos vor mir auf der Straße, und ich verspüre ein starkes Verlangen, es zu streicheln, aber es hoppelt im selben Moment davon, in dem meine Hand seinen samtweichen Rücken berührt. Iðunns schwesterliche Seelenverwandte, denke ich bei mir, eher belustigt als aus Bitterkeit. Ich wünschte, ich hätte ein Stück Brot oder sonst einen Leckerbissen in der Tasche, um das kleine Tier anzulocken. Nach zwei Runden den Weg hoch und runter bin ich total verschwitzt und denke, dass Atli an besagtem Sonntagnachmittag am Öskjuhlíð-Hügel wohl nicht gerade viel abgekriegt hat. Als ich schon beinahe unten angelangt bin und mich auf den Heimweg machen will, fährt ein steingrauer Wagen den Weg hoch. In dem Mercedes sitzt ein dunkelhaariger Fahrer um die vierzig, der die Scheibe runtermacht und anhält. Die Armaturen im Inneren sind aus Holz und Leder, im Flaschenhalter zwischen den Sitzen stehen zwei ungeöffnete Colaflaschen, und auf der hinteren Bank befindet sich ein Kindersitz.
«Tag.»
«Guten Tag», erwidere ich.
«Prächtiges Wetter.»
«Ja, aber es ist kalt.» Ob Schwule, die am Öskjuhlíð herumkurven, ihre Gespräche wie alle Isländer immer auf die gleiche Art beginnen: mit dem Wetter? «Kommst du oft her?»
«Immer wieder mal», antwortet er und blinzelt mir zu.
«Hast du vielleicht diesen Mann die letzten Sonntage hier gesehen?» Ich halte ihm ein Bild von Atli hin, das ich im Internet gefunden habe. Die Qualität des Ausdrucks ist nicht umwerfend, doch er ist auf dem Bild zu erkennen. Sein Lächeln verschwindet, und ich glaube, er hat sich das Bild gar nicht angeschaut. Er drückt voll aufs Gaspedal und donnert mit quietschenden Reifen den Weg hoch. Ich versuche ihm etwas nachzurufen, doch er ist schon außer Sichtweite. Nach und nach wird mir klar, dass das wohl keine gute Idee war. Auch wenn der Mann Atli möglicherweise ein Alibi für die besagte Zeit letzten Sonntag hätte verschaffen können, weiß ich immer noch nicht, ob er ein regelmäßiger Besucher ist und ob er in dem Fall immer denselben Wagen benutzt. Er könnte genauso gut zu Fuß oder mit dem Fahrrad aufkreuzen und wäre sicher nicht in der Stimmung, mir zu erzählen, was er hier macht.
Als ich nach dem Spaziergang nach Hause komme, fühle ich mich schlapp und stelle mich unter die dampfend heiße Dusche. Ich trödle eine Weile herum, unentschlossen, was ich mit dem Rest des Tages anfangen soll. Auf meiner Mailbox ist keine Nachricht, und Iðunn antwortet nicht, als ich sie anzurufen versuche. Ich beschließe, das nächste Meeting zu besuchen, und wühle in meinem Kleiderschrank nach etwas Brauchbarem zum Anziehen. Ich finde ein weißes T-Shirt, das Iðunn mir vor zwei Jahren zum Geburtstag geschenkt hat, ziehe meine bessere Sonntagshose an und fühle mich sauber und frisch, zumindest äußerlich. Bevor ich losgehe, ergänze ich meine Verdrussliste: Iðunn, weil sie mich nicht liebt.
Ich gehe zu einem kleinen Meeting im Versammlungszentrum in der Innenstadt, und als ich eintrete, sehe ich ein paar bekannte Gesichter. Ich schenke mir Kaffee ein und habe mich gerade hingesetzt, als ein korpulenter Mann hereinstürmt und mich anfährt:
«Gib den Stuhl frei, mein Freund, das ist gewöhnlich mein Platz.» Ich stehe verwundert auf und murmle etwas von freier Sitzwahl, doch er fügt hinzu, dass ich doch wohl einem älteren Herrn den Vortritt lassen werde, und blinzelt mir gutmütig wie ein Weihnachtsmann zu. Die Irritation brodelt in mir weiter, und ich gehe um den ganzen Tisch herum und setze mich ihm gegenüber hin, sodass er mich die ganze Zeit über anschauen muss. Es scheint ihm ziemlich egal zu sein, er setzt sich zurecht und grummelt zufrieden vor sich hin. Ich finde es selbstverständlich, den Sitzplatz älteren Menschen zu überlassen, doch dieser Mann ist weit davon entfernt, alt zu sein, er ist höchstens fünfzig. Vielleicht benötigt er wegen seines Übergewichtes den Platz am nächsten an der Tür. Der Leiter gibt das Wort nach links weiter. Es gibt keine zeitliche Beschränkung, wer wie lange reden darf, was der korpulente Weihnachtsmann schamlos auszunutzen weiß. Nachdem er zwanzig Minuten über seine Fehler geredet hat, ohne auch nur einen Hinweis darauf zu geben, wie er damit umgeht, platzt mein Kopf fast. Ich mustere die anderen Leute, um meine Gedanken zu zerstreuen und mich von meiner Wut abzulenken. Geir sitzt am anderen Ende des langen Tisches. Ich habe ihn nicht bemerkt, da ich zu beschäftigt gewesen bin, dem Platzdieb einen bösen Blick zuzuwerfen. Geir blinzelt mir lächelnd zu, wirft einen Blick auf den Weihnachtsmann und schneidet eine Grimasse. Meine Wut lässt sogleich nach, weil ich einen Seelenverwandten am Tisch habe, der auch unter den Erzählungen über die Fress- und Sexsucht des Dicken leidet.
Geir und ich umarmen uns nach dem Meeting, und er fragt mich mit einem Grinsen, ob ich das von eben nicht auf meiner Verdrussliste anführen müsse.
«Doch!», knurre ich. «Leute, die fast die gesamte Sitzungszeit für sich in Anspruch nehmen.»
«Das ist der Grund, warum wir in unserer Gemeinschaft ein Zeitlimit setzen», erklärt er. «Aber wie läuft es mit dem Formular?»
«Ich bin eigentlich fertig damit», antworte ich. «Vielleicht hast du Lust, auf einen Kaffee mit zu mir zu kommen, um die Sache abzuschließen?»
Wir gehen zusammen durch das Þingholt-Viertel. Der Nordwind hat sich etwas gelegt, und es herrscht ruhiges Frostwetter. Es riecht nach gebratenem Lammfleisch, und ich stelle mir vor, wie ich mit Iðunn in einem kleinen Holzhaus wohne: Der Sonntagsbraten gart im Ofen, und wir spielen auf dem Boden mit Baldur. Er wäre jetzt alt genug für Lego. Später am Nachmittag würde ich mit ihm ins Kino gehen, während Iðunn sich hinlegt, und auf dem Heimweg würde ich ihm erlauben, so viel Eis zu essen, wie er will.
«Ich bin fast explodiert, so genervt war ich», sage ich, um die Gedanken wieder auf realere Themen zu lenken. Es ist einfach, dem Schmerz mit Wut zu begegnen.
«Ja, er ist ein etwas schwieriger Charakter, dieser Kerl», antwortet Geir.
«Ich hätte ihm vielleicht mehr Geduld entgegengebracht, wenn er sich nicht gleich zu Anfang meinen Sitzplatz unter den Nagel gerissen hätte.» Ich muss lachen.
«Er hat dir den Sitzplatz weggenommen?» Geir ist erstaunt und findet das anscheinend nicht witzig.
«Ja, ich hatte mich bereits hingesetzt, als er kam. Er sagte, dass er für gewöhnlich auf diesem Platz sitzen würde und ich einem alten Mann Platz machen sollte. Später habe ich dann kapiert, dass er nur deswegen dort sitzen wollte, um als Erster dranzukommen.»
«Ich habe ihn schon oft zu einem Meeting in unserer Gruppe eingeladen, doch das würde bedeuten, dass er tatsächlich etwas in seinem Leben verändern müsste. Nicht nur dasitzen und darüber reden, wie mies es ihm geht», sagt Geir, und ich höre, dass auch er von dem Kerl genervt ist. «Ich kann dennoch kaum glauben, dass er dir den Sitzplatz weggenommen hat!», fügt er hinzu, und wir brechen beide in Gelächter aus. Es ist eine Erleichterung zu lachen, die Irritation scheint wie weggeblasen.
«Hier wohne ich», sage ich und stecke den Schlüssel ins Schloss.
Ich fülle die große Espressokanne mit Kaffeepulver und nehme aus dem Gefrierfach eine Tüte mit Zimtschnecken, wärme sie in der Mikrowelle auf und stelle sie auf den Tisch. Geir überfliegt meine Verdrussliste und bittet mich, jeden einzelnen Punkt zu erläutern. Es wundert mich, wie schwer es mir fällt, über Baldurs Geburt und Tod zu sprechen und über den Liebeskummer, als Iðunn mich verlassen hat. Mir wird klar, dass ich es immer vermieden habe, schwierige Themen anzusprechen. Der Schmerz, der sich in meinem Magen ausbreitet und sich durch meinen Hals nach oben drückt, ist stärker als gewöhnlich, und in mir schießt das Verlangen hoch, ein paar kalte Bier in mich hineinzukippen und den Fernseher anzuschalten.
«Es ist schwierig, sich seinem Schmerz nüchtern zu stellen», sagt Geir, als ob er einmal mehr wisse, was in mir vorgeht. «Aber das ist die notwendige Voraussetzung, dass du ihn eines Tages verarbeiten kannst.» Wir gehen die Liste weiter durch, und ich erzähle ihm, wie mich mein Vater mit seiner Trinksucht wütend gemacht hat, wie meine Mutter vom Schmerz abhängig zu sein schien und sich lieber mit ihrem Ehemann gestritten hat, als sich um Egill und mich zu kümmern.
«In den Augen der Kinder sind die Eltern die höhere Macht», sagt Geir, «und wenn sie ihren Eltern nicht vertrauen können, zerstört es das Vermögen der Kinder, an etwas zu glauben.» Er hat eine einzigartige Begabung, die Dinge so zu formulieren, dass sie genau ins Schwarze treffen. Ich verstehe nur zu gut, dass er «Pfarrer» genannt wird, denn es scheint, als ob er aus einer höheren Weisheit heraus argumentiert. Ob er jemals wütend werden kann? Oder ist es tatsächlich möglich, vollkommene Gelassenheit zu erlangen? Er redet lange darüber, wie wichtig es ist, dass ich mich auf die Suche nach Gott konzentriere, indem ich versuche zu beten, auch wenn ich denke, dass es nichts nützt. Ich nicke, bin aber nicht ganz überzeugt davon, da ich weiß, dass ich mich nicht überwinden kann, einfach draufloszuplappern und von meinen Sorgen zu erzählen und mir vorzugaukeln, dass jemand zuhört.
«Ich verstehe gut, dass du wütend auf Gott bist», sagt Geir und zeigt auf den ersten Eintrag in meiner Verdrussliste, «aber wie kannst du auf jemanden wütend sein, von dem du nicht wirklich glaubst, dass er existiert?» Er gibt keine Antwort, und ich überlege mir, was ich eigentlich damit gemeint habe. Habe ich einen Augenblick an ihn geglaubt? Sollte man die Momente ausdehnen, die das Dasein einer höheren Macht manifestieren, sodass sie am Ende einen ganzen Tag überdauern?
«Gratuliere. Du bist fertig mit dem vierten Schritt.» Geir umarmt mich zum Abschied und klopft mir eifrig auf den Rücken, was mir das Gefühl vermittelt, dass er mit mir zufrieden ist. Erneut muss ich an meinen Vater denken. Hätte er mir doch einmal so aufmunternd auf den Rücken geklopft, als ob er sagen wollte: Nun hast du was Großartiges geleistet, mein Sohn. Bevor er geht, gibt Geir mir ein neues Formular.
«Und nun der fünfte Schritt, mein Lieber. Nun wirst du dir ein Schreibheft besorgen und die schmerzlichen Punkte in deinem Leben aufschreiben. Was hast du dazu beigetragen, dass sich Schlechtes noch verschlimmert hat? Was jetzt zählt, ist Ehrlichkeit.» Ich nehme das Formular und spüre, wie mein Herz sich verkrampft. Ich habe keine Lust, mich mit dieser Aufgabe zu beschäftigen.
Auf der Mailbox ist immer noch keine Nachricht. Ich lege mich auf das Sofa und knabbere Popcorn, während ich mir einen Spielfilm anschaue. Als ich schlafen gehe, riecht die Bettwäsche nach Iðunn.