18. KAPITEL
»Es besteht keine Notwendigkeit, dass Ihr mich tragt, mein Gemahl. Ich bin nicht verletzt und kann durchaus laufen«, wiederholte Evelinde etwa zum zehnten Mal, seit sie Cullen vom Abgrund fortgezogen hatten und er sie in die Arme geschlossen und aufgehoben hatte. Nun eilte er mit ihr auf den Wohnturm zu.
Evelinde ergab sich der Tatsache, dass ihr Gatte offenbar nicht gewillt war, sie auf ihre eigenen Füße zu stellen, und sah über seine Schulter auf die kleine Gruppe, die ihnen folgte. Biddy, Tavis und Mildrede gingen vorweg, und Mac, Rory und Gillie folgten. Evelindes Blick verharrte auf Biddy, die verloren aussah. Das Gesicht der älteren Frau war blass, und dass sie zitterte, war auch aus mehreren Schritten Entfernung noch zu erkennen. Mildrede hatte Biddy einen Arm um die Taille gelegt und stützte sie gemeinsam mit Tavis, der seine Mutter ebenfalls hielt. Es war das erste Mal seit Evelindes Ankunft auf Donnachaidh, dass sie ein Zeichen der familiären Verbundenheit zwischen den beiden sah. Auch Cullens Cousin sah aus, als hätten ihn die Enthüllungen des heutigen Tages mitgenommen, und Evelinde fragte sich, ob das, was er über seinen Vater erfahren hatte, nicht vielleicht ein paar Veränderungen in ihm anstoßen würde. Sie hoffte es, doch das blieb abzuwarten.
Was Biddy anging, wollte Evelinde nicht länger abwarten.
»Mein Gemahl?«
Cullen blieb stumm, sah sie jedoch kurz an, ehe er den Blick wieder nach vorne richtete. In dem Wissen, dass dies seine Art war, »Ja, bitte, Frau?« zu sagen, fuhr Evelinde fort: »Was werdet Ihr im Hinblick auf Eure Tante unternehmen?«
Sie sah, wie er einen Mundwinkel ungehalten nach unten zog, bevor sein Gesicht wieder den üblichen ausdruckslosen Zug annahm. Doch sie bemerkte den Schmerz in seinen Augen und erkannte, dass er nicht wusste, was er wegen seiner Tante und ihrer Tat unternehmen sollte.
»Bedenkt, dass sie Darach nicht umgebracht hat«, sagte Evelinde sanft. »Sie hat ihn angeschossen, das ist wahr, aber das hat ihn nicht getötet. Darach hat dies und mehr noch verdient für das, was er Jenny angetan hat. Könnt Ihr nicht einfach vergessen, was sie getan hat, und das Ganze ruhen lassen?«
»Aye.« Cullen seufzte. »Die Wahrheit ist, dass sie sich selbst schon seit Jahren für etwas bestraft, das sie begangen zu haben glaubte. Ich sehe keinen Sinn darin, ihre Bestrafung noch auszuweiten.«
Evelinde umfasste seine Schultern einen Moment fester und deutete so eine Umarmung an, um sich dann in seinem Griff zu entspannen. Sie lächelte.
»Ihr solltet mich nicht anlächeln, sondern wütend auf mich sein«, brummte Cullen, als sie den Hinterhof erreichten. Er stieß die Tür zur Küche mit dem Stiefel auf.
Sie sah ihn an, die Augen groß und fragend, sagte aber nichts, bis sie die Küche hinter sich gelassen hatten und die große Halle durchschritten. »Warum?«, fragte sie dann.
»Weil meine Schweigsamkeit Euch wieder einmal hat leiden lassen, und dieses Mal hat Euch die Sache zudem fast das Leben gekostet«, erwiderte er.
»Wirklich?«, fragte Evelinde verblüfft.
»Aye. Wenn ich Euch gesagt hätte, dass ich Biddy mit zu den Comyns nehmen würde, dann hätte Fergus Euch niemals zu den Klippen locken können mit der Behauptung, sie sei dort.«
Evelinde dachte schweigend darüber nach, während er sie die Treppe hinauftrug. Was er sagte, stimmte zwar, aber …
»Und schon gar nicht hätte er Euch nach draußen locken können, wenn ich Euch mitgeteilt hätte, dass ich mir im Hinblick auf ihn unsicher war«, fügte Cullen hinzu, als sie den oberen Treppenabsatz erreichten.
Evelinde sah ihn aufmerksam an. »Ihr habt Fergus verdächtigt?«
»Nay«, räumte er ein, während er an der Tür zum Schlafgemach stehen blieb, damit Evelinde diese öffnen konnte. Cullen trat hindurch, stieß sie mit dem Fuß zu, trug sie zum Bett und stand dann einfach da und hielt sie in seinen Armen. »Aber die Sache mit dem Feuer im Wohngemach hat mir zu denken gegeben. Fergus hat behauptet, er sei in der großen Halle gewesen und hätte jeden sehen müssen, der die Treppe hinaufging. Doch angeblich hat er niemanden gesehen und hat stattdessen hartnäckig darauf beharrt, dass es ein Unfall gewesen sei. Selbst als ich ihm erklärt habe, dass die Fackel zu weit von der Halterung entfernt auf dem Boden lag, hat er weiterhin daran festgehalten, dass es ein Unfall war.« Cullen verzog das Gesicht. »Angeblich hat er kurz weggeschaut, um Tavis und Mildrede die Tür zu öffnen, aber ich kenne Fergus. Er nimmt seine Pflichten ernst, und auch das Durchschreiten der Halle und das Öffnen des Portals hätten ihn normalerweise niemals davon abgehalten, das Wohngemach weiterhin im Auge zu behalten. Das hat mich beunruhigt. Wenn ich Euch dies alles erzählt hätte, dann hättet Ihr es Euch womöglich zweimal überlegt, ehe Ihr mit Fergus irgendwo alleine hingegangen wäret.«
»Aye, das ist wahr«, stimmte sie leise zu, doch in ihren Worten schwang kein Ärger mit, denn sie verspürte keinen.
»Es tut mir leid«, sagte Cullen ernst. »Ich werde mich ändern«, schwor er dann. »Ich werde Euch in Zukunft alles mitteilen. Ich werde …« Cullen brach ab, und seine Augen weiteten sich überrascht, als Evelinde ihm eine Hand auf die Lippen legte und ihn so verstummen ließ.
»Ihr müsst Euch nicht ändern, Mylord. Ihr …«
»Doch, ich muss«, beteuerte er feierlich, während er das Gesicht abwandte und sich so ihrer Hand entzog. »Ich liebe Euch, Evelinde. Ja, ich liebe Euch. Und ich weiß auch, dass Ihr mich hingegen nicht liebt, denn wie solltet Ihr, da Ihr mich doch kaum kennt. Das ist alles mein Fehler. Wie Ihr mir einmal ganz richtig gesagt habt, habt Ihr mir alles über Euch erzählt – ich weiß alles über Eure Kindheit, Eure Familie, Eure Überzeugungen … einfach alles. Aber Ihr wisst nicht das Geringste über mich. Das möchte ich ändern. Denn ich möchte, dass auch Ihr mich liebt.«
»Ich liebe Euch doch«, wandte Evelinde rasch ein.
Cullen sah sie überrascht an. »Ist das wahr?«
Evelinde lachte leise über seinen verwirrten Blick und umschloss ihren Gatten dann fester mit den Armen. »Ja, mein Gemahl, das ist wahr.«
»Wie könnt Ihr mich lieben, wenn Ihr mich doch kaum kennt?«, fragte er verblüfft.
»Aber ich kenne Euch doch«, versicherte ihm Evelinde ernst. »Ich weiß, dass Ihr stark und ehrenhaft seid. Ich weiß, dass Ihr immer darum besorgt wart und sein werdet, dass es mir gut geht und ich glücklich bin. Ich weiß, dass Ihr Eurem Volk gegenüber gerecht und mitfühlend seid …« Sie schüttelte den Kopf. »Mylord, was Ihr mir ganz zu Anfang einmal gesagt habt, ist wahr – Eure Taten sprechen eine deutlichere Sprache als Worte.«
Ihr Gemahl schien nicht überzeugt zu sein. »Nehmt Fergus«, fuhr sie fort. »Er hat immer wieder beteuert, dass er Biddy liebe und dass er ihr niemals wehtun könnte, und dennoch hat er ihr mit allem, was ›er tat, Schmerzen zugefügt.«
Sie schwieg kurz. »Was hättet Ihr getan, wenn Ihr statt Fergus Jenny und Darach ertappt und gewusst hättet, was dieser ihr angetan hat?«
Cullens Mund wurde schmal. »Ich hätte den Bastard zum Kampf herausgefordert und getötet.«
»Aye.« Evelinde nickte. »Und was hättet Ihr getan, nachdem Jenny sich umgebracht hat und Darach den sorgenden Ehemann spielte?«
»Ich hätte ihn vor aller Augen zur Rede gestellt und offen gesagt, was ich weiß, und dann hätte ich den Bastard zum Kampf herausgefordert und getötet.«
Evelinde biss sich auf die Unterlippe, um nicht unwillkürlich zu lächeln. Hier zeichnete sich eine deutliche Linie ab. Das in Cullens Augen verabscheuungswürdige Verhalten seines Onkels ließ für ihn offenbar nur eine Lösung zu – »den Bastard zu töten«. Das überraschte sie nicht, doch sie ging nicht näher darauf ein. »Fergus dagegen hat veranlasst, dass Biddy alles herausfindet, und dann gewartet, bis sie sich den Mann vornahm. Und als sie Darach anschoss, ihn aber nicht tötete, übernahm Fergus den Rest, allerdings nicht Biddys wegen, wie er behauptet hat. Denn Biddy hat verzweifelt versucht, ihren Gemahl zu retten. Fergus hat es für sich selbst getan in der Hoffnung, dass er Eure Tante für sich haben könnte. Mit der Behauptung, er habe es aus Liebe zu ihr getan, hat er sich nur rechtfertigen wollen … Daran, dass sie künftig unter Schuldgefühlen leiden würde, hat er kaum einen Gedanken verschwendet.«
Sie atmete tief durch. »Auch Euren Vater und die kleine Maggie hat er nicht für Biddy getötet«, fuhr sie dann fort. »Hätte Euer Vater Fergus wirklich nicht geglaubt, wenn dieser beteuert hätte, er habe Darach getötet, als dieser schon auf dem Wege der Besserung war? Ihr hättet ihm geglaubt, nicht wahr?« Evelinde sah Cullen an, und er nickte und zuckte die Schultern. »Und Euer Vater hätte das auch getan«, setzte sie hinzu. »Doch Fergus wollte sich nicht selbst in Gefahr bringen, und so hat er den Mord an den beiden mit der Behauptung gerechtfertigt, er habe es für Biddy getan – um ihr auch diese Schuld noch aufzubürden«, sagte sie fest und schüttelte den Kopf. »Das ist keine Liebe. Fergus hat zwar von Liebe gesprochen, aber seine Taten sagten etwas ganz anderes.«
Sie blickte auf. »Ihr hingegen«, fuhr sie sanft fort und legte eine Hand an seine Wange, »habt zwar nur selten etwas zu mir gesagt, doch all Eure Taten haben deutlich zum Ausdruck gebracht, wer Ihr seid und an was Ihr glaubt. Eure Ehrenhaftigkeit spricht aus allem, was Ihr tut, und dafür liebe ich Euch.« Sie lächelte leicht spöttisch und fügte hinzu: »Nun, zumindest seit ich weiß, was Ihr alles für mich getan habt.«
Cullen drückte sie an sich und beugte sich vor, um seine Lippen auf die ihren zu drücken. Was als zärtliche, liebevolle Berührung begann, wurde bald zu einem leidenschaftlichen Kuss. Als er von ihr abließ, waren sie beide außer Atem.
»Ich liebe Euch, Evelinde«, wiederholte er ernst, wobei er seine Finger sacht über ihren Rücken gleiten ließ und begann, die Bänder ihres Gewands zu lösen. »Als ich nach d’Aumesbery aufbrach, um Euch zu holen und zu ehelichen, bestand meine Hoffnung vor allem darin, eine Frau zu finden, mit der es sich einigermaßen gut leben ließe, doch was ich bekam, war weit mehr. Ich habe Euch schon bei unserem ersten Treffen gemocht. Und mit jedem Augenblick, den wir zusammen verbrachten, wurde aus diesem Gefühl mehr. Ihr seid ganz anders als alle Frauen, die mir bislang begegnet sind, Evelinde.«
»Auch ich habe Euch von Anfang an gemocht«, flüsterte Evelinde, als er verstummte, um ihr das Kleid über die Schultern zu ziehen. »Obgleich ich das große Glück habe, schon vor Euch Männern begegnet zu sein, die so ehrenwert waren, wie Ihr es seid.«
Cullen erstarrte, und sie lächelte schelmisch. »Ihr seid meinem Vater sehr ähnlich, Mylord, und ich kann nur hoffen, dass auch mein Bruder noch so ist, wie ich ihn zuletzt erlebt habe. Ich kann mich glücklich schätzen, in meinem Leben von solch untadeligen Männern umgeben zu sein, und ich bin stolz darauf, Eure Gemahlin zu sein.«
Er entspannte sich, doch dann sah Evelinde etwas in seinen Augen aufblitzen, was sie neugierig machte.
»Was gibt es denn?«, wollte sie wissen.
»Mir ist gerade wieder etwas eingefallen, das ich Euch noch gar nicht erzählt habe«, sagte er betreten.
Evelinde hob fragend die Brauen.
»Wir haben einen Brief von Eurem Bruder erhalten«, teilte Cullen ihr mit. »Alexander hat angekündigt, uns zu besuchen.«
Evelinde strahlte, und ihr Herz machte vor Freude einen Sprung. Ihr Gemahl hingegen schien nicht übermäßig froh über den anstehenden Besuch zu sein. »Wünscht Ihr nicht, dass mein Bruder herkommt?«, fragte Evelinde daher. »Ihr habt doch gesagt, ich dürfe ihn einladen«, erinnerte sie ihn in besorgtem Tonfall.
»Aye«, bestätigte er. »Ich habe durchaus nichts gegen seinen Besuch. Aber ich hätte es Euch schon vor Tagen sagen sollen, als ich die Nachricht erhielt. Das werde ich in Zukunft nicht wieder vergessen«, versprach er. »Ich werde Euch solche Dinge künftig sofort sagen, und überhaupt werde ich Euch alles erzählen, was Ihr über mich zu wissen wünscht. Ich werde Euch von meiner Kindheit und von meinem Vater berichten, und ebenso von meiner Mutter und allem, was Ihr darüber hinaus noch erfahren möchtet.«
Cullen ließ Evelindes Unterkleid zu Boden gleiten. »Ich werde Euch von meiner allerersten Jagd erzählen und von meiner ersten Frau und von meinem …«
»Mylord«, unterbrach ihn Evelinde, während er seine Hände über ihren Körper streichen ließ.
»Aye?« Cullen hielt kurz inne.
»Erzählt mir das alles später«, flüsterte sie, drängte sich an seine Brust und schlang die Arme um seinen Hals, um ihn zu sich herabzuziehen und seine Lippen mit den ihren zu bedecken.
»Aye, Frau«, raunte er. Und dann küsste er sie.
– ENDE –