Kapitel 10

Meren erwachte, ohne die Augen zu öffnen. Durch seine Augenlider schimmerte noch kein Licht. Es mußte immer noch dunkel sein. Er blieb regungslos liegen, atmete gleichmäßig und wartete. Das Klicken der Ringe, mit denen die Vorhänge die sein Bett umgaben, am Rahmen befestigt waren, hatte ihn sofort geweckt. Er hatte einen leichten Schlaf, denn er war es seit Jahren gewohnt, auch während der Feldzüge gegen die Barbaren Schlaf zu finden oder in dem Bewußtsein zu Bett zu gehen, jeden Augenblick von einem eifersüchtigen Höfling angegriffen werden zu können.

Da war es wieder – dieser hauchzarte Luftzug. Er rollte sich auf die gegenüberliegende Seite des Bettes wie ein Krokodil, das mit seiner Beute kämpft, landete auf allen Vieren und zog blitzschnell einen Dolch unter dem Kissen hervor. Dann schoß er auf die Füße und suchte in der Dunkelheit nach einem Eindringling.

»Gut gemacht«, sagte eine bewundernde, junge Stimme. »Karoya, leg das Schwert weg und zieh dich zurück. Er ist jetzt wach. Du hattest recht, als du mir den Rat gabst, auf der Hut zu sein.«

Meren senkte seinen Dolch und spähte in der Dunkelheit in die Richtung, aus der die Stimme kam. »Eure Majestät?«

Hinter sich hörte er ein Klicken und sah den Docht einer Kerze aufflammen. Die Dunkelheit wich, als der riesige nubische Leibwächter des Königs ihm eine Lampe reichte. Der Leibwächter zog sich zurück, und Meren starrte mit offenem Mund auf den lebenden Gott von Ägypten, der grinsend auf seinem Bett saß. Meren warf den Dolch auf die Tücher, kniete nieder und beugte das Haupt.

»Bitte, könnt Ihr die Etikette nicht außer acht lassen?« fragte Tutenchamun.

»Ich glaube nicht, Euer Majestät.«

»Es ist mein Wunsch.«

Meren hob den Kopf und blickte den König an. Tutenchamun hatte seine wagemutige Haltung verloren, auf seinem Gesicht lag nun wieder der traurige, müde Ausdruck, den Meren mittlerweile so gut kannte. Er hätte klüger sein sollen. Er lächelte den König an, erhob sich und setzte sich auf die Bettkante.

»Wenn Ihr mein Sohn wäret, würde ich Euch dafür verprügeln, daß Ihr Euer Leben auf solch närrische Weise gefährdet habt. Ich hätte Euch töten können.«

Das strahlende Lächeln des Königs belohnte ihn für diese Verletzung der Etikette.

»Ich wurde verflucht damit, die Ernte dieses Jahres für das gesamte Königreich schätzen zu müssen. Ich habe wochenlang endlos mit Zahlen gekämpft.« Tutenchamun seufzte und massierte seine Nasenwurzel mit Daumen und Zeigefinger. »Der Hohepriester des Amun betrügt mich wie eh und je, und erwartet trotzdem, daß ich ihm Obelisken aus Elektrum errichten lasse und ihm unbegrenzten Zugang zu meinen Kornkammern gewähre. Ihr jedoch besaßt die Freiheit, mutmaßliche Mörder zu besuchen und Euch unter Händlern und Kaufleuten auf dem Markt zu bewegen. Als Gegenleistung für diese Freiheit müßt Ihr mir alles über den Mord erzählen, der im Tempel des Anubis geschah.«

Der König unterstrich seine Worte mit einem spielerischen Schlag auf Merens Schulter. Meren grinste zurück, seine Augen suchten beständig Tutenchamuns Gesicht. Die Augen des Königs waren groß, und wenn er sich unbeobachtet fühlte, spiegelten sie seine Gefühle wider wie ein Bronzespiegel das Licht. Er konnte in ihnen nun Spuren eines in Ketten gelegten Löwens oder eines lebenshungrigen Affen, den man in einer Pyramide eingeschlossen hatte erkennen. Ohne zu protestieren erzählte er dem König das, was er bisher herausgefunden hatte. Tutenchamun hörte begierig zu und schüttelte verwundert seinen Kopf.

»Und ich glaubte, daß meine Familie vom Bösen verflucht sei.«

Meren sagte: »Hormin und seine Familie sind nicht wie die meisten von uns, Majestät. Dennoch muß ich noch herausfinden, wer von ihnen verdächtiger ist als die anderen. Die Frau, die Söhne, die Konkubine, die Kollegen – jeder von ihnen hatte Grund, Hormin zu töten. Und dann sind da noch die Grabarbeiter.«

»Der Hohepriester des Anubis hat um eine Audienz gebeten«, sagte der König. »Zweifellos wird er sich darüber beklagen, daß Ihr nicht genug Eifer an den Tag legt, den Mörder zu finden und die Dämonen wieder zu beruhigen, die durch dieses Verbrechen aufgescheucht wurden.«

»Er ist besorgt, Majestät. Solch eine Geschichte hat sich noch nie im Tempel des Anubis zugetragen.«

Der König hielt inne und warf Meren einen Seitenblick zu. »Hm, da ist noch etwas. Es sind – es sind Gerüchte in Umlauf, daß Euer Haus von Beduinen, Hethitern und Banditen heimgesucht wurde.«

»Der Hohepriester des Amun muß davon gehört haben, daß Ihr mich berührt habt.«

Die Schultern des Königs sanken in sich zusammen. »Es tut mir leid. Ich weiß, daß ich vorsichtig sein muß, und ich würde Euch nie in Gefahr bringen, aber manchmal – «

»Er hat auch schon früher Gerüchte verbreitet, Majestät.«

Tutenchamun blickte auf den Säulengang, wo die Dunkelheit vom grauen Licht der Morgendämmerung verdrängt wurde. »Er haßt mich immer noch für das, was mein Bruder getan hat. Echnaton hätte niemals versuchen sollen, Amun und die anderen Götter zu zerstören. Der Hohepriester war nicht sehr angetan davon, in Dunkelheit und Hunger zu leben und zusehen zu müssen, wie man seine Priester ermordete.« Der König erhob sich und rieb sich die Oberarme, als fröstelte er, dann blickte er Meren in die Augen. »Er beginnt einzusehen, daß ich mich nicht wie ein blinder Esel führen lasse. Meren, ich bin sicher, daß er die Ermordung meines Vaters veranlaßt hat.«

Als Meren die Verzweiflung in der Stimme des Königs gewahrte, glitt er vom Bett herunter und stellte sich neben ihn. Er versuchte, seine eigenen Schuldgefühle zu ignorieren und legte den Arm um Tutenchamuns Schultern. Der König schrak auf, sah zu ihm hinauf und überließ sich dann der Umarmung. Echnatons Tod hatte Meren für immer des inneren Friedens beraubt, aber dennoch konnte er Tutenchamuns Qualen lindern.

»Hört mir zu«, sagte Meren. »Jeden Tag, jeden Augenblick, in Dunkelheit oder Licht, ruhen meine Augen auf Euch. Der Diener, der Euren Nachttopf leert, der Junge, der Euch den Bogen hält, der Kämmerer, der Eure Gäste ankündigt, die Wachen, die neben Euch stehen, ich kenne sie alle. Wenn ich ihre Loyalität in Frage stellen müßte, wären sie tot.«

Der Kopf des Königs fiel einen Augenblick lang auf seine Schulter. Nach einer Weile straffte sich der Körper des Jungen, und Meren ließ seinen Arm sinken. Der Pyramidenstein der Schuld, der auf seinem Herzen lastete, hob sich. Tutenchamun streckte die Hand aus, und Meren ergriff den Arm des Jungen über dem Handgelenk, ein Krieger, der den anderen anerkennt.

»Mir ist jetzt klargeworden, wie viele Feinde ein Pharao hat«, flüsterte der König. »Es gibt so wenige, denen ich trauen kann. Ich wünschte, mein Bruder wäre nicht gestorben.«

»Majestät.«

Meren konnte nicht verhindern, daß er zusammenzuckte, aber der König hatte ihn weder gesehen noch gehört. Meren sah, daß er sich in alten, traurigen Erinnerungen verloren hatte.

»Majestät.« Diesmal sah der König ihn an. »Seit langer Zeit fühle ich mich, als hätte ich zwei Söhne – Kysen und Euch.«

Unbefangen begegnete er Tutenchamuns suchendem Blick, und schließlich schenkte ihm der König ein aufrichtiges, sorgloses Lächeln. Es verblaßte etwas, als er das aufkommende Tageslicht betrachtete.

»Ich muß gehen«, sagte der König. »Wenn jemand entdeckt, daß ich hier war, schwebt Ihr in noch größerer Gefahr als es ohnehin schon der Fall ist. Aber Ihr müßt bald zu mir kommen, denn ich möchte unbedingt mehr über die Angelegenheit im Tempel des Anubis erfahren. Immerhin ist es meine Aufgabe, die Ordnung im Königreich wiederherzustellen, und ich werde es nicht zulassen, daß irgendein Verbrecher die Harmonie und das Gleichgewicht in Ägypten durch dieses Sakrileg gefährdet.«

Meren nickte ernst und unterdrückte ein Grinsen über den gebieterischen Ton in der Stimme des Königs. So sehr Tutenchamun sich auch nach der Freiheit eines gewöhnlichen Kindes sehnte, verstand er doch so viel von den Regierungsgeschäften, daß er die zahlreichen Schlangen, die sich selbst als sein Gefolge bezeichneten, zu umgehen vermochte. Meren ging dem König voran durch sein Haus und achtete sorgfältig darauf, daß sie keinem Mitglied des Haushaltes, das früher aufgestanden sein mochte, begegneten. An der vorderen Pforte beobachtete er, wie sich Tutenchamun mit Karoya an seiner Seite die Straße in Richtung Palast fortstahl. Der Junge würde mit Leichtigkeit über die Palastmauern klettern können. Meren hatte selber den König ausgebildet und konnte sich wohl kaum beklagen, wenn er diese Fähigkeiten jetzt einsetzte; er konnte nur hoffen, daß der Besuch des Pharao tatsächlich geheim geblieben war.

Er rief seinen Haushofmeister und machte sich schnell bereit, um dem Haus des Hormin einen Besuch abzustatten. Es war Zeit, die Familie heimzusuchen und sie in Angst und Schrecken zu versetzen, und zwar sofort, bevor sie noch richtig wach waren. Er nahm einige Krieger und seinen Gehilfen Abu mit und platzte ins Haus seiner Opfer hinein, als sie gerade speisten. Er traf Imsety und seine Mutter, die an einem kleinen Tisch saßen, der mit Brot und Bier gedeckt war. Diener eilten ihm aus dem Weg, als er sich den beiden näherte. Meren funkelte Selket an.

»Herrin, Eure Söhne sind Diebe und sehr wahrscheinlich auch Mörder.«

Selkets Mund war voll; sie schluckte etwas herunter, dann hustete sie. Imsety blieb ruhig und klopfte seiner Mutter auf den Rücken. Selket griff nach ihrem Becher und nahm mehrere Schlucke. Um Atem ringend schüttelte sie den Kopf.

»Ihr streitet meine Worte ab?« rief Meren. Er kniff die Augen zusammen, so daß sie fast geschlossen zu sein schienen und fixierte sie. »Vielleicht steckt Ihr ja selbst hinter diesem Übel.«

Imsety erhob sich und warf dabei seinen Stuhl um, der zu Boden fiel. »Nein!«

Zwei Leibwächter kamen hinter Meren hervor und zückten ihre Krummsäbel. Imsety streckte seine Arme aus und trat einen Schritt zurück. Auf ein Wort von Meren machten die Leibwächter auf halber Strecke zwischen ihrem Anführer und Imsety halt.

»Bitte, Herr, meine Söhne sind unschuldig.« Selket war auf die Knie gefallen.

Meren blickte sich im Zimmer um, dann schritt er ohne ein weiteres Wort hinaus. Er konnte sich an den Weg zu Djapers Zimmer erinnern, öffnete die Tür und ging hinein. Sofort nahm er den Gestank war. Hinter ihm schnüffelte Abu und fluchte. Meren spürte die Hände seines Assistenten. Er wurde sprichwörtlich aus der Kammer gezerrt. Abu schoß mit gezogener Waffe hinein. Meren betete zu Amun um Geduld, während Abu das Zimmer absuchte, denn es würde ihm nicht erlaubt sein, einzutreten, bis sein Gehilfe nicht davon überzeugt war, daß es keine Bedrohung für ihn darstellte.

»Tretet ein, Herr.«

Durch die hohen Fenster des Zimmers fiel diffuses Licht. Auf der gegenüberliegenden Seite der Tür stand das Bett, und auf dem Bett lag hingestreckt und regungslos – Djaper. Neben dem Bett stand ein Nachttopf, der unter seinem dazugehörigen Stuhl hervorgezogen worden war. Djaper hatte sich dort hinein erbrochen.

Abu stand neben dem Bett. »Er ist schon kalt, Herr.«

»Schickt nach meinem Arzt und nach Verstärkung.«

Meren untersuchte den Leichnam. Er war bereits steif, Djaper mußte also schon seit einigen Stunden, jedoch nicht länger als einen Tag, tot sein. Meren hatte schon vor langer Zeit gelernt, daß der Körper sich dagegen wehrte, wenn das Ka ihn verließ. Es war, als ob er vor Furcht erstarrte. Schließlich erschlafften die Muskeln dann wieder, und Meren hatte sich schon häufig gefragt, ob dies die Ankunft der Seele an ihrem Zufluchtsort anzeigte. Djapers Seele war, wie es schien, noch nicht angekommen. Er war irgendwann während der Nacht gestorben – ganz plötzlich bevor Meren noch mit ihm sprechen konnte.

Meren warf einen Blick auf den widerwärtigen Inhalt des Nachttopfes und bemerkte, daß Djaper seinen Magen entleert hatte. Der Inhalt war bereits erstarrt, woraus er schließen konnte, daß es noch vor Mitternacht geschehen sein mußte. Seine Aufmerksamkeit richtete sich auf den Boden neben dem Bett, wo ein glasierter Becher neben einer kleinen Amphore lag. Er nahm den Becher in die Hand. Er war leergetrunken worden, nur ein paar Tropfen Bier waren noch darin. Meren roch daran und rümpfte die Nase. Kein besonders hochwertiges Bier. Er nahm die Amphore von ihrem Ständer herunter. Dabei streifte das Lehmsiegel, das an einem Faden befestigt war, seine Finger und er nahm den Geruch des Amphoreninhalts wahr. Sie war noch halb voll und enthielt das gleiche saure Bier wie der Becher, doch der bittere Geruch war noch stärker.

Meren tunkte den Finger in das Bier und berührte ihn mit der Zunge. Er zog eine Grimasse und stellte die Amphore weg. Als er wieder aufrecht stand, wurde ihm schwindelig. Dann hatte er das Gefühl, fortzutreiben und schwankte. Er keuchte und atmete tief ein. Dann trat er vom Bett weg und stützte sich, mit einer Handfläche gegen die nächstgelegene Wand. Er wartete und tadelte sich selbst wegen seiner gefährlichen Neugier. Nach und nach kehrte sein Körper in den Normalzustand zurück, nur eine seltsame Lethargie, verbunden mit einem Hochgefühl, blieb.

Meren verschränkte die Arme über der Brust, sammelte sich und blickte im Zimmer umher. Seit er das letzte Mal hier gewesen war, hatte sich wenig verändert. Als er sich besser fühlte, entfachte er den Docht einer Lampe und wandte seinen Blick dem Bett, den Regalen mit den Papyrus und den Truhen zu. Er öffnete die Truhen und fand Kleidung, Toilettenartikel und Juwelen darin. Und dort war auch Djapers Schreibzeug, aber er konnte nichts finden, was darauf hindeutete, daß der Tote irgend etwas geschrieben hatte.

Nachdem er die Kammer durchsucht hatte, kehrte Meren in das Zimmer zurück, wo Imsety und Selket festgehalten wurden. Er nahm auf dem Stuhl des Hausherrn Platz und betrachtete sie schweigend. Imsety war in seinen üblichen Zustand des Schweigens zurückgefallen. Seine Mutter jedoch biß sich auf die Lippen in dem offensichtlichen Versuch, ihre Beunruhigung und Neugier im Zaum zu halten. Sie rang unaufhörlich ihre braunen Hände.

»Herrin, beschreibt mir die Ereignisse des gestrigen Tages und des gestrigen Abends.«

»Mein Sohn, er bat darum, daß man ihn allein lasse und er ist immer noch auf seinem Zimmer.«

Meren antwortete nicht, und da ihr keine Wahl blieb, fuhr sie fort. »Gestern war ein Tag wie jeder andere. Ich mußte den Haushalt führen, die Mahlzeiten überwachen, ebenso wie das Weben und Flicken, das Backen des Brotes, das Bereiten der Salben, das Putzen. Beltis, diese Schlampe, war keine Hilfe, wie immer.« Selket hielt inne. Ihr Blick wanderte weg von Meren. »Die Konkubine stritt sich mit Djaper.«

»Erklärt mir das.«

»Sie kam in sein Zimmer.« Selkets braunes Gesicht wurde rot vor Zorn. »Sie kam gestern morgen in sein Zimmer, diese Hure. Er hat sie zurückgewiesen, und sie hat ihn angeschrien und versucht, ihm die Augen auszukratzen. Dann warf sie ihm einen Krug an den Kopf. Imsety und ich kamen herbei, um zu sehen, was passiert war. Der arme Djaper lag auf dem Boden und hielt sich den Kopf, also schnappte Imsety sich Beltis und warf sie aus dem Zimmer. Sie floh auf ihr eigenes Zimmer, und später packte sie ihre Siebensachen und verdrückte sich in die Nekropole. Der arme Djaper hatte den ganzen restlichen Tag Kopfschmerzen.«

Meren fragte Imsety in scharfem Ton: »Worum ging es bei dem Streit?«

Imsety zuckte die Achseln. »Sie hatte das mit dem Halsband herausgefunden. Sie wollte es haben.«

»Beredt wie immer, Imsety. Wie hatte sie es herausgefunden?«

»Sie kletterte die Palme vor Djapers Fenster hinauf und beobachtete uns, als er mir sagte, daß ich es am Markt reparieren lassen sollte.«

»Ein Satz mit über fünf Worten«, sagte Meren. »Ihr erstaunt mich. Also strittet Ihr über das Halsband. Dann hatte sie offensichtlich entdeckt, daß Ihr und Euer Bruder es aus dem Arbeitsraum Eures Vaters entwendet hattet.«

»Sie wollte das Halsband haben«, sagte Imsety zögernd. »Sie sagte, daß er es ihr gegeben habe, bevor er sie zum letzten Mal aus der Nekropole holte.«

»Und sprach sie die Wahrheit?«

Imsety warf seiner Mutter einen Blick zu. Ihre Gesichtsfarbe hatte sich wieder normalisiert. Sie nickte steif.

»Ja, Herr.« sagte Imsety. »Als sie nach Hause kam, hielt sie es zwischen den Fingern, und sie war wütend, als Hormin es ihr wieder fortnahm, um es in seinem Arbeitszimmer aufzubewahren.«

»Und danach?« fragte Meren.

Selket meldete sich erneut zu Wort. »Djaper ging wieder in die Amtsräume des Amtes für Aufzeichnungen und Tributzahlungen, während Imsety – «

»Ich weiß, was Imsety getan hat«, sagte Meren.

»Und an diesem Abend kam Djaper nach Hause und klagte über Kopfschmerzen«, sagte Selket. »Als er mit Imsety sprach und von Eurem Zorn erfuhr, war er sehr durcheinander. Bei Einbruch der Nacht schmerzte sein Kopf ihn so sehr, daß er darum bat, allein gelassen zu werden und sich zurückzog. Hat er immer noch Kopfschmerzen?«

»Mutter«, sagte Imsety, während er Meren ansah, »Djaper sollte hier sein. Herr, wo ist mein Bruder?«

»Er ist tot.«

Imsety blinzelte ihn verwirrt an und Meren schaute abwechselnd zu ihm und zu seiner Mutter. Imsety blieb ruhig, doch Selket schüttelte den Kopf, wandte sich um und versuchte, aus dem Zimmer zu eilen. Einer der Leibwächter hielt sie auf. Meren blieb sitzen und beobachtete, wie die Frau kämpfte und zu schreien anfing. Ihre Stimme hätte beinahe sein Trommelfell platzen lassen, und als sie zu heulen begann, glaubte Meren, daß diese Neuigkeiten sie tatsächlich überrascht hatten.

Imsety blinzelte immer noch, als Meren ihm seine Aufmerksamkeit wieder zuwandte. Er beobachtete ungläubig, wie eine Träne in Imsetys Augenwinkel sichtbar wurde und seine Nase entlangrollte. Er hörte einen erstickten Ton. Der ungeschlachte Imsety begann zu weinen, er verzog sein Gesicht vor Kummer in Falten und Furchen. Die ganze Zeit über blieb er vor Meren stehen, als ob ihm egal wäre, in wessen Gegenwart er weinte.

Meren stand vor der Wahl. Er konnte glauben, daß Mutter und Sohn im Gegensatz zu erheblich erfahreneren Betrügern die Fähigkeit besaßen, ihn zu täuschen, oder er konnte glauben, daß sie wirklich nicht gewußt hatten, daß Djaper tot war und wahrhaft trauerten. Als er sah, wie Selket auf dem Boden zusammenbrach, sich die Haare raufte und heulte, während ihr Sohn still vor sich hin weinte, ging ihm der Kontrast zwischen ihren heutigen Reaktionen und denen am Morgen nach Hormins Tod auf. Djaper war von ihnen geliebt worden. Hormin nicht.

Hatte die Mutter einen Sohn geopfert, um den anderen vor dem Verdacht zu retten? Sollte er glauben, daß Djaper sich das Leben genommen hatte, weil er den Mord an seinem Vater bereute? Vielleicht hatte er Imsety viel stärker in Furcht versetzt, als er bemerkt hatte und ihn so zu einem weiteren Verbrechen verleitet.

Oder vielleicht hatte Djaper Beltis während ihres Streits erneut mit Verbannung gedroht. Er konnte sich durchaus vorstellen, daß Djaper versuchte, das Testament seines Vaters anzufechten um Beltis für immer aus dem Haus zu werfen. Doch, wenn es sich so zugetragen hatte, glaubte er nicht, daß Beltis das Haus verlassen hatte, ohne Djaper zu schaden. Nicht wenn sie wußte, daß er sowieso nicht mehr lange lebte.

Der Arzt kam außer Atem und schwitzend an. In seinem Schlepptau hatte er seinen Mitarbeiterstab, den er veranlaßte, das Zimmer des toten Mannes sowie das restliche Haus zu durchsuchen. Meren konnte selbst nichts mehr ausrichten, also kehrte er nach Hause zurück und sandte Kysen eine Botschaft; während er in seinem Arbeitsraum saß und sie niederschrieb, traf ihn die Vorahnung wie ein schmerzhafter Stich.

Der Junge mußte auf der Hut sein. Er hatte große Angst, daß Kysen nun, da er als sein Diener in die Nekropole gegangen war, sogar in noch größerer Gefahr schwebte als zuvor. Beltis war dort, und die Künstler selbst waren keineswegs vom Verdacht befreit. Zweifellos würde Kysen ihn, bis der Morgen vorüber war, über die Ergebnisse seiner eigenen Nachforschungen unterrichtet haben.

Wie schwierig würde es für einen Arbeiter aus der Nekropole sein, aus dem Dorf zu entkommen und sich seinen Weg über die Hügel der Wüste und über den Fluß zu Hormins Haus zu bahnen? Solch ein Unterfangen konnte durchaus gelingen, wenn man verzweifelt genug war, das Risiko auf sich zu nehmen. Wenn man gezwungen war, sich zwischenzeitlich häufig zu verbergen und sich in Hauseingängen herumzudrücken, konnte man sein Ziel noch immer in ein oder zwei Stunden erreichen. Der Weg zum Tempel des Anubis konnte ebenfalls innerhalb einer solchen Zeitspanne zurückgelegt werden, vielleicht ging das sogar schneller, als eine nächtliche Reise mit dem Boot zu unternehmen.

Meren legte seinen Riedstift beiseite und blies die Schreibpaste, mit der er geschrieben hatte trocken. Er faltete den Papyrus zusammen, versiegelte ihn mit Lehm und preßte seinen Siegelring darauf. Er rief einen Boten, vertraute diesem den Brief an, und lehnte sich dann in seinem Stuhl zurück, um seine sorgenvollen Gedanken wieder aufzunehmen.

Zu viele Menschen hatten sterben müssen. Hormin, Bakwerner, Djaper. Er hatte den Befehl gegeben, Selket und Imsety rund um die Uhr bewachen zu lassen. Es war sehr wahrscheinlich, daß einer von ihnen für die Morde verantwortlich war. Kysen sollte auch Beltis beschatten. Jetzt wünschte er, daß er Kysen nicht in die Nekropole geschickt hätte. Doch so besorgt er auch um Kysen war, er mußte zulassen, daß der Junge seine Arbeit allein verrichtete.

Meren griff über den Tisch nach dem Einbalsamierungsmesser aus Obsidian, mit dem Hormin getötet worden war. Jemand fürchtete sich weder vor ihm noch vor dem Urteil der Götter. Jemand der so verzweifelt oder so dumm war, war tatsächlich gefährlich. Wenn er das Geheimnis nicht bald lösen konnte, würde er veranlassen, daß alle Verdächtigen zu ihm gebracht und gnadenlos verhört wurden, bis einer von ihnen gestand. Er hatte keine Wahl, denn der Hohepriester des Anubis würde bald nach Rache und Blut schreien. Seine Feinde bei Hof würden anfangen, das Gerücht zu verbreiten, daß er nicht länger die Feinde des Pharao mit Eifer verfolgte. Die Minuten flossen dahin, und während sie das taten, wuchs das Risiko.

Meren legte das Einbalsamierungsmesser beiseite, rieb sich die Augen und griff nach dem Stapel Papyrusrollen, die die Zusammenfassung der Untersuchungen der letzten Tage enthielten. Irgendwo in diesen Berichten war die Information, die er suchte. Irgendwo.