15. KAPITEL

Biddy hätte ihn umgebracht, wenn er ihr auch nur zu nahe gekommen wäre.

Evelinde starrte auf den schmalen Lichtstrahl, der einige Schritte vom Bett entfernt durch einen Spalt in den Fensterläden drang, und gähnte müde. Sie hatte in dieser Nacht nicht gut geschlafen, zu sehr hatte sie das beschäftigt, was sie von Tralin erfahren hatte. Cullen hatte die große Halle unmittelbar nach diesem letzten Satz von Tralin betreten, und so hatte Evelinde dem Besucher keine weiteren Fragen mehr stellen können. Das hatte sie allerdings nicht davon abhalten können, über das nachzudenken, was er ihr bereits erzählt hatte.

Zwar hatte Tralin behauptet, dass Darach niemals Jennys Leben dadurch zerstört hätte, dass er sie zu seiner Geliebten machte, doch ganz sicher schien er sich dabei nicht gewesen zu sein. Dafür, dass Darach nicht Jennys Liebhaber gewesen war, sprach allein die Tatsache, dass er an jenem Tag von der Burg fortgeritten war, kurz bevor Jenny sich zu den Klippen aufgemacht hatte, um dann in Tränen aufgelöst zurückzukehren und überstürzt abzureisen. Wobei es jedoch nicht auszuschließen war, dass Darach um die Burgmauer herum zu den Klippen geritten war. Er mochte durchaus der heimliche Verehrer des Mädchens gewesen sein.

Wenn das stimmte, warf dies kein gutes Licht auf Biddys Schwester und auch nicht auf ihren Gemahl, aber wenn Darach tatsächlich so verrucht wie Tavis war, glaubte Evelinde nicht, dass ihn sein Gewissen besonders gequält hatte. Gewissensbisse waren jedenfalls das Letzte, das aus der Art und Weise sprach, wie Tavis mit den Mägden umsprang. Er nahm sich von jeder Frau, was diese zu geben bereit war, und wandte sich dann frohgemut der nächsten zu, wie eine Biene, die von Blüte zu Blüte flog – ohne auch nur einen Gedanken an das Ungemach zu verschwenden, das er hinterließ.

Was nun Biddys Schwester anging, so war sie mit einem abscheulichen Mann verlobt gewesen, der für seine Grausamkeit und seine Übergriffe berüchtigt gewesen war. Vielleicht war sie verzweifelt genug gewesen, sich mit dem Gemahl ihrer Schwester einzulassen in der Hoffnung, sich so retten zu können, oder auch einfach nur, um ein letztes Mal Freude zu erfahren, bevor sie unter die Knute der bevorstehenden Ehe geriet.

Evelinde konnte dies sogar einigermaßen nachvollziehen. Ihr eigenes Verhalten an dem Tag, an dem sie von ihrem Verlöbnis mit dem Teufel von Donnachaidh erfahren hatte, war alles andere als vorbildlich gewesen. Sie hatte es zugelassen, dass Cullen sie auf eine Weise küsste und berührte, die ihr heute selbst unglaublich vorkam. Und auch sie hatte ihr Verhalten mit der verhassten Ehe gerechtfertigt, die ihr vermeintlich bevorstand. Sie hatte sich gesagt, dass dies die einzige Freude bleiben mochte, die sie in ihrem Leben haben würde. Evelinde konnte nicht einmal aufrichtig behaupten, dass sie Cullen früher weggestoßen hätte, wenn sie erfahren hätte, dass er verheiratet war – obwohl sie gerne geglaubt hätte, dass ihr dies gelungen wäre, wenn besagte Gemahlin ihre eigene Schwester und Cullen somit ihr, Evelindes, Schwager gewesen wäre. Und dabei war sie nicht einmal so jung, wie Jenny es gewesen war.

Evelinde gähnte erneut und seufzte dann beim Gedanken daran, dass ein Kind wie Jenny eine Tändelei mit dem Gatten ihrer Schwester sich selbst gegenüber durchaus auf diese Weise gerechtfertigt haben mochte. Vielleicht hatte Jenny gar gehofft, Darach würde einen Weg finden, sie vor der Ehe mit dem Campbell zu bewahren.

Sie runzelte die Stirn, als sie sich in Gedanken ausmalte, was diese Möglichkeit alles nach sich zog. Hatte Biddy entdeckt, dass ihre Schwester und ihr Gemahl sich miteinander eingelassen hatten? War dies der eine Fehltritt gewesen, den sie nicht bereit war zu verzeihen? Und warum war Jenny nach Donnachaidh zurückgekehrt, nachdem sie so hastig geflohen war? Hatte sie sich wirklich selbst das Leben genommen? Es war durchaus möglich, dass sie ihr schlechtes Gewissen plagte, nachdem sie sich dem Mann ihrer Schwester hingegeben hatte und sich deswegen umbrachte. Doch ebenso gut war es möglich, dass ihr Tod nur ein weiterer verkappter Mord war.

Vielleicht hatte Biddy Jenny und Darach umgebracht, nachdem sie alles herausgefunden hatte, mutmaßte Evelinde. Aber wenn dies der Fall war, warum hätte sie so viele Jahre später auch Cullens Vater beseitigen sollen? Hatte Liam etwa herausgefunden, was Jahre zuvor geschehen war, Biddy zur Rede gestellt und somit seinen eigenen Tod verschuldet? Oder hatte sie mit dem Mord an Liam nur wiedergutmachen wollen, was sie als Unrecht empfand – nämlich Darach zu töten, als ihr Sohn noch zu jung war, um die Stellung des Laird einzunehmen? Denn schließlich war ihr Sohn durch Darachs verfrühten Tod übergangen worden. Vielleicht hatte sie gehofft, dass der Titel nicht an Cullen, sondern an ihren Sohn übergehen würde, wenn sie Liam aus dem Weg schaffte.

Was Maggie anging, so mochte sie Biddy mit ihren Fragen so sehr beunruhigt haben, dass diese sie zum Schweigen brachte, oder aber sie war auf die ganze Wahrheit gestoßen und hatte damit ihr Leben erst recht verwirkt.

Evelinde überdachte ihre Schlussfolgerungen düster. Zwar ergaben sie gewissermaßen Sinn, aber dennoch fiel es ihr nicht leicht, in Biddy eine blutgierige Mörderin zu sehen, die all diese Menschen auf dem Gewissen hatte – ihre eigene Schwester, ihren Gemahl, ihren Schwager und die Frau ihres Neffen. Zudem mochte Evelinde Biddy und wollte nicht glauben, dass diese es auf sie abgesehen hatte.

Sie musste diese Sache schnellstens auflösen, beschloss sie bei sich, wusste aber nicht so recht, wie sie dies anstellen sollte. Von Biddy würde sie kaum etwas erfahren – wenn sie unschuldig war, wäre sie beleidigt, und war sie es nicht, würde sie lügen und alles abstreiten.

Vielleicht konnte sie sich in Biddys Kammer stehlen, wenn diese nicht in der Nähe war, um zu sehen, ob sich nicht etwas fand, das Aufschluss geben würde. Briefe von Biddy an Jenny oder von dieser an Biddy, ein Tagebuch … oder am besten gleich ein schriftliches Schuldgeständnis, dachte Evelinde bissig und warf sich im Bett herum. Dennoch war es einen Versuch wert.

»Warum seid Ihr so unruhig?«, fragte eine verschlafene Stimme an ihrem Ohr. Cullen schmiegte sich von hinten an sie und schlang einen Arm um ihren Körper.

»Warum denkt Ihr, ich sei unruhig?«, fragte Evelinde, anstatt zu antworten. Seine Finger kamen unterhalb ihrer Brust zum Liegen, getrennt von dieser nur durch Leinenüberwürfe und Felle. Evelinde bettete ihre Hand auf der seinen.

»Weil Ihr so laut geseufzt und gestöhnt habt, dass ich davon aufgewacht bin«, erklärte er und knabberte sanft an ihrem Ohr.

»Gar nicht wahr«, erwiderte Evelinde, plötzlich ein wenig atemlos. Als ihr Gemahl mit den Lippen ihren Hals entlangfuhr, schloss sie genüsslich die Augen.

»Doch«, beteuerte Cullen und zog Decken und Felle von ihrem Körper, um seiner Hand freien Zugang zu den wohlgeformten Rundungen seiner Gattin zu gewähren.

»Oh«, hauchte Evelinde, als er eine ihrer Brüste umfasste und begierig knetete, während er seine Lenden noch ein wenig fester an sie drückte, sodass sie sein schwellendes Fleisch spürte, dass zwischen ihnen erwachte und gegen Evelindes Körper drängte.

»Woran habt Ihr gedacht?«, wollte er wissen und biss ihr zärtlich in die Schulter.

Evelinde schluckte nur. Nachzudenken fiel ihr schwer, wenn er sie derart liebkoste.

»Sagt es mir«, flüsterte Cullen beharrlich. Er ließ kurz von ihrer Brust ab, um seiner Männlichkeit zwischen ihre Schenkel zu helfen. Evelinde spürte, wie seine Härte gegen die vor Wollust feuchte Pforte zu ihrem Innersten drängte.

Sie stöhnte, als Cullen die Hüften vorschob und seinen harten Schaft über diesen erregend empfindlichen Punkt ihrer Weiblichkeit rieb, während er seine Hand erneut zu ihrer Brust hinaufgleiten ließ.

»Sagt es mir«, wiederholte er und kniff sanft in ihre Brustknospe. Dabei hörte er nicht auf, mit den Hüften gegen sie zu drängen.

»Ich habe an Jenny und Darach gedacht«, wisperte Evelinde. »Und daran, ob sie vielleicht Geliebte waren und Biddy es herausfand und sie deshalb umbrachte, und …« Sie brach ab, als Cullen abrupt in seinen Bewegungen innehielt.

»Jenny und Darach?«, fragte er verblüfft, und Evelinde drehte sich ein wenig, damit sie ihrem Gemahl ins Gesicht schauen konnte. Die bloße Vorstellung schien ihn zu bestürzen.

»Ich weiß, wie befremdlich das klingt«, wandte Evelinde entschuldigend ein, »aber Tavis hat mir erzählt, dass sie sich bei den Klippen mit einem Liebhaber getroffen hat. Tralin ist der Meinung, dass Darach dem Mädchen zu viel Aufmerksamkeit schenkte und Jenny eine Schwäche für ihn entwickelt zu haben schien. Wenn Darach tatsächlich so wie Tavis war, was Frauen angeht, und wenn Jenny wirklich so naiv war, wie alle denken, dann …«

Sie ließ den Satz ins Leere laufen, damit Cullen seine eigenen Schlüsse ziehen konnte. »Es mag durchaus ein Zufall gewesen sein, dass Jenny nur zwei Wochen vor Darachs tödlichem Unfall starb«, fuhr sie dann fort. »Aber es fällt mir schwer zu glauben, dass es keinen Zusammenhang gibt. Sowohl Euer Vater als auch die kleine Maggie sind von eben den Klippen gestürzt, von denen auch Jenny in den Tod gesprungen ist und an denen sie bestattet wurde.«

Er sagte keinen Ton, aber Evelinde sah in seinen Augen, dass es in ihm arbeitete. Dann rollte er sich plötzlich zur Seite und stieg aus dem Bett.

»Mylord?« Evelinde schlug die Decken zurück, um ebenfalls aufzustehen. Als sie sah, dass er sich mit grimmiger Miene ankleidete, runzelte sie die Stirn und kaute auf ihrer Unterlippe. »Was habt Ihr vor?«, fragte sie.

»Überlasst die Sache mir«, sagte er bestimmt und steckte seinen Plaid fest. »Ich kümmere mich darum.«

Noch immer unschlüssig, beobachtete sie, wie Cullen sein Schwert anlegte und sein Messer einsteckte. »Bitte, mein Gemahl, erzählt dies alles nicht Biddy«, bat sie. »Vielleicht liege ich falsch mit alldem, und ich möchte sie nicht verletzen, bevor nicht feststeht, wie es sich verhalten hat.«

»Überlasst das mir«, knurrte er noch einmal. Als er die Besorgnis auf dem Gesicht seiner Frau sah, wurde seine Miene noch ernster. Er schritt zu ihr hinüber und nahm sie bei den Armen. »Ich möchte nicht, dass Ihr Euch deswegen sorgt. Ihr habt durch all diese Anschläge auf Euer Leben genug durchgemacht. Ich möchte, dass Ihr glücklich und zufrieden seid, Frau, denn ich liebe Euch.«

So unverblümt und plötzlich kam die Mitteilung, dass Evelinde nur die Augen aufriss und den Mund öffnete, aber kein Wort herausbrachte. Cullen nutzte dies, um ihre wehrlos geöffneten Lippen mit einem Kuss zu überfallen. Es war ein hastiger, aber ungemein inniger Kuss. Dann schob er sie von sich und wandte sich zur Tür. »Zieht Euch an«, befahl er. »Sobald ich unten in der Halle bin, werde ich Euch Wachen hochschicken.«

Nachdem die Tür sich hinter ihm geschlossen hatte, stand Evelinde immer noch da, betäubt von seinen Worten. Er liebte sie. Er hatte gesagt, dass er sie liebe. Großer Gott, ihr Gemahl liebte sie. Sie ging zum Bett hinüber und setzte sich, fuhr aber sofort wieder hoch, um eilig ihr Kleid anzulegen. Cullen würde ihr umgehend seine Wachhunde hinaufschicken, wer auch immer es heute war, und wenn sie diese erst einmal im Nacken hatte, bestand keine Möglichkeit mehr, Biddys Kammer zu durchsuchen. Nicht dass Evelinde glaubte, dort einen Hinweis zu finden, aber einen Versuch war es dennoch wert.

In Windeseile hatte sie ihr Gewand übergestreift, und anstatt sich ausgiebig zu frisieren, begnügte sie sich damit, ihr Haar zu einem Zopf zusammenzubinden. Sie hastete zur Tür, öffnete sie leise und spähte hinaus in die Halle. Erleichtert stellte sie fest, dass noch niemand dort war. Die Männer waren also noch nicht die Treppe heraufgekommen. Evelinde wollte gerade aus dem Gemach schlüpfen, als die Tür zu Biddys Kammer aufschwang und die zierliche Frau heraustrat und auf die Stufen zueilte. Zum Glück schaute sie nicht in Evelindes Richtung.

Evelinde dankte der glücklichen Fügung, die dafür gesorgt hatte, dass sie erst jetzt ihr Gemach verließ, um in Biddys Kammer einzudringen, und wartete, bis die ältere Dame verschwunden war. Dann glitt sie durch die Tür, schloss sie leise und schlich lautlos durch die Halle.

 

Cullen stand im Wohngemach und betrachtete den Fußboden. Er hatte gerade die Treppe hinuntergehen wollen, als ihm einfiel, dass Evelinde und Mildrede wahrscheinlich vorhatten, mit dem Saubermachen fortzufahren. Er sorgte sich, dass der Holzboden durch das Feuer möglicherweise marode geworden war, und so war er umgedreht und ins Wohngemach gegangen. Daher kauerte er gerade dort auf dem Boden, als die Tür zu Biddys Kammer aufging und diese herausgeeilt kam. Er sagte nichts, um sie nicht auf sich aufmerksam zu machen, und so bemerkte sie ihn im Dämmerlicht des Raumes nicht, als sie vorbeihastete. Cullen lauschte schweigend ihren eiligen Schritten auf die Treppe zu und die Stufen hinab.

Dann ließ er seinen Blick wieder über den Holzboden wandern, doch in Gedanken war er mit dem beschäftigt, was ihm seine Frau gerade erzählt hatte. Tavis glaubte also, Jenny habe einen Geliebten gehabt? Und Tralin meinte, das Mädchen hätte eine Schwäche für Darach entwickelt?

Es schien, als sei er selbst in seiner Jugend ein recht unachtsamer Bursche gewesen, denn ihm war all dies nicht aufgefallen. Doch nun, da Evelinde ihn darauf hingewiesen hatte, fiel ihm ein, dass Jenny jedes Mal, wenn sein Onkel den Raum betreten hatte, zu strahlen begonnen hatte wie ein Frühlingsmorgen. Und einmal, erinnerte er sich, waren er und Tralin ihr begegnet, und ihm war aufgefallen, dass ihre Wangen gerötet und ihre Lippen geschwollen waren. Zudem war ihr Kleid ganz zerknittert und nur nachlässig geschlossen gewesen. Sie hatten sie damals damit aufgezogen, dass sie sich wohl gerade mit einem der Knappen vergnügt habe, wenngleich die beiden Jungen nicht ernsthaft daran geglaubt hatten. So hübsch Jenny auch war, war sie doch immer auch prüde und leicht überheblich gewesen, sodass Cullen sich nur schwer vorstellen konnte, dass irgendwer sie hätte küssen mögen. Sie war ihm immer wie eine anständige junge Dame vorgekommen – nicht wie eine, die sich dabei ertappen ließ, wie sie, die Zügel ihres Pferdes zwischen den Zähnen, nur im Unterkleid über eine Wiese galoppierte und ihr Gewand zum Trocknen hochhielt.

Die Erinnerung an die erste Begegnung mit seiner Gemahlin ließ Cullen lächeln. Evelinde, davon war er überzeugt, war etwas Besonderes und anders als alle anderen Frauen. In einem Augenblick noch plapperte sie so unbefangen wie ein Kind, und im nächsten fuhr sie ihn an wie eine Harpyie, doch wenn er sie dann küsste, schmolz sie dahin wie eine Butterflocke auf einem noch warmen Stück Brot. Sie verkörperte alles, was er sich von einer Gemahlin wünschte – sofern er sich die Zeit genommen hätte, diese Dinge im Geiste aufzulisten, ehe er sie geheiratet hatte. Als er sich damals zu der Ehe bereit erklärt hatte, war seine einzige Hoffnung gewesen, eine Frau zu bekommen, mit der es sich leben ließ, doch Evelinde war weit mehr als das. Sie war eine Frau, die er lieben konnte – und die er tatsächlich liebte.

Cullen wünschte allerdings, er wäre damit Evelinde gegenüber nicht so herausgeplatzt. Das war heute Morgen einfach so passiert, und Evelindes Erwiderung war alles andere als schmeichelhaft gewesen. Sie hatte die Augen aufgerissen, den Mund geöffnet und ihn angestarrt, als wären ihm plötzlich Hörner aus dem Schädel gewachsen. Cullen hatte sie vor allem deshalb geküsst, weil er befürchtet hatte, sie könne etwas sagen, was er nicht hören wolle – wenngleich er wusste, dass er sich dem, was sie dazu zu sagen hatte, letztlich nicht entziehen konnte. Er war nicht so töricht, sich der Hoffnung hinzugeben, dass diese Frau ihn genauso lieben könnte wie er sie. Schließlich hatte sie oft genug betont, dass sie ihn kaum kenne, da er ja so gut wie nie mit ihr spreche. Daran, dachte er bei sich, würde er etwas ändern müssen.

Zunächst musste er allerdings klären, wer da versuchte, sie umzubringen, und was Evelinde ihm heute Morgen eröffnet hatte, ließ seinen Verdacht auf Biddy fallen. Er erhob sich langsam und dachte nach. Seine Tante selbst zu fragen, würde ihn wohl kaum weiterbringen, doch ein Gespräch mit Lady Comyn mochte Licht auf die Angelegenheit werfen. Seit dem Tod seiner Mutter war sie nicht mehr allzu häufig nach Donnachaidh gekommen, hatte sie jedoch einige Male besucht, während Jenny hier gewesen war, und mochte dabei die eine oder andere Sache erfahren haben.

Er könnte auch Biddys Kammer durchsuchen, ging ihm auf, um zu sehen, ob es dort irgendetwas gab, das ihm helfen würde, das Rätsel zu lösen. Obwohl er sich nicht vorstellen konnte, was er da finden sollte. Doch Biddy war gerade nicht dort, und es konnte nicht schaden, sich einmal umzuschauen … wenngleich er zuvor noch seiner Frau ihren lieblichen Hals umdrehen musste, dachte er, während er Evelinde plötzlich an der offenen Tür des Wohngemachs vorbeischleichen sah.

Evelinde war so sehr darum bemüht, möglichst geräuschlos zu gehen, dass sie – wie schon Biddy vor ihr – das Wohngemach, in dem Cullen stand, keines Blickes würdigte. Gesehen hätte sie, wenn sie denn hineingeschaut hätte, einen sehr zornigen Laird. Er hatte ihr eingebläut, dass sie ohne Wachen nirgendwo hinzugehen habe, und dennoch schlich sie hier draußen herum.

Lautlos trat Cullen noch näher zur Tür, um zu sehen, wohin sie ging. Er hob die Brauen, als sie vor Biddys Tür kurz zögerte und dann leise hindurchschlüpfte. Es schien so, als sei er nicht der Einzige gewesen, dem der Gedanke gekommen war, die Kammer seiner Tante zu durchsuchen. Kein Wunder, dass er seine Gemahlin so sehr mochte, dachte Cullen. Sie beide schienen sehr ähnlich zu denken.

Kopfschüttelnd überlegte er, was er nun tun sollte. Vielleicht wäre es besser, Evelinde zunächst allein suchen zu lassen; wenn es etwas zu finden gab, würde es ihren scharfen Augen sicherlich nicht entgehen. Andererseits brachte sie sich dadurch, dass sie alleine herumschlich, in Gefahr – sie wusste schließlich, dass jemand es auf ihr Leben abgesehen hatte. Wenn sie schon nicht um sich selbst besorgt war, konnte sie wenigstens auf seine Gefühle Rücksicht nehmen, dachte Cullen wütend. Er liebte diese Frau und hatte kein Verlangen danach, das Leben künftig ohne sie zu verbringen. Was seltsam war, befand er, denn bis vor Kurzem hätte er sich ein Leben mit einer solchen Frau nicht vorstellen können, und bevor er sie getroffen hatte, war ihm sein Leben durchaus zufriedenstellend vorgekommen und nicht etwa von Angst und Schrecken geprägt oder einsam, sondern … nun, zufriedenstellend. Jetzt aber wusste er, dass sein Leben ohne Evelinde sehr viel düsterer und unglücklicher wäre. Also verließ er das Wohngemach in der Absicht, Evelinde zu folgen und sie hoffentlich zu Tode zu erschrecken, indem er ebenfalls Biddys Kammer betrat. Er hätte ein schlechtes Gewissen dabei gehabt, wenn er nicht überzeugt davon gewesen wäre, dass sie es verdiente.

Gerade war Cullen wenige Schritte in die obere Halle getreten, da ließ ihn ein Geräusch aus Richtung Treppe innehalten und herumfahren. Er erstarrte kurz, als er sah, wie Biddy auf dem Treppenabsatz erschien und auf ihn zustrebte – offenbar auf dem Weg in ihre Kammer.

 

Als sie sicher in Biddys Gemach angelangt war, lehnte sich Evelinde mit einem erleichterten Seufzer an die Wand. Dieses heimliche Herumschleichen machte einen ganz fahrig, fand sie.

Sie verzog das Gesicht und sah sich in der Kammer um, wobei ihr Blick gehetzt zur Tür glitt, als sie draußen in der Halle Stimmen zu hören meinte. Das mussten Gillie und Rory sein, vielleicht auch Tavis und Fergus oder zwei andere Männer, die hinaufgeschickt worden waren, um sie zu bewachen. Dann erkannte sie missmutig, dass sie sich selbst in die Falle hatte laufen lassen, denn solange die Männer in der Halle standen, gab es für Evelinde keine Möglichkeit, den Raum unbemerkt zu verlassen. Das ließ sie innehalten. Warum hatte sie das nicht bedacht, als ihr diese ach so brillante Idee gekommen war?

Seufzend ließ sie ihren Blick erneut durch das Gemach wandern. Was die Wachen anging, konnte sie im Moment nicht viel tun, denn sie war nun einmal hier und konnte sich daher genauso gut umsehen. Wenn sie dabei zufällig auf etwas stoßen sollte, das tatsächlich Licht auf die vergangenen und gegenwärtigen Ereignisse warf, dann würde es sie nicht kümmern, ob irgendwer sie aus Biddys Kammer kommen sah und erfuhr, dass sie diese durchsucht hatte.

Das war im Augenblick Evelindes größte Hoffnung. Sie war entschlossen, die Angelegenheit zu klären. Bislang hatte sie immer Glück gehabt und die Anschläge mehr oder weniger unbeschadet überstanden, aber Cullen hätte beim Versuch, sie aus dem Feuer zu retten, schwer verwundet oder gar getötet werden können, und in eine solche Lage wollte sie ihren Gemahl keinesfalls noch einmal bringen. Sie liebte ihn. Und er liebte sie.

Sie lächelte zaghaft. Ich liebe Euch, hatte er gesagt. Im gleichen Tonfall hätte er ihr sagen können, dass ihm ihr Haar gefiel. Es war typisch für ihren Gemahl, dies so kundzutun, als sage er ihr, dass es Mittag oder Abend sei. Ein Minnesänger war er wahrlich nicht, aber damit konnte Evelinde leben. Selbst mit seiner quälenden Weigerung zu sprechen konnte sie leben. Nur ohne ihn selbst konnte sie sich ihr Leben nicht mehr vorstellen. Seine stille Stärke und Fürsorge, hatte sie erkannt, war etwas, das sie brauchte.

Auch hatte sie kein Verlangen danach zu sterben, ehe sie ihre Liebe nicht noch ein Weilchen ausgekostet … und ihrem Gemahl vielleicht ein oder zwei Kinder geschenkt hatte. Die Vorstellung, einen kleinen Cullen zu haben, gefiel ihr. Wie viel Freude es ihr bereiten würde, den Jungen zu einem so stattlichen Mann heranwachsen zu sehen, wie sein Vater es war. Blieb nur zu hoffen, dass der Einfluss der Mutter ihn ein wenig gesprächiger machen würde, dachte Evelinde belustigt und wandte ihre Aufmerksamkeit dann wieder der Kammer zu.

Was hatte Maggie entdeckt? Das fragte sie sich, während sie den Raum durchstöberte. Das Gemach war viel kleiner als das, welches sie und Cullen sich teilten. Zudem war es nur spärlich eingerichtet. An der Wand, die der Tür gegenüberlag, stand ein Bett, und daneben befand sich ein kleiner Tisch mit einer halb abgebrannten Kerze in einem eisernen Halter. Am Fuße des Betts standen entlang der Mauer drei große Truhen, und an einer von ihnen lehnten ein Bogen und ein Köcher mit Pfeilen.

Evelinde machte einen Schritt in den Raum hinein, um bei ihrer Suche mit den Truhen zu beginnen, doch aus einem vagen Gefühl heraus stockte sie und wandte sich stattdessen dem Bett zu, um davor niederzuknien und unter das Gestell zu schauen. Obwohl sie insgeheim schon erwartet hatte, etwas zu finden, überraschte es sie dennoch, tatsächlich etwas im Schatten des Betts zu erspähen. Sie griff danach, zog ein ledernes Behältnis hervor und stellte stirnrunzelnd fest, dass es sich um einen weiteren Köcher mit Pfeilen handelte. Evelinde wollte ihn schon zurückschieben, als ihr Blick auf die Befiederung an den Schäften fiel. Sie hielt inne und zog den ledernen Köcher dann ganz hervor, um ihn eingehender in Augenschein zu nehmen. Die Befiederung an jedem der Pfeile bestand aus abwechselnd weißen und dunklen Federn. So wie an dem Pfeil, den Evelinde vormals in der Truhe ihres Schlafgemachs entdeckt hatte – an dem mit dem getrockneten Blut, rief sie sich ins Gedächtnis und fragte sich einmal mehr, was das wohl zu bedeuten hatte. Es schien eindeutig zu sein, dass der Pfeil in der Truhe ihres Gemahls aus diesem Köcher stammte. Doch warum lag das Geschoss in Cullens Truhe, und warum war Blut daran?

Sie wischte die Frage vorerst beiseite, steckte den Pfeil, den sie begutachtet hatte, zurück in den Köcher und schob diesen zurück unter das Bett. Dann stand sie auf und ging zu dem anderen Köcher hinüber, der an der Truhe lehnte. Schon auf den ersten Blick war ersichtlich, dass die Befiederung dieser Pfeile ausschließlich aus dunklen Federn bestand … wahrscheinlich gemeinhin verwendete Gänsefedern, dachte sie.

Evelinde wusste nicht genau, von welchem Tier die weißen Federn stammten. Sie vermutete, dass es Schwanenfedern waren, doch wurden diese nur selten zur Befiederung von Pfeilen benutzt; überaus selten – zumindest in England. Dass Cullens Tante einen Bogen und Pfeile ihr Eigen nannte, verwunderte Evelinde nicht. Biddy hatte ihr berichtet, dass sie gerne gelegentlich zur Jagd ging, um ihre Kessel zu füllen. Was Evelinde allerdings stutzig machte, war die Tatsache, dass Biddy gleich zwei Köcher mit verschieden befiederten Pfeilen besaß.

Doch auch diese Frage schob sie vorübergehend von sich und wandte ihre Aufmerksamkeit den Truhen zu. Sie kniete vor der ersten nieder, schlug den Deckel auf und stellte fest, dass der Inhalt allein aus Kleidern zu bestehen schien. Flink durchwühlte sie die Kleidungsstücke, wobei sie darauf achtete, diese nicht allzu sehr durcheinanderzubringen und so erkennen zu lassen, dass sie durchstöbert worden waren. Das hielt Evelinde in ihrer Suche zwar etwas auf, doch sie wusste noch nicht mit Gewissheit, ob Biddy sich etwas hatte zuschulden kommen lassen, und sie wollte die Frau nicht unnötig verärgern … zumindest nicht, bis sie sicher war.

Nachdem sie festgestellt hatte, dass sich tatsächlich nur Gewänder in der ersten Kiste befanden, schloss Evelinde den Deckel wieder und erhob sich, um sich die zweite vorzunehmen. Diese enthielt Leinentücher, Kissen und ähnliche Dinge, darüber hinaus aber nichts von Belang. Enttäuscht schloss Evelinde auch diese Truhe und wandte sich dann der letzten zu. Schon als sie den Deckel hob, stieß sie einen leisen Seufzer aus. Der Inhalt dieser Truhe sah bereits auf den ersten Blick vielversprechender aus. Sie enthielt Gegenstände, die offensichtlich einem Mann gehörten – es waren wohl Darachs Habseligkeiten, nahm Evelinde an. Jedoch weit wichtiger war der Stapel Briefe, der ganz unten lag.

Sie nahm die Briefe heraus und entfaltete einen nach dem anderen, wobei sie sich schuldig fühlte, derart in Biddys intimsten Bereich vorzudringen. Zugleich aber war sie fest entschlossen zu erfahren, was sie erfahren konnte. Es waren viele Briefe. Evelinde blätterte sie hastig durch und stieß ziemlich am Ende der Sammlung auf die Korrespondenz zwischen Jenny und Biddy. Erst diese las Evelinde ein wenig genauer, selbst wenn sie auch hier nur die Zeilen überfliegen konnte.

In dem ersten Schreiben ging es lediglich um Jennys anstehenden Besuch auf Donnachaidh. Jenny zeigte sich voller Vorfreude auf ein Wiedersehen mit ihrer älteren Schwester. Es schien, als sei Jenny zuvor noch nie auf Donnachaidh gewesen und als habe Biddy MacFarlane, ihr Elternhaus, nur selten und in großen Abständen besucht. Biddy wie auch Jenny schienen erfreut darüber, sich wiederzusehen.

Der zweite Brief ähnelte dem ersten vom Inhalt her und war so kurz vor der Abreise verfasst worden, dass Jennys freudige Erregung dem Leser förmlich entgegensprang.

Der letzte Brief allerdings sorgte mit seinem Inhalt dafür, dass Evelinde sich zurücklehnte und die Worte aufmerksam las, anstatt sie nur zu überfliegen. Es war das letzte Schreiben, das Jenny verfasst hatte, und der Tonfall war gänzlich anders als der der vorangegangenen Briefe. Die Jenny, die diese Zeilen verfasst hatte, war entkräftet und unglücklich gewesen. Und in dem vorliegenden Schriftstück teilte sie Biddy mit, dass sie sich das Leben nehmen werde und warum.

Als Evelinde das Schreiben schließlich zusammenfaltete, atmete sie hörbar durch. Die Worte waren erschütternd und traurig, und aus ihnen sprach ein solches Maß an Verrat und Hoffnungslosigkeit, dass ihr beim Lesen Tränen in die Augen getreten waren. Nachdem sie den Deckel der Truhe geschlossen hatte, kam Evelinde erschöpft auf die Beine und schob den Brief in ihre Rocktasche. Sie musste mit Biddy sprechen, und dieses Mal würde sie keine ausweichenden Antworten dulden.