Kapitel 15

Die einzigen Geständnisse, die Kysen Thesh an diesem Nachmittag entlockte, betrafen hunderte kleiner Verfehlungen, die mit Grabmalereien, Särgen und Statuen für nicht registrierte Kunden zu tun hatten. Zu seiner Überraschung brachen aus Thesh, nachdem er einmal angefangen hatte zu gestehen, weitere Verfehlungen hervor wie Wasser aus einem gebrochenen Deich. Unglücklicherweise fürchtete der Schreiber den Zorn des Wesiers mehr als Kysen erwartet hatte. Als er damit drohte, die Händel der Dorfbewohner zu enthüllen, wenn Thesh den Mord nicht gestand, brach der arme Schreiber in Tränen aus, schwieg aber weiterhin standhaft, und Kysen lockerte den Druck etwas, bevor Thesh in Ohnmacht fiel.

Hier war er also, saß auf seinem Schemel auf dem Dach von Theshs Haus und hielt die ganze Nacht über Wache. Er wollte seine neuen Eindrücke, die er von den Dorfbewohnern gesammelt hatte, erhärten und hoffte, weitere gesetzeswidrige Aktivitäten auskundschaften zu können. Er hatte Thesh immer noch in Verdacht – und das würde so bleiben, bis er bewiesen hatte, wer den Mord begangen hatte – aber der Blickwinkel, von dem aus er die Situation betrachtete, hatte sich verändert, nachdem er das Gespräch mit Useramun belauscht hatte.

Er legte seinen Kopf auf die Mauer und schloß einen Moment lang die Augen. Er hatte Wache gehalten, seit das Dorf sich zur Ruhe begeben hatte. Keiner rührte sich, und er war es müde, die nackten Wände zu betrachten und dem Geschrei der Dorfkatzen zu lauschen. Er hörte ein Knarren und hob den Kopf. Unten verließ jemand den Schutz eines Hauseinganges und schlüpfte um das Haus – Useramuns Haus – herum und lief auf die seitliche Treppe zu. Dieser Gang, dieses geschmeidige Dahingleiten. Es war der Maler.

Useramun kletterte über die Treppe nach oben zum Dach und ging dort zum rückwärtigen Teil des Hauses, das genau neben der Dorfmauer stand. Kysen strengte seine Augen an, um zu erkennen, was der Mann tat, aber das Mondlicht half ihm nur wenig dabei. Dann bemerkte er, daß sich jemand bewegte.

Useramun verschwand über die Mauer. Kysen setzte schnell und geräuschlos zum Sprung an. Innerhalb von Sekunden war er auf Useramuns Dach und kroch auf die Dorfmauer zu. Er erreichte sie, blickte vorsichtig darüber hinweg und erspähte eine Leiter. Am Fuße der Leiter stolperte Useramun in die Dunkelheit hinaus, er folgte einem in der Ferne verschwindenden Licht – einer Fackel. Kysen zählte bis zwanzig, dann kletterte er die Leiter hinunter und verfolgte den Maler weiter.

Den Maler gleichzeitig im Auge zu behalten und doch genug Abstand zu ihm zu halten, damit er ihn nicht hörte, wenn er über die Steine stolperte, erwies sich als schwierig und schmerzhaft. Er hörte Useramun fluchen, als dieser auf einen scharfkantigen Stein trat. Kysen duckte sich hinter einem Felsblock und wartete, bis sein Opfer sich die Sandale wieder übergestreift hatte. Dann kroch er erneut hinter ihm her. Die Fackel erklomm die Hügel, die das Dorf umgaben und stieg wieder hinab, sie folgte dem Weg, der nach Norden, zum Friedhof der Erhabenen führte.

Kysen war jeder einzelne Schritt zuwider. Geister suchten die westliche Wüste bei Nacht heim. Das wußte jeder. Useramun mußte einen sehr wichtigen Grund haben, um sich weiter vorzuwagen, ebenso wie derjenige, dem er folgte. Kysens Fuß rutschte auf einem losen Stein am Fuße eines Felsens ab. Kieselsteine klapperten, aber Useramun wandte sich nicht um. Kysen wartete trotzdem, und während er wartete, peitschte stöhnend und winselnd ein Windstoß um den Felsen herum.

Der Klang füllte die Leere der Nacht und ließ Kysen erschauern. Zornige Seelen wanderten in den Wüsten umher – verhungernde Dämonen, die Nachfahren derjenigen, deren Familien es versäumt hatten, sie mit Nahrung für das Leben nach dem Tode zu versorgen. Kysen griff nach dem Dolch an seinem Gürtel, obwohl er wußte, daß er ihm nichts nützen würde, wenn ein Geist ihn angriff.

Am besten konzentrierte er sich auf sein Ziel. Useramun hatte den Fuß eines Hügels umrundet. Kysen torkelte hinter ihm her. Als er sich den Abhang entlangtastete, erwartete er, die undeutlichen Umrisse des Rockes, den der Maler trug zu sehen, aber das war nicht der Fall. Er fluchte und überquerte eilig einen Streifen flaches Land, das in einen Weg mündete. Er erklomm einen weiteren Hügel. Als er die Spitze fast erreicht hatte, ließ Kysen sich auf den Bauch fallen und kroch so weit, daß er über den Hügelkamm sehen konnte, ohne selbst entdeckt werden zu können. Kein Useramun. Nach dem nächsten Hügel erspähte er das tanzende Licht der Fackel, das sich auf einen kleinen Felsen zubewegte.

Wahrscheinlich folgte Useramun ihm immer noch.

Kysen rannte den Hügel hinunter hinter dem Licht her. In der Talsohle stieß er auf kleine Hügel und Wälle aus Schutt und Trümmern. Sie befanden sich am Rande der Ruinen eines Tempels aus vergangenen Jahrhunderten, aus der Zeit des Pharao Sesostris. Er ging jetzt schneller, denn er konnte das Licht im darauffolgenden Tal nicht mehr sehen, auch Useramun war verschwunden. Er verbarg sich hinter einer zerbrochenen Kalksteinmauer, verlangsamte seinen Schritt, wandte sich um und zog seinen Dolch.

Gegen den Fuß der Mauer lehnte etwas Weißes. Kysen steckte seinen Dolch wieder in sein Futteral und kniete neben Useramun nieder. Der Maler lag reglos da, sein Kopf hing zur Seite, seine Beine waren ausgestreckt. Kysen konnte etwas Dunkles, Feuchtes auf seinem Kopf erkennen. Er nahm den kupferartigen, bitteren Geruch von Blut wahr und lehnte sich über Useramun. Am Hinterkopf des Malers war eine klaffende Wunde zu sehen. Daneben lag ein Felsbrocken, der mit noch mehr Blut besudelt war.

Kysen fluchte und bewegte den Körper des Malers, bis er auf dem Rücken lag, dann beugte er sich über ihn, um zu fühlen, ob an seinem Hals immer noch der Schlag des Lebens zu spüren war. Useramun stöhnte und öffnete die Augen. Seine Arme fuhren in die Höhe und er schlug wild auf Kysen ein, der auch den Arm hob, um sich zu schützen.

»Verdammt, seid still.«

»Seth?«

»Könnt Ihr gehen?«

»Ich weiß nicht. Sie haben geglaubt, ich sei tot.«

Kysen stand auf und zog den Maler in die Höhe. Useramun protestierte mit einem Wimmern, blieb aber stehen.

»Hört mir zu«, sagte Kysen, während er den Maler stützte. »Sucht Euch ein Versteck. Ich werde weitergehen, aber ich komme zurück, um Euch zu helfen.«

»Ihr wißt Bescheid? Seid vorsichtig. Sie sind nicht mehr weit gegangen, zu Hormins Grab.«

»Götter, Ihr seid ein Narr, sie allein zu verfolgen.«

»Und Ihr?«

»Haltet den Mund und verbergt Euch, Maler.«

Useramuns Zähne blitzten im Mondlicht. Er zog eine Grimasse, als er sich auf ein V-förmiges, ausgetrocknetes Flußbett zubewegte. Er schwankte und wäre zu Boden gefallen, wenn Kysen ihn nicht aufgefangen hätte. Kysen legte den Arm des Malers über seine Schulter und stützte ihn, während sie sich auf den Unterschlupf zubewegten. Useramun klammerte sich an ihn, und Kysen fluchte erneut.

»Wenn ich nicht über und über mit Eurem Blut bedeckt wäre, würde ich glauben, daß Ihr dies hier veranstaltet habt, um mich dazu zu bringen, Euch zu berühren.«

Useramun lachte, dann keuchte er. Kysen legte ihn auf den Boden, so daß er genau in der Einbuchtung kauerte. Er zerriß den Rock des Malers und preßte ein Stück Leinen auf die Wunde.

»Preßt dies fest auf die Wunde und rührt Euch nicht.«

Er verließ Useramun, der seinen Kopf hielt und darum bat, nicht zurückgelassen zu werden. Er wagte es zu laufen, um wieder aufzuholen, aber er hätte sich keine Sorgen zu machen brauchen. Er konnte die Fackel immer noch sehen. Sie hatte beinahe den kleinen Felsen erreicht und hatte angehalten zu dem Zeitpunkt, da Kysen hinter einen umgestürzten Felsblock schlüpfte, der ein paar Meter von der kahlen Oberfläche des Kalkgesteins entfernt lag.

In den Felsen war ein Grabeingang eingelassen worden, eine rechteckige Öffnung, die grob herausgehauen worden war und nun darauf wartete, von den Steinmetzen bearbeitet zu werden. Die Fackel war in einen Haufen Schutt gesteckt worden und daneben stand mit im Wüstenwind wehenden Gewand Beltis. Er beobachtete, wie die Konkubine sich vorbeugte und eine Tasche aufhob, die ihr zu Füßen lag, bevor sie den schmalen Grabschacht betrat. Undeutlich schimmerte Licht aus dem Eingang, was bedeutete, daß im Inneren Lampen angezündet worden waren.

Kysen beglückwünschte sich zu seiner Vorsicht, kroch geschmeidig hinter dem Felsen hervor und schlich zu dem Grabeingang hinüber. Grobe Stufen waren in den Felsabhang gehauen worden. Er schlüpfte hinein. Mit dem Rücken zur Wand schob er sich ein paar Stufen hinunter, dann hielt er inne, als er Beltis’ Stimme hörte.

»Es war Dummheit, unseren Weg mit der Fackel zu beleuchten.«

Ein Mann antwortete ihr mit leicht hysterischer Stimme, die vom Echo der Grabwände verzerrt wurde.

»Ich sage dir, ich riskiere kein Zusammentreffen mit Dämonen«, sagte der Mann. »Nicht schon wieder. Nicht nach dem, was wir getan haben. Ich habe genug gelitten.«

Immer noch streitend wurden die Stimmen langsam leiser. Kysen bewegte sich vorsichtig die Treppe hinunter, vorbei an einem Stapel mit Fackeln, die von den Totengräbern zurückgelassen worden waren, bis die Treppe in einen steil hinabführenden Weg mündete. Er hielt erneut im Schatten an, als der Schacht sich zu einer Vorkammer erweiterte, einem rechteckigen Raum, der mit der Grabkammer durch einen frisch gehauenen Eingang verbunden war. Schutt von den Grabungsarbeiten lag in hastig aufgetürmten Haufen zu beiden Seiten der Öffnung.

Aus der Grabkammer konnte er kratzende und raspelnde Geräusche vernehmen, als ob jemand schwer arbeitete, um die nächste Kammer auszuheben. Als der Lärm begann, hörten Beltis und ihr Komplize auf, zu streiten. Stille breitete sich aus, und Kysen mußte sich anstrengen, um überhaupt irgend etwas zu hören. Zu seiner Überraschung wurde das Licht in der Grabkammer schwächer. Er wartete ab, konnte aber nichts mehr hören.

Er wollte gerade nachsehen, als weitere kratzende Geräusche aus der Kammer widerhallten und das Licht wieder heller wurde. Als nächstes hörte er ein Klappern und stärkeres Kratzen, das auf ihn zukam. Er schoß auf den Ausgang zu, kletterte die Stiegen hinauf und eilte ins Freie. Er rannte zu seinem Felsblock, duckte sich dahinter und spähte über seinen Rand, gerade rechtzeitig, um Beltis aus dem Grabeingang treten zu sehen. Hinter sich her zog sie einen Sack, der aussah, als ob sie ihn mit Steinen gefüllt hätte.

Hinter ihr trat ein Mann heraus, dessen Arme mit einigen übereinandergestapelten Kästen beladen waren, so daß sein Gesicht verborgen war. Er setzte sie im Lichtkegel der Fackel ab, aber er war zu groß, und seine Schultern und sein Kopf waren im Schatten. Kysen verfluchte den Mann im Stillen dafür, daß er ihm keinen klaren Blick gewährte. Er richtete sein Interesse wieder auf die Kästen und sah Alabaster, Blattgold und Ebenholz. Kein Ägypter konnte diesen Anblick mißdeuten.

Der Mann nahm die Kästen wieder auf, während Beltis voranging, sie ergriff die Fackel und zog den Sack hinter sich her. Wieder blieb der Mann dem Lichtkegel fern. Sie traten auf dem gleichen Weg den Rückzug an, auf dem sie gekommen waren, und wandten sich in Richtung Dorf.

Kysen beobachtete, wie sie davongingen. So beladen wie sie waren, würde er sie leicht einholen können. Er mußte sich Hormins Grab ansehen. Eigentlich durfte sich nichts darin befinden, das einen Diebstahl wert war. Die Habseligkeiten eines Toten wurden nicht eher in seinem Ewigen Haus plaziert, bis sein Leichnam beigesetzt worden war. Er kehrte zum Eingang zurück und entfachte erneut eine der Fackeln, die Beltis in ein Sandbecken gesteckt hatte. Er eilte den Schacht hinunter und betrat die Grabkammer.

Die Kammer war nicht geschmückt, bald würde sie den Mumiensarg des Mannes beherbergen. Was Kysens Aufmerksamkeit auf sich zog, war der rechteckige Sarkophag, in den der Sarg hineingelegt würde. Normalerweise hätte man erwartet, daß ein Schreiber sich nur einen hölzernen Sarkophag leisten konnte. Hormin besaß einen aus rotem Granit – der auf allen Seiten mit den Bildern der Götter und heiligen Schriften verziert war.

Kysen nahm sich einen Augenblick Zeit, um drei Lampen zu entzünden und untersuchte dann den Sarkophag. Er ließ seine Hand über die kühle, polierte Granitoberfläche gleiten. Seine Finger versenkten sich in den Vertiefungen, die die Umrisse der Figur eines Gottes darstellten. Um den Deckel zu heben, würde man mindestens vier Männer benötigen. Seine Hand fuhr über den gerundeten Deckel, während er um das Behältnis herumging. Er fragte sich, ob die Gegenstände, die Beltis und ihr Begleiter aus der Kammer gestohlen hatten, aus diesem Sarkophag stammten. Während er herumging, rutschte seine Sandale auf dem staubigen Fußboden aus. Er taumelte, blickte hinunter und stellte fest, daß er in weißen Sand am Fuße der Wand hinter dem Sarkophag getreten war.

Steine und Mörtelstücke lagen unter einem Loch in der Wand verstreut. Er hatte gefunden, wonach er suchte. Er erinnerte sich daran, daß Hormin sich vor vielen Tagen entschlossen hatte, sein Grab zu vergrößern, um nur wenige Tage später seine Meinung wieder zu ändern. Jetzt wußte er, warum; das Loch, das groß genug für einen knienden Mann war, hätte in unberührten Fels hineingehauen werden sollen. Statt dessen führte es in eine weitere Höhle.

Kysen griff nach einer der Lampen, kniete vor dem Loch nieder und spähte hinein. Das Licht beschien Metall und erstrahlte hell. Kysen blinzelte und schnappte nach Luft. Er nahm eine Mischung aus abgestandener Luft, Staub und dem schwachen Duft von Holz und Harz in sich auf. Er fuhr zurück, setzte sich auf die Fersen und blickte sich um.

»Osiris steh mir bei.«

Er schauderte, benetzte seine Lippen und faßte sich ein Herz. Er beugte sich nach vorne, um sich auf alle Viere zu stürzten, steckte seinen Kopf wieder in das Loch und streckte die Lampe vor sich her. Der Widerschein von Gold traf ihn – eine Wand aus Gold. Nein, es handelte sich um die Wand eines großen, vergoldeten Schreins von altertümlichem Aussehen, der verwendet wurde, um die Särge von Königen in sich aufzunehmen.

Kysen schluckte und lehnte sich hinaus. Das Loch führte in ein altes Grab. Der Boden der Kammer lag einige Fuß unterhalb und Kysen zog sich nach oben, um vor dem Schrein zum Stehen zu kommen. Um die Kammer herum lagen Stapel von Kästen, die Nahrung und Kleidung enthielten. Er bemerkte einen auseinandergenommenen Lenkwagen. Daneben stand ein Bett, dessen Löwenkopfverzierungen ihm Gesichter schnitten. Er sah Stapel von Waffen – Speere, Lanzen, Bögen, Pfeile. Das Grab eines Mannes. Sein Blick kehrte zu dem Schrein zurück.

Das Siegel des Schreins war erbrochen, und seine Türen standen halb offen. Kysen hielt die Lampe in die Höhe und trat näher. Im Inneren lag der hölzerne Sarkophag, der über und über mit Blattgold verziert war. Verbogener und zerbrochener Abfall lag auf dem Boden. Der Grabdeckel lag schräg darüber und gab den Blick auf ineinander verschachtelte Särge frei, deren Deckel entfernt worden waren.

Kysen zögerte an der Schwelle des Schreins und blickte über den oberen Rand des Sarkophags. Er sog den Atem ein, als sein Blick sich auf die zerrissenen Girlanden und ein geschwärztes Leichentuch heftete. Unter dem zerrissenen Leichentuch erspähte er im Inneren der drei Särge einen Arm. Einen bandagierten Arm, der aus seiner über der Brust gekreuzten Position gerissen worden und mit erstarrter Salbe überzogen war.

Sein Atem ging nun flach und schnell, und als sein Blick das Ende des Armes traf, wich er zurück, denn die Hand war teilweise vom Gelenk abgerissen worden. Er wußte, warum. Bei einer Bestattung mit solchen Reichtümern wurden die kostbarsten und kleinsten Objekte auf den Körper selbst gelegt – Ringe, Armbänder, Halsbänder und Amulette. Kysen schüttelte seinen Kopf, sein Magen drehte sich um beim Anblick des geschändeten Leichnams.

Als er voller Schrecken von dem Schrein zurücktrat, spürte er hinter sich einen Luftzug. Er wandte sich um, aber nicht rechtzeitig genug. Schmerz durchzuckte seinen Schädel. Einen Augenblick lang hatte er das Gefühl, im Nebel zu versinken. Er fiel auf die Knie und kämpfte darum, bei Bewußtsein zu bleiben. Sein letzter Blick fiel auf den goldenen Sarkophag, als er ihm zu Füßen niedersank.

Meren stand drohend vor den auf dem Boden seines Arbeitszimmers kauernden Menschen.

»Mögen die Götter Eure Namen verfluchen«, rief er. »Wie weit glaubtet Ihr in einem Boot zu kommen?«

Er hörte Selkets Gebrabbel einen Augenblick lang zu, dann gab er Abu ein Zeichen, die Peitsche zu holen. Meren verlor die Geduld, und Imsety hatte außer der Bitte um Gnade noch keine Aussage gemacht. Abu kehrte mit einer Wagenlenkerpeitsche zurück und reichte sie Meren.

Meren ließ die Peitschenschnur auf den Boden rollen und tat einen ersten Hieb. Das Leder entwand sich und berührte Selket beinahe. Die Luft vibrierte.

Selket schrie. »Nein!« Sie wandte sich an ihren Sohn. »Das ist deine Schuld. Wenn du nicht mit diesem Halsband geschnappt worden wärest – «

»Aber Djaper sagte, daß dieses Halsband die Antwort auf alles sei«, wimmerte Imsety.

Meren wurde still und fragte scharf: »Warum?«

Imsety duckte sich, starrte den Boden an und antwortete:»Ich weiß nicht, Herr. Wegen seines Wertes? Bitte, ich flehe Euch an, glaubt mir.«

»Waren das seine genauen Worte? Er sagte, daß das Halsband die Antwort sei?«

Imsety nickte und stöhnte.

»Seid still.«

Meren ging zu seinem Arbeitstisch, wo er das Einbalsamierungsmesser, das Amulett, die leere Qeres-Phiole und das Halsband hingelegt hatte.

Er sah zu seinen Gefangenen hinüber, die immer noch vor sich hin wimmerten. »Werft sie in den Kerker.«

Abu führte Imsety und Selket hinaus. Meren nahm das Halsband in die Hand und ließ die Perlenreihen durch seine Finger gleiten.

Roter Jaspis, Gold, Lapislazuli – eine kostbare Beute. Nun, da er Imsety und seine Mutter gefunden hatte, konnte er sich die Zeit nehmen, den königlichen Juwelier damit zu beauftragen, es zu untersuchen. Die Perlenschnüre wechselten sich in roten, goldenen und blauen Reihen ab und formten ein Halsband, das hinten geschlossen werden konnte. Von dem fehlenden Endstück würde ein Gegengewicht herabhängen, welches das Halsband im Gleichgewicht und an seinem Platz hielt.

Djapers Äußerung hatte sich nicht nur auf die Kostbarkeit des Halsbandes bezogen. Er hatte Imsety gesagt, daß es die Antwort sei. Die Antwort. Doch Beltis hatte behauptet, daß das Halsband ihr gehörte.

Natürlich hatte die Frau gelogen, als sie angab, nicht aufgewacht zu sein, als Hormin sie verließ. Imsety hatte ausgeplaudert, daß sie sich von ihrem Herrn in dieser Nacht verabschiedet hatte. Zweifellos wußte Beltis auch, wohin Hormin in der Nacht, in der er starb, gegangen war. Und sie war in die Nekropole geflüchtet. Sowohl sie selbst als auch Hormin waren an seinem Todestag im Dorf gewesen. Sie hatten sein Grab besucht.

Meren ließ sich in seinen Stuhl fallen, das Halsband hielt er in der Hand. Sein Blick wanderte vom Halsband zu dem Salbenkrug. Qeres, die seltene Salbe, die so wertvoll war, daß heutzutage nur noch der König und die Königin etwas davon besaßen. Früher war Qeres die hochgeschätzte Salbe der Prinzen und Edelleute gewesen. Ein Luxus, in dem vergangene Generationen schwelgten.

Seine Faust ballte sich um das Halsband und drückte zu. Vergangene Generationen. Vor langer Zeit hätte ein Prinz Qeres zu Lebzeiten benutzt – und man hätte die Salbe zu seinem Wohlgefallen im nächsten Leben in sein Ewiges Haus gelegt. Und dann das Amulett. Nebi hatte gesagt, daß dieses Amulett dazu bestimmt war, auf einen Leichnam gelegt zu werden, den Leichnam eines wohlhabenen Mannes, als Grabbeigabe. Dieses Herzamulett gehörte in ein Grab; zweifellos war in einem alten Grab auch viel von der Qeres-Salbe zu finden.

Etwas stach ihm in die Hand. Meren blickte hinab und bemerkte, daß er das Halsband fest um die Hand gewickelt hatte. Seine farbigen Ringe waren durch Zwischenperlen versteift. Djaper hatte Imsety gesagt, daß das Halsband beschädigt war und repariert werden mußte – die Verschlußstücke fehlten – aber die Goldstreben an den nicht verschlossenen Enden zeigten keinerlei Kratzer, wie man es erwarten konnte, wenn ein Falkenkopf oder ein Lotusverschluß ehemals daran befestigt gewesen wäre. Die Oberfläche der Stäbchen war glatt, unberührt, als ob ein Verschluß niemals vorgesehen gewesen wäre.

Etwas beschäftigte ihn. Eine Erinnerung. Als er sich mit Nebi unterhalten hatte, war der Juwelier sicher gewesen, daß das Amulett für einen Leichnam bestimmt gewesen war. Er hatte es an der Art und Weise erkannt, wie es vollendet worden war. Auch das Halsband war auf eigenartige Weise gefertigt. Es war nicht wirklich kaputt. Vielleicht hatte es niemals Endstücke oder ein Gegengewicht besessen. Wenn das der Fall war, dann konnte es niemals getragen werden. Und genausowenig war das Herzamulett dafür gedacht – es sei denn, sowohl das Halsband als auch das Amulett waren für jemanden bestimmt gewesen, der nicht den vollständigen Schmuck benötigte.

Der einzige Mensch, der keinen vollständigen Schmuck benötigte, war ein Toter – ein Juwelier fertigt nur dann unvollständige Schmuckstücke, wenn sie als Grabbeigaben gedacht sind.

Meren erhob sich aus seinem Stuhl, das Halsband baumelte an seinen Fingern. Er starrte mit leerem Blick auf das Einbalsamierungsmesser aus Obsidian. Und was war mit dem Ort, an dem Hormin getötet worden war? War es nicht der Ort der Toten gewesen? Grabschänderei. Welcher Ort war idealer, um mit seinen Komplizen einen Grabraub zu planen, als die Balsamierwerkstätten bei Nacht? Wenn Beltis von der Plünderung gewußt hätte, und in der Nekropole gewesen war, dann hatte sie Hormin entweder selbst getötet oder wußte, wer es getan hatte.

Meren ließ das Halsband auf seinen Arbeitstisch fallen und zwang sich dazu, langsam zu gehen. Hormin hatte keine Bestechungsgelder angenommen, um seinen Reichtum zu vermehren, ebensowenig hatte er die Einkünfte, die sein Hof abwarf, gespart. Er hatte Gräber ausgeraubt. Ein Sakrileg. Vielleicht das schlimmste aller Verbrechen – die Schändung der Toten. Jemand, der sich solch einer Freveltat schuldig machte, riskierte den Fluch der Götter und die Rache aus dem Grab. Aber Meren hatte die Erfahrung gemacht, daß Habgier die meisten Ängste überwindet.

Doch das Risiko war so groß, daß nur besonders reich ausgestattete Gräber es wert waren. Deshalb war der Einsatz hoch und die Gefahr größer. Die Friedhöfe wurden Tag und Nacht bewacht, und nur selten drangen Räuber ein, zumindest nahm das jedermann an. Doch Hormin hatte einen Weg gefunden, ein Grab auszurauben, wahrscheinlich, während er in der Nekropole gewesen war. Und das hatte ihm den Tod gebracht.

Es war Zeit, sich in die Nekropole zu begeben. Die Sonne würde in ein oder zwei Stunden aufgehen; erst dann war es sicher, den Fluß zu überqueren. Meren griff nach der Kante des Arbeitstisches und schloß die Augen. Kysen schlief in einem Dorf, in dem sich ein Mörder aufhielt, wahrscheinlich sogar mehr als nur ein Mörder.

Es war seine eigene Idee gewesen, ihn dorthin zu schicken. Jetzt bedauerte er diese Entscheidung. Die Grabräuber hatten bereits drei Männer getötet; er war sicher, daß sie vor einem vierten Mord nicht zurückschrecken würden.